Protokoll der Sitzung vom 23.03.2001

Nach dem Subsidiaritätsprinzip steht es uns auch zu, diese Probleme aufzugreifen und Lösungsvorschläge zu machen. Das bedeutet nicht, dass wir uns gegen EU-Kompetenzen stellen, sondern wir wollen diese und unsere miteinander verzahnen, beispielsweise in

einer gemeinsamen europäischen Technologiepolitik, um gegenüber den USA Erfolg haben zu können.

Ich glaube, dass die Kreativität in Europa durchaus so groß ist, dass wir Antworten auf Probleme finden können. Brüssel soll uns nicht immer vorgeben, was wir zu tun haben, sondern Brüssel soll die Rahmenbedingungen abstecken und uns dann innerhalb dieses Rahmens Bewegungsfreiraum gewähren. Hinzu kommt außerdem die Definitionsmacht im Bereich der Daseinsvorsorge. Bisher bestand in Europa Konsens darüber, dass die Definitionsmacht im Bereich der Daseinsvorsorge nicht bei den Institutionen der EU, sondern bei den Nationalstaaten liegen soll.

Drittens. Die Strukturen der EU müssen transparenter werden. Viele Entscheidungen sind kaum noch nachvollziehbar, weder von den Fachleuten noch von den Laien, und werden deshalb von den meisten Menschen als Bürde empfunden. Wir müssten bei den Wahlen zum EU-Parlament nicht Parlamentarier wählen, die kein Mitspracherecht haben, sondern vielmehr solche, denen bei bestimmten Fragen Veto-, Entscheidungs-, Mehrheits- und Minderheitsrechte zugestanden werden.

(Beifall bei SPD, F.D.P. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die EU muss - viertens - ihr Demokratiedefizit beseitigen. Der Rat hat zu viel Einfluss; das müsste meiner Meinung nach schnellstens geändert werden. Die Kommission muss zu einer wirklichen europäischen Regierung werden, damit man weiß, wer für was Verantwortung trägt und wer für was steht. Europa braucht schließlich ein Gesicht. Der Präsident sollte nicht ausgehandelt, sondern frei von den Bürgern Europas in einem Verfahren gewählt werden, über dessen Form man sich durchaus noch unterhalten kann.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die schleswig-holsteinische Landesregierung wird die aktive Ostseepolitik dadurch fortsetzen, dass sie den Beitrittswünschen der osteuropäischen Staaten sehr wohlwollend gegenübersteht und ihnen helfen wird, die zu erfüllenden Kriterien möglichst schnell zu erreichen, sodass sie möglichst schnell beitreten können.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, auch wenn ich die mir zugestandene Zeit ein wenig überzogen habe.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abgeordneten Joachim Behm [F.D.P.])

Bevor ich jetzt weiter das Wort erteile, möchte ich im Anschluss an das Eingeständnis der Ministerpräsidentin darauf hinweisen, dass es nach unserer Geschäftsordnung so ist, dass jetzt auch die Fraktionen eine entsprechend verlängerte Redezeit haben.

Jetzt hat der Herr Kollege Lehnert für die CDUFraktion das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein wichtiges Ergebnis der Regierungskonferenz von Nizza ist die verbindliche Einigung, sich schon jetzt auf die nächste EU-Reform festzulegen. Die Regierungschefs gehen in ihrer Erklärung zur Zukunft der Union auf das Verfahren und die Tagesordnung bei dieser Reform ein. Im Jahr 2001 sollen die schwedische und die belgische Ratspräsidentschaft in Zusammenarbeit mit der Kommission unter Einbindung des Europäischen Parlaments eine umfassende Debatte mit allen interessierten Parteien einleiten. Im Anschluss an einen Bericht für seine Tagung im Juni 2001 wird der Europäische Rat auf seiner Tagung im Dezember 2001 eine Erklärung abgeben, in der die geeigneten Initiativen für die Fortsetzung dieses Prozesses festgehalten werden.

Die Regierungschefs kamen in Nizza überein, dass nach diesen Vorarbeiten 2004 wiederum eine Konferenz der Mitgliedstaaten einberufen wird, bei der die in der Erklärung erwähnten Fragen im Hinblick auf die entsprechenden Vertragsänderungen behandelt werden sollen. Diese Vereinbarungen zum Verfahren belegen das geringe Engagement zahlreicher EU-Staaten für eine ambitionierte Reform. Die Regierungschefs fanden nicht die Kraft, den Weg für einen Konvent aus europäischen und nationalen Parlamentariern sowie nationalen Regierungs- und europäischen Kommissionsvertretern frei zu machen. Die Erfahrung von Nizza zeigt, dass wieder nur minimale Korrekturen des Status quo erwartet werden dürfen, wenn nicht eine andere Methode als die der Konferenz von Regierungsvertretern gewählt wird. Bedauerlich ist auch die Festlegung des Zeitplans. Wenn die Verhandlungen über Vertragsänderungen erst im Jahre 2004 stattfinden sollen, steigt das Risiko, dass sich die Erweiterung verzögert.

Die demokratische Legitimation und Transparenz der Union und ihrer Organe muss dringend verbessert werden. Wir wollen die Menschen mitnehmen nach Europa. Deshalb fordert die CDU, die Kompetenzen zwischen europäischer und nationaler Ebene besser und klarer abzugrenzen.

(Beifall bei der CDU und des Abgeordneten Joachim Behm [F.D.P.])

Dabei ist klar, dass die zukünftige Kompetenzverteilung die zentrale Machtfrage innerhalb der EU ist.

Die gegenwärtige Situation ist absolut unbefriedigend. Es gibt in zunehmendem Maße Schwierigkeiten bei der Kompetenzabgrenzung. Hinzu kommt, dass es keine klare Definition gibt, welche Kompetenzen ausschließlich der Gemeinschaft zugewiesen sind und welche konkurrierend beziehungsweise parallel zu nationalen Kompetenzen bestehen. Diese Unklarheit ist deshalb besonders problematisch, weil das Subsidiaritätsprinzip nicht gilt, wenn die betreffende Materie in die ausschließliche Kompetenz der Gemeinschaft fällt. Bei einer Neuordnung ist im Ansatz zu bedenken, dass finale Kompetenzsysteme dynamischer und flexibler sind als bereichsspezifische. Andererseits führt eine Aufteilung nach Sachmaterien zu mehr Rechts- und Zahlungssicherheit und vermindert das Risiko politischer und juristischer Auseinandersetzungen. Unbedingt klargestellt werden sollte, ob Kompetenzen zur exklusiven oder zur konkurrierenden Ausübung zugewiesen werden, ob sie zu Vollregelungen werden oder nur einen Rahmen vorgeben sollen. Davon hängt entscheidend die Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips ab.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU)

Sobald jedoch künftige Verhandlungen hierzu umfangreiche Umverteilungsinteressen einzelner Unionsländer berühren werden, dürfte das Verständnis für grundsätzliche Veränderungen vermutlich abnehmen. Die Verhandlungen über Korrekturen der Kompetenzabgrenzung sollen daher möglichst frühzeitig mit einer grundlegenden Reform des Finanzausgleichs verbunden werden.

Die CDU-Fraktion vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst viele Entscheidungen vor Ort getroffen werden sollten. Die Nähe zu den Herausforderungen und Problemen schärft meistens den Blick für sachgerechte Lösungen.

(Beifall der Abgeordneten Klaus Schlie [CDU], Brita Schmitz-Hübsch [CDU] und Joachim Behm [F.D.P.])

Deshalb fordern wir die Landesregierung auf, schnell und entschlossen die Debatte über die künftige Kompetenzverteilung innerhalb der Europäischen Union aufzunehmen, um sicherzustellen, dass wir als Abgeordnete des Schleswig-Holsteinischen Landtages möglichst frühzeitig an den Diskussionen über dieses wichtige Thema beteiligt werden. Wir als CDUFraktion wollen die Chance nutzen, die Position des

(Peter Lehnert)

Landes Schleswig-Holstein in dieser Frage mitzuberaten und eine Position für die weiteren Gespräche und Verhandlungen zu erarbeiten. Ich halte es in diesem Prozess für unbedingt notwendig, dass der Landtag, die Regionalparlamente allgemein, stärker als bisher in die Diskussion eingebunden werden.

Die Ministerpräsidentin hat deutlich gemacht, wie eng der Zeitrahmen angesichts der ersten Beratung im August und anschließend im Oktober ist. Deswegen haben wir diesen Tagesordnungspunkt heute hier zur Beratung gestellt und möchten im Europaausschuss mit allen Fraktionen zügig darüber beraten, damit wir als Parlament darauf Einfluss nehmen. Wenn wir uns als Parlamentarier an dieser Reform aktiv beteiligen, können wir vieles verbessern. Die Erfahrung hat gezeigt, dass reine Regierungsbeteiligung nicht zu mehr Akzeptanz bei den Menschen geführt hat. Wir als Parlament haben gute Kontakte zur Bevölkerung. Das wollen wir deutlich machen. Wir sollten im Europaausschuss aktiv werden.

(Beifall im ganzen Haus)

Das Wort für die SPD-Fraktion hat Frau Abgeordnete Ulrike Rodust.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke der Ministerpräsidentin erst einmal für Ihren Bericht. Sie hat deutlich gemacht, dass es aufgrund der Zeitschiene gar nicht möglich war, ihn umfangreicher zu gestalten.

Die Europäische Union ist ein Bauwerk ähnlich einer Kathedrale und so ist ihr Bau nie abgeschlossen, sondern ein fortwährender geschichtlicher Prozess.

(Holger Astrup [SPD]: Oh, oh!)

Deshalb verwundert es nicht, dass die institutionelle Reform der Union mit dem Vertrag von Nizza nicht abgeschlossen ist. Das zeigt allein die Entwicklungsgeschichte der EU von der EWG über die EG zur EU bis heute nach Nizza.

Der Begriff „Post Nizza“ ist zum Schlüsselbegriff in der europäischen Debatte geworden. Er steht für das Versprechen, das sich die Mitglieder des Europäischen Rates von Nizza in ihrer “Erklärung zur Zukunft der Union“ gegeben haben. Im Rahmen dieses Prozesses sollen unter anderem folgende Fragen behandelt werden:

Erstens. Genauere Abgrenzung der Zuständigkeiten der EU und der Mitgliedstaaten, das heißt die so genannte Debatte über die Kompetenzen, ob zum Bei

spiel - und darüber sollten wir demnächst diskutieren die Agrar- und Strukturpolitik überhaupt in diesem Umfang in Brüssel stattfinden muss.

Zweitens. Status der Charta der Grundrechte der EU, das heißt die Verankerung der Charta.

Drittens. Vereinfachung der Verträge mit dem Ziel, diese klarer und verständlicher zu machen, ohne sie inhaltlich zu verändern.

Viertens. Die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas, das heißt die Stärkung der Regionen.

Als ich hier in der Dezember-Tagung meine Enttäuschung über die Ergebnisse von Nizza deutlich machte, dachte ich an die Herausforderungen, vor denen die EU steht und die sie auch mit den auf der Regierungskonferenz erzielten Ergebnissen nicht bewältigen kann. Ich nenne nur ein paar Schlagworte: Globalisierung, neue Wirtschaft, Frieden und die Lösung von Konflikten, Einwanderung oder Umweltschutz.

Immer wieder hören wir, das sich die EU wegen fehlender Instrumente, starrer Mechanismen und zu knapper Mittel nicht zufrieden stellend um so wichtige Probleme wie BSE oder das „Balkansyndrom“ kümmern kann. Die meisten Menschen halten die Institution Union für unfähig und äußern sich unzufrieden darüber, wie die dringenden Probleme in Brüssel behandelt werden.

Leider ist zu befürchten, dass wir diese Argumente auch weiterhin hören werden, obwohl gerade im PostNizza-Prozess ein Abbau der Handicaps verhandelt werden muss. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger ist aber nicht zu bekommen, wenn wir uns den allgemeinen Klagen anschließen. Deshalb fordere ich alle auf, die wie ich ein großes Interesse an einem „besseren Europa“ haben, den Post-Nizza-Prozess als eine Chance zu sehen und diese auch anzupacken.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abgeordneten Joachim Behm [F.D.P.])

Es ist jetzt an der Zeit, über die Verteilung der Kompetenzen nachzudenken, was in Brüssel erledigt werden muss und was vernünftigerweise in den Mitgliedstaaten zu regeln ist. Dabei geht es auch um das Subsidiaritätsprinzip. Es ist jetzt an der Zeit, die Diplomatie zwischen den Regierungen durch die Demokratie zwischen den Bürgern abzulösen.

Stochern wir heute noch in einem Wust von Verträgen herum, die für einen gewöhnlichen Sterblichen unverständlich, oft sogar voller Lücken und grundsätzlichen Widersprüchen sind, müssen wir für morgen eine gemeinsame Verfassung erarbeiten. Auch wir - das Lan

(Ulrike Rodust)

desparlament - sind aufgefordert, konkrete Vorschläge in die Diskussion einzubringen.

Die Zeit ist dafür reif, dass die EU durch eine Verfassung zu einer föderalen politischen Union wird, die zugleich eine Wirtschaftsunion zur Förderung nachhaltigen Wachstums ist und in der der Euro von einer echten Wirtschaftsregierung verwaltet wird, die über ausreichende Haushaltsinstrumente verfügt und sich der unverzichtbaren fiskalpolitischen Harmonisierung verschrieben hat.

In dieser Verfassung muss eine Union für die Weiterentwicklung und Modernisierung des europäischen Sozialmodells, in dem die Rechte der Arbeitnehmer gewahrt und ausgebaut werden, geregelt sein. In dieser Verfassung muss eine Union des Friedens und der Solidarität, die eigene Mittel besitzt, mit denen sie Krisen verhindern und den Anstoß zu einer neuen Weltordnung geben kann, erkennbar sein.

Bei der Erarbeitung der Charta der Grundrechte durch einen Konvent ist eine breite Beteiligung von Parlamentariern möglich gewesen.

(Beifall des Abgeordneten Rolf Fischer [SPD])

Dieses Modell eines Konvents lässt sich auch auf die Erarbeitung der Verfassung übertragen. Hilfreich wäre es, die Beitrittsländer gleich mit einzubinden. Damit wäre eine Transparenz erreicht, die wir in der EU oft vermissen. Die Schlussfolgerungen des Konvents müssten dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten zur Prüfung und Abstimmung unterbreitet werden.

(Jürgen Weber [SPD]: So ist es!)