Protokoll der Sitzung vom 16.11.2000

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, F.D.P., SSW und vereinzelt bei der CDU)

Ich hoffe, dass der vorliegende Bericht die Grundlage dafür bietet, dass es uns - ähnlich wie in der, das muss man sagen, Sternstunde, in der Diskussion vor einem Monat zum Rechtsradikalismus - gemeinsam gelingt, diese Bedeutung, diesen Wert der ausländischen Mit

(Bernd Schröder)

bürgerinnen und Mitbürger in unserer Gesellschaft festzustellen und öffentlich zu verdeutlichen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, F.D.P. und SSW)

Ich erteile jetzt das Wort dem Oppositionsführer und Vorsitzenden der CDU-Fraktion, Herrn Martin Kayenburg.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der von der F.D.P. eingeforderte Bericht wird wichtige Ergebnisse für volkswirtschaftliche Diskussionen bringen. Dabei besteht allerdings das Risiko, dass damit von der eigentlichen Problematik abgelenkt wird und diese auf statistische, demografische und versicherungsmathematische Fragen reduziert wird. Dabei geht es um viel mehr, als in diesem Berichtsantrag deutlich wird.

Angesichts der laufenden Diskussionen über Zuwanderung und angesichts von Fremdenfeindlichkeit in einigen Gruppierungen in Deutschland, die zum Beispiel in den Aufmärschen der Rechtsradikalen erkennbar wird, ist eine objektive Diskussion über die Möglichkeiten der Gestaltung und die Notwendigkeit von Einwanderung dringend erforderlich. Der F.D.P.-Antrag zwingt die Landesregierung deshalb, die tatsächlichen Gegebenheiten konkret aufzulisten.

Jeder von uns hat Beziehungen und Kontakte zu Ausländern, privat und im allgemeinen Umgang. Wir gehen in die Pizzeria oder zum Chinesen zum Essen. Beim Einkauf werden wir häufig mit einem fremden, oft liebenswerten Akzent begrüßt. In den Kliniken werden wir von ausländischen Ärzten behandelt. Auch mancher niedergelassene Arzt ist Ausländer. Die Putzkolonnen der Reinigungsfirmen bestehen häufig komplett aus ausländischen Mitarbeitern. Im öffentlichen Dienst haben wir eine ähnliche Situation. Diese Auflistung ließe sich beliebig fortsetzen.

In fast jeder Berufsgruppe finden wir also inzwischen Ausländer, egal ob es sich um gering oder hoch qualifizierte Berufe handelt. Wir werben mit der so genannten Greencard um ausländische Computerspezialisten in der ganzen Welt. Die Industrie möchte diese Regelung auch auf die technischen Berufe ausgedehnt wissen; denn es fehlen uns nicht nur Kommunikationsund Informatikexperten, sondern auch Naturwissenschaftlicher, Ingenieure und Facharbeiter. Wir werben für Lehrstellen in vielen ausbildenden Unternehmen, die von ausländischen Mitbürgern geleitet werden.

Ich denke, dies alles zeigt, welche Bedeutung ausländische Arbeitgeber und ausländische Arbeitnehmer schon heute in unserem Land haben.

(Beifall bei CDU, SPD und SSW)

Herr Schröder hat die Zahlen, was die Quoten anlangt, eben schon genannt. Ich will sie nicht wiederholen. Gründe und Motivation, weswegen diese Ausländer bei uns leben, sind sehr unterschiedlich. Manche sind schon in den 60er-Jahren als Gastarbeiter gekommen. Manche flüchteten vor blutigen Bürgerkriegen und manche erhielten politisches Asyl und Bleiberecht. Manche sind zugewandert und haben die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen.

Bei uns in Schleswig-Holstein haben wir die Bedeutung dieser Mitbürger und weiterer Zuwanderer schon zur Kenntnis genommen. Der Bevölkerungswissenschaftler Professor Herwig Birg von der Universität Bielefeld hat darüber hinaus einen viel beachteten Beitrag, unter anderem in der „FAZ“ vom 12. April 2000, geleistet. Danach benötigt Deutschland, um den jetzigen Stand an Beschäftigten bei alternder und schrumpfender Bevölkerung in etwa halten zu können, bis zum Jahre 2050 eine Zuwanderung von netto 188 Millionen Menschen. Nun kann man darüber streiten, ob die Zahl tatsächlich so hoch ist oder nicht. Professor Birg ist dabei von der Annahme ausgegangen, dass sich das Generationenverhalten der Zuwanderer wie in der Vergangenheit auch bei Neuzuwanderern unserem Kulturverhalten anpasst.

Die Zahl scheint unvorstellbar hoch. Dennoch muss uns klar sein, dass diese Zuwanderung überwiegend nicht aus Europa kommen kann; denn alle europäischen Staaten haben in ihrer demografischen beziehungsweise in ihrer Altersstruktur mehr oder weniger ähnliche Probleme wie Deutschland. Zuwanderung wird also vor allem aus anderen Kulturkreisen kommen.

Wir dürfen Zuwanderung nicht nur oder vor allem nicht unter dem Gesichtspunkt der Rentenproblematik betrachten.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU)

Viel gravierender ist die Tatsache, dass ohne Zuwanderung auch nicht genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stünden. Die Unternehmen müssten ohne entsprechende Zuwanderung ihre Produktion aus Deutschland verlagern, um überhaupt noch die notwendigen Arbeitskräfte zu finden. Unsere Wirtschaft hier in Deutschland würde Not leidend und Arbeitsplätze würden wegfallen. Verarmung, vor allem der nicht so qualifizierten Bevölkerungsgruppen, wäre die Folge. Wir würden ein Land vielleicht von Holdings und wenigen Hightech-Unternehmen, vielleicht auch

(Martin Kayenburg)

noch von Ökobauern, allerdings bei hohen Arbeitslosenzahlen. Die Alarmglocken klingeln schon lange. Der Berichtsantrag wird die notwendige Ist-Analyse bringen.

Was wir aber darüber hinaus benötigen, ist eine Zukunftsvision, die auf eine Integrationspolitik ausgerichtet ist, die in unserem europäisch geprägten Kulturkreis und Traditionsraum den Zuwanderern in unserer freiheitlichen Demokratie Arbeit und gesellschaftliche Aufnahme bietet

(Beifall des Abgeordneten Heinz Maurus [CDU])

und so ökonomische Notwendigkeiten und mitmenschliche Solidarität miteinander verbindet. Eine gesteuerte Zuwanderung ist für mich unverzichtbar, wenn wir diese Zukunftsprobleme lösen wollen.

(Beifall bei CDU, SPD, F.D.P. und SSW)

Nun erteile ich für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herrn Rainder Steenblock das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Einwanderungsland. Die Gestaltung von Einwanderung gehört zu den zentralen politischen Fragen, mit denen wir uns zurzeit beschäftigen. Wer über Einwanderung redet, der redet im positiven Sinne über die Zukunft unseres Landes. Deshalb bin ich der SPD für ihren Antrag dankbar, auch für Ihre Rede, Herr Garg,

(Zurufe von der CDU: Der F.D.P.!)

- Entschuldigung, der F.D.P. - denn er gibt uns die Möglichkeit, in diesem Hause darüber zu diskutieren und darzustellen, wie wichtig die Leistung unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger waren bei dem Aufbau dieser Republik und der Stabilisierung auch unseres Lebensstandards, bei der Stabilisierung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse und der Standards im ökologischen und sozialen Bereich, auf die wir mit gutem Grund durchaus stolz sind. Dies wäre ohne die Zuwanderung ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger überhaupt nicht möglich gewesen. Darüber müssen wir uns im Klaren sein.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, F.D.P. und SSW)

Für die Zukunft liegen unsere Chancen - die Chancen Deutschlands im internationalen Wettbewerb zur Erhaltung dieser Standards - darin, dass wir Zuwanderung gerade auch von jungen Menschen bekommen.

Hierfür fehlt zurzeit eine systematische Rechtsgrundlage. Die müssen wir dringend schaffen.

Wir haben in den letzten Jahren leider keine Anerkennung dieses jetzigen Diskussionsstandes gehabt. Dass wir Deutschland nicht schon früher als Einwanderungsland definiert haben, ist eine ganz wichtige Ursache für die vielen Schwierigkeiten, die wir im Zusammenleben mit Menschen aus unterschiedlichen Ethnien in unserer Gesellschaft haben. Wenn wir auf gesellschaftlicher Ebene früher zu dieser Erkenntnis gekommen wären und dies Konsens in dieser Gesellschaft gewesen wäre, hätten wir viele Schwierigkeiten nicht gehabt. Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU: Über Zuwanderung zu reden, kann nicht heißen, gleichzeitig Abschottung zu signalisieren.

(Martin Kayenburg [CDU]: Das hat auch keiner gemacht!)

Wenn Sie über diesen Begriff der Leitkultur diskutieren, müssen Sie akzeptieren, dass gerade die Gruppen, die Sie im Auge haben - nämlich die hoch qualifizierten Menschen aus anderen Ländern -, nicht gerade dadurch angezogen werden, dass Sie solche Begriffe in die Welt setzen. Das wirkt abschreckend. Das wirkt auf solche Menschen nicht als Einladung, zu uns zu kommen und mit uns zusammen eine Gesellschaft zu bauen.

(Beifall der Abgeordneten Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Klaus- Peter Puls [SPD] - Klaus Schlie [CDU]: Ab- soluter Quatsch!)

Das Grundgesetz kennt genau und aus gutem Grund nicht den Begriff der Leitkultur, sondern setzt im Gegenteil auf Toleranz, auf gleiche Rechte und Pflichten für alle im Geltungsbereich des Grundgesetzes lebenden Menschen.

(Beifall der Abgeordneten Holger Astrup [SPD] und Günter Neugebauer [SPD])

Das Grundgesetz garantiert auch die kulturelle Freiheit aller hier Lebenden. Die damit verbundene kulturelle Vielfalt ist eine Bereicherung der Bundesrepublik Deutschland.

Eines möchte ich an dieser Stelle für meine Fraktion sagen: Neben der notwendigen aktuellen Debatte über wirtschaftlich begründete Einwanderung darf die Einwanderung aus humanitären Gründen, die Gewährung von Asyl und der Nachzug von Familienmitgliedern nicht aus dem Blick der politischen Verantwortung geraten.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.)

(Rainder Steenblock)

Wenn man berücksichtigt, dass 40 % der Flüchtlinge einen Schutzstatus haben und nur 5 % oder 6 % anerkannt werden, dann ist diese Asylpolitik unrealistisch. Wir brauchen als oberstes Ziel der Asylpolitik den Schutz von Flüchtlingen und nicht den Schutz vor Flüchtlingen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Wer über Einwanderung spricht, muss auch über diejenigen reden, die seit vielen Jahren illegal geduldet oder ungesichert in der Bundesrepublik leben. Das Angebot der Legalisierung, der Verstetigung ihres Aufenthaltes und auch das Angebot der deutschen Staatsangehörigkeit wäre der Beginn einer modernen Einwanderungspolitik in Deutschland.

(Martin Kayenburg [CDU]: Das genau nicht!)

Im Hinblick auf die Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen sollten wir einen Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, nämlich das Rotationsprinzip, das mit der traditionellen Gastarbeiterpolitik verbunden war: Die Einwanderung muss auf Dauer angelegt sein. Es ist gerade für diejenigen, die nach Deutschland zuwandern wollen, notwendig, dass wir ihnen eine dauerhafte Lebensperspektive bieten. Auch die Integrationsbereitschaft von denjenigen, die zu uns kommen, wird davon abhängig sein, dass sie in diesem Lande eine dauerhafte Lebensperspektive haben. Das Modell des Rotationsprinzips ist gescheitert mit den fatalen integrationspolitischen Folgen, die wir heute hier haben. Wenn wir über Einwanderung reden, müssen wir nicht nur - wie zurzeit - darüber diskutieren, wer zu uns kommen soll, sondern wir müssen auch die Frage beantworten, wer unter welchen Bedingungen bei uns bleiben kann und bleiben soll.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

In der Debatte kann es nicht nur um Assimilation an einen fiktiven leitkulturell geprägten Einheitsdeutschen geben, sondern wir leben in einer Gesellschaft von vielfältigen Lebensentwürfen, die nebeneinander existieren. Dabei ist es wichtig, dass sich die Menschen, die zu uns kommen, in diese Lebensentwürfe in unserer Gesellschaft auch einbringen können. Deshalb ist es wichtig - da stimme ich mit der CDU überein

(Glocke des Präsidenten)

- ich komme zum Schluss -, dass wir diesen Menschen gute Sprachkenntnisse als Schlüsselqualifikation vermitteln. Diese Angebote, ihnen vom Kindergarten bis zur Universität die Möglichkeit über den Erwerb von Sprachkenntnissen die Integration in unsere Gesell

schaft mit ihren Lebensentwürfen zu ermöglichen, ist notwendig. Neben Ausbildung und Bildung ist die Teilhabe an unserer Gesellschaft ein Angebot, das wir machen müssen. Teilhabe an Bildung, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an der Gestaltung unseres Gemeinwesens