Protokoll der Sitzung vom 30.05.2001

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Ich erteile der Abgeordneten Frau Spoorendonk das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Keines der westlichen Industrieländer wird in Zukunft ohne Einwanderung auskommen. Deshalb ist es natürlich begrüßenswert, dass die CDU zu der späten Einsicht gekommen ist, dass Deutschland ein richtiges Einwanderungsland werden muss. Daran führt kein Weg vorbei, wenn wir nicht in einigen Jahrzehnten in den Pflegeheimen verwahrlosen oder verhungern wollen. Es hat lange genug gedauert. Aber es ist wohl endlich zum Konsens der demokratischen Parteien geworden, dass wir Einwanderer brauchen. Das kann gar nicht hoch genug geschätzt werden, denn es gibt noch sehr viel zu tun.

Bisher haben wir es nicht einmal geschafft, genügend zur Integration der in den letzten Jahrzehnten eingewanderten Menschen zu tun. Wenn in Zukunft also gezielt um Einwanderer geworben werden soll, dann müssen wir uns endlich Gedanken darüber machen, wie wir die sozialen und kulturellen Barrieren überwinden, vor denen schon viele hier lebende Einwanderer kapituliert haben.

Integration von Arbeitsmigranten, von Flüchtlingen und von Asylbewerbern - das wird auch aus dem Antrag deutlich - erfordert einen Einsatz auf vielen Feldern. Es sind nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche betroffen.

Eine grundlegende Voraussetzung für die Integration in diesen vielen Bereichen ist natürlich die Sprache. Hinzu kommen grundlegende Kenntnisse über unsere Gesellschaft. Deshalb werden vor allem massive Bildungsanstrengungen erforderlich sein. Wir teilen hier die Vorstellungen der Süssmuth-Kommission, dass die Anreize zur Teilnahme an solchen Bildungsveranstaltungen positiv gestaltet werden müssen. Man kann durch Belohnung sicherlich ein besseres Ergebnis als durch Sanktionen erreichen.

Eine Voraussetzung für solche Bildungsmaßnahmen ist, dass verstärkt zweisprachiges Personal angeworben wird. Im Bildungsbereich muss ebenso wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen die Zweisprachigkeit verstärkt als wichtige Qualifikation anerkannt werden.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Überhaupt muss noch vieles unternommen werden, um Einwanderern den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ebnen. Hier müssen die Anstrengungen der Arbeitsverwaltung noch zielgerichteter gestaltet werden, müssen eigene Integrationsprogramme entworfen werden und hier muss auch der Staat seiner Vorbildfunktion nachkommen.

Es gibt eine Voraussetzung für die Integration, die das CDU-Programm nach unserer Ansicht immer noch zu zaghaft einfordert: Die Deutschen und ihre Politik müssen ganz einfach offener für das Andersartige werden. Hier gilt es immer noch, Berührungsängste abzubauen.

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Auf beiden Seiten!)

Dazu hat vor allem der rechte Flügel der Politik bisher viel zu wenig beigetragen. Auch das muss noch einmal gesagt werden.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Anders formuliert: Die starken Fokussierung auf die Integrationsbereitschaft der Einwanderer lenkt von dem wesentlich größeren Problem ab, dass es die Deutschen bisher nicht gelernt haben, Einwanderer zu integrieren.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und des Abgeordneten Klaus-Peter Puls [SPD])

Zur Integration gehört vor allem, dass man für das offen ist, was die Menschen aus der Fremde mitbringen. Das fängt bereits auf der formellen Ebene an. So mangelt es zum Beispiel an Bereitschaft, die Qualifikationen anzuerkennen, die Menschen von woanders mitbringen. Als SSW-Abgeordnete wissen wir, wie schwierig es ist, die Anerkennung von Bildungsabschlüssen aus dem Ausland zu erreichen. Da stellt manchmal schon die deutsch-dänische Grenze eine schier unüberwindliche Hürde dar.

Hier muss dringend eine neue Kultur der Flexibilität Einzug halten, wenn wir den einwandernden Menschen nicht die Chance auf ein eigenständiges Leben verbauen oder sie gleich ganz fern halten wollen. Zumindest muss unser Bildungssystem so ausgebaut

(Anke Spoorendonk)

werden, dass das Ziel erreicht wird, einen gleichwertigen Zugang zu gewährleisten.

Auch in Kultur und sozialem Zusammenleben muss es eine grundsätzliche Offenheit für das Fremde geben, wie wir aus den „klassischen“ Einwanderungsländern kennen. Gerade wer verhindern will, dass sich die Menschen isolieren, muss ihnen mit viel Toleranz und mit Neugier begegnen. Nur wer offen empfangen wird, kann auch selbst offen bleiben.

(Beifall der Abgeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Diese Offenheit bedeutet aber mehr, als dass man „fremde“ Sitten und Gebräuche als folkloristischen Einschlag toleriert. Es muss trotz allem die Bereitschaft da sein zu akzeptieren, dass Einwanderer teilweise die Gemeinschaft mit Menschen aus der eigenen Kultur vorziehen. Wenn ein Einwanderungskonzept diese Realität übersieht, zielt es an den Menschen vorbei und ist zum Scheitern verurteilt.

Ebenso wie man die kulturelle Eigenständigkeit der Dänen oder der Friesen akzeptiert, wird man auch anderen Kulturen ihren Spielraum lassen müssen. Ich möchte hinzufügen: Gerade wir als Partei der dänischen Minderheit und der nationalen Friesen sind immer wieder aufgefordert - wir tun es auch -, darauf hinzuweisen, dass wir aus unseren historischen Erfahrungen heraus gerade dafür da sind, darauf aufmerksam zu machen, dass kulturelle Eigenständigkeit für Mehrheit und für Minderheit existieren muss.

(Beifall bei SSW und SPD - Glocke des Prä- sidenten)

Ich bitte um etwas mehr Aufmerksamkeit - auch auf der Regierungsbank.

Das ist die Realität einer Einwanderungsgesellschaft, auf die wir uns auch einstellen müssen.

(Glocke des Präsidenten)

Vielleicht kann man auch auf der Regierungsbank etwas konzentrierter zuhören.

(Thorsten Geißler [CDU]: Sehr guter Vor- schlag!)

Eben dies vermisse ich in dem CDU-Antrag, in dem immer noch die Reste der Leitkulturdebatte stecken. In

dem Antrag steht, dass neben der Gesetzestreue und dem Bekenntnis zur Werteordnung des Grundgesetzes auch der „Respekt vor den gewachsenen Grundlagen des Zusammenlebens in Deutschland“ zu den Pflichten der Einwanderer gehört. Doch wer definiert die allgemeinen Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens? Darauf können sich die Deutschen nicht einmal intern einigen. Mit anderen Worten: Mehr als das Grundgesetz und mehr als Gesetze kann man nicht als Bedingung und Grenze setzen; der Rest ist willkürlich.

Einwanderung ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Das erkennt auch die CDU an. Wirtschaft, Staat und dritter Sektor werden gemeinsam die Grundlagen und den Rahmen für die Einwanderung definieren und für die eingewanderten Menschen die Verantwortung mit übernehmen müssen. Gerade weil eine solche breite Basis erforderlich ist, können wir dem Vorschlag der Süssmuth-Kommission viel abgewinnen, dass zukünftig ein Einwanderungsrat und nicht nur Bundestag, Bundesrat oder eine Bundesbehörde die Einwanderungsquoten festlegen soll. Ein gesellschaftlich breit besetztes Gremium ist die bessere Lösung, weil hierdurch ein Grundkonsens gewährleistet wird.

Auch wenn wichtig ist, dass Einwanderung und Arbeitsmarkt aufeinander abgestimmt werden, darf dies nicht das einzige Kriterium sein. Wir wollen keine Einwanderungspolitik der Rosinenpickerei.

Noch eine Gruppe muss beteiligt werden, wenn die Politik der Einwanderung und der Integration Erfolg haben sollen: die Einwanderer selbst.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und des Abgeordneten Bernd Schröder [SPD])

Zu ihrer demokratischen Integration gehört zum einen, dass sie unabhängig von ihrer Herkunft bei den Kommunalwahlen wählen dürfen, wie der Kollege Hildebrand schon ganz richtig festgestellt hat, zum anderen müssen die Einwanderer Unterstützung dafür bekommen, sich zu organisieren und ihre gemeinsamen Interessen zu artikulieren. Das wird im CDU-Antrag auch berücksichtigt. Aber eben an diesem Punkt wird das Dilemma zwischen der Segregation, also der Trennung, und der Integration deutlich.

Dennoch gilt: Indem sich Einwanderer gesellschaftlich organisieren, nehmen sie ihre demokratischen Rechte als Bürger in Anspruch. Hier dürfen wir nicht mit zweierlei Maß messen.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie vereinzelt bei der SPD)

(Anke Spoorendonk)

Ich habe es bereits gesagt: Bis heute haben wir es nicht einmal geschafft, die hier lebenden eingewanderten Ausländerinnen und Ausländer zu integrieren. Sie sind in vielerlei Hinsicht immer noch ausgegrenzt und benachteiligt. Eine neue Einwanderungspolitik wirft auch die Frage der Integration dieser Menschen auf. Deshalb ist es unabdingbar, dass wir definieren, was wir Einwanderern bieten, was wir ihnen abverlangen, und vor allen Dingen, welche Ressourcen wir hierfür zur Verfügung stellen. Einwanderungs- und Integrationspolitik ist keine Einbahnstraße. In diesem Sinn wünsche ich uns allen eine glückliche Hand, denn es gibt keine Alternative dazu.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nach § 56 Abs. 4 der Geschäftsordnung erteile ich Herrn Abgeordneten Dr. Wadephul das Wort zu einem Kurzbeitrag.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Von der linken Seite des Hauses wird ständig begrüßt, dass wir beim Thema Integrationspolitik endlich angekommen seien. Ich muss Sie daher darauf hinweisen, dass in Ihrem Bereich offenbar auch noch nicht alle ihre Hausaufgaben gemacht haben. Wenn wir über die Vorschläge der Süssmuth-Kommission reden, muss ich darauf aufmerksam machen, dass es dieser Tage, und zwar gestern, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Stiegler, gewesen ist, der die Vorschläge der Süssmuth-Kommission in der vorgeschlagenen Höhe abgelehnt hat und der gesagt hat, die Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung für weitere Einwanderung tendiere eher gegen null.

Liebe Freunde von der Sozialdemokratischen Partei, ich muss sagen: Machen Sie Ihre Hausaufgaben in der eigenen Partei und stellen Sie erst einmal eine eigene Meinung dar!

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der FDP)

Frau Kollegin Spoorendonk, ein Zweites! Ich finde, es ist in allen Debattenbeiträgen klar gewesen, dass wir uns einig darüber sind, dass Integration eine beiderseitige Aufgabe ist. Sie sollten die Situation nicht so darstellen, als wenn in Deutschland die deutsche heimische Bevölkerung noch sehr viel Nachholbedarf an Integrationsbereitschaft haben würde.

(Anke Spoorendonk [SSW]: Tue ich auch nicht!)

Sicherlich ist etwas zu tun. Ich möchte aber auf folgenden Tatbestand hinweisen, der recht wenig bekannt ist: In den letzten zehn Jahren hat es mehr Ein- und Zuwanderung nach Deutschland gegeben als in die Vereinigten Staaten von Amerika. Ich finde, wir sollten stolz darauf sein, wie die deutsche Bevölkerung es bei allen Problemen und Ausschreitungen, die es gegeben hat und die wir auf das Schärfste verurteilen, geschafft hat, auf die Ausländer zuzugehen und sie zu integrieren. Das ist ein Tatbestand, auf den wir miteinander stolz sein können und auf den wir gemeinsam aufbauen können.

(Beifall bei der CDU)

Abschließend möchte ich sagen, dass ich mich darüber freue, dass es heute - trotz des einen oder anderen parteipolitischen Hinweises, der nachgesehen wird eine insgesamt sachliche Debatte gegeben hat. Ich glaube, es gibt jetzt wirklich die Möglichkeit, dass wir uns über manche Streitereien der Vergangenheit hinwegsetzen. Denn auch auf der linken Seite des Hauses gibt es die Erkenntnis, dass das, was wir inhaltlich mit dem Begriff Leitkultur verbunden haben, mitgetragen werden kann.