Protokoll der Sitzung vom 14.12.2001

Wir sind darüber hinaus der Auffassung, dass wir keine neue Debatte über eine Bildungsreform brauchen. Wir brauchen eine Leistungssteigerung. Ich möchte darauf zurückkommen, was der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog gesagt hat. Er sagte: „In der Bildungspolitik in Deutschland haben wir kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Vollzugsdefizit.“ Das ist haargenau richtig.

(Beifall bei der CDU und der Abgeordneten Christel Aschmoneit-Lücke [FDP])

Deshalb müssen wir rasch zu Schritten kommen, die schnell zu einer Besserung des Zustands führen. Nach unseren Vorstellungen ist es jetzt Zeit, dass wir uns in einem sehr viel stärkeren Maße um die Grundschulen kümmern müssen, als wir es bisher getan haben.

(Beifall bei der CDU und der Abgeordneten Christel Aschmoneit-Lücke [FDP])

Es ist richtig, dass PISA gerade nicht die Grundschüler untersucht hat. Genauso richtig ist aber festzustellen, dass die schlechten Leistungen der 15-Jährigen Schüler auch damit zu begründen sind, dass sie seit der Grundschulzeit Defizite mit sich herumschleppen, die später nicht abgebaut werden.

(Beifall bei der CDU)

Wenn wir etwas für die Grundschule tun wollen und müssen, dann hat das auch etwas mit dem Faktor Zeit zu tun. Wir können die Leistungen in der Grundschule und die Grundfertigkeiten nur dann stärken, wenn wir den Kindern in der Grundschule genügend Zeit zur Verfügung stellen, um Dinge zu erlernen, einzuüben und zu vertiefen.

(Beifall bei der CDU)

Aus diesem Grund ist die Grund- und Minimalforderung, dass die Stundentafeln eingehalten werden

müssen. Es kann nicht sein, dass sie ständig flexibilisiert und unterschritten werden.

(Beifall bei CDU und FDP)

Es kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Wir haben vorhin viel über Förderung gehört. Ich habe das auch schon angesprochen. Wir werden die Förderung von leistungsschwachen und leistungsstarken Kindern in der Grundschule nur dann hinbekommen, wenn die Förderung nicht in der regulären Unterrichtszeit erfolgen muss. Das kann schlicht nicht funktionieren. Das heißt, wir brauchen zusätzliche Zeit und Kapazitäten, um die Förderung der Schwachen außerhalb der Schulzeit vorzunehmen, damit wir denjenigen, die diese Förderung nicht brauchen, genügend Zeit zur Verfügung stellen, um das Erwartete auch zu lernen.

(Beifall bei CDU und FDP - Zuruf des Abge- ordneten Konrad Nabel [SPD])

Darüber hinaus glauben wir, dass es Zeit ist, die Renaissance des Leistungsbegriffs, die wir verbal beschreiben, tatsächlich auch umzusetzen. Wir glauben, dass wir dann, wenn wir von Schülern eine ganz bestimmte Leistung erwarten, sie auch definieren müssen. Das bedeutet, dass wir Bildungsbegriffe und Bildungsinhalte wesentlich stärker präzisieren müssen, als es bisher der Fall ist. Das heißt, die Zeit von Rahmenlehrplänen, die alles offen lassen, ist vorbei. Wir müssen konkret benennen, was die Schülerinnen und Schüler im Unterricht lernen müssen, damit wir hinterher von ihnen erwarten können, dass sie das können. Insofern sagen wir auch, dass der Lehrplan, den Sie zur Anhörung gestellt haben, eine weitgehend autorenfreie Angelegenheit im Fach Deutsch ist. Das ist ein falscher Ansatz. Vielmehr müssen wir ganz konkret benennen, was wir erwarten wollen, damit wir das hinterher prüfen können. Wir sind der Auffassung, dass wir keine externe Evaluation brauchen, wie die Ministerin es gesagt hat. Wir brauchen zentrale Prüfungen in den zentralen Fächern.

(Beifall bei der CDU)

Die brauchen wir auch deshalb, weil es nicht nur darum geht, die individuelle Leistung der Schülerinnen und Schüler zu messen, sondern auch die Leistung der Schulen. Die Leistung der Schulen kann ich nur dann ermessen und bemessen, wenn ich zentrale Prüfungen habe, die einen solchen Vergleich tatsächlich auch zulassen.

(Konrad Nabel [SPD]: Am Ende kommt die Todesstrafe!)

Herr Kollege, Sie haben noch zwei Minuten Redezeit, weil die Landesregierung überzogen hat.

Trotzdem werde ich allmählich zum Schluss kommen. Ich wünsche mir, dass wir in der Folge von PISA nicht unsere Kultur der Kommentierung fortschreiben, sondern dass wir tatsächlich zu Änderungen und konkreten Handlungen kommen. Nichts wäre schlimmer, als wenn wir uns jetzt alle zwei Monate lang aufregen und hinterher nichts passiert. Deshalb fordern wir für Schleswig-Holstein in der Schulpolitik endlich ein Ende der Mut- und Tatenlosigkeit, weil wir dann erkennen, wer PISA nur kommentieren und wer tatsächlich konkrete Handlungsanweisungen daraus ziehen will. Wir stehen bereit. Wir haben unsere ersten Vorschläge gemacht.

(Zuruf des Abgeordneten Konrad Nabel [SPD])

- Wenn die - auch mit Herrn Nabel - die Grundlage eines schulpolitischen Konsenses im hohen Hause wären, dann wären wir froh.

(Beifall bei CDU und FDP)

Für die Fraktion der SPD erteile ich Herrn Abgeordneten Jürgen Weber das Wort.

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr de Jager, Sie haben den durchaus bemerkenswerten Satz gesagt, dass Sie aus PISA ableiten, dass wir keine Bildungsreform, sondern mehr Leistung brauchen. PISA hat uns gerade vor Augen geführt, dass das System, in dem wir bisher arbeiten, nicht in der Lage ist, diese Leistungen zu erbringen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Also wird man über die Frage nachdenken müssen, an welcher Stelle man ansetzen soll und will. Sie sagten etwas zum Thema Risiko: Auch Sie haben mit Ihren Vorabanalysen unterstrichen, dass konservatives Beharren nach wie vor das größte Risiko für eine zukunftsfähige Bildungspolitik bleibt.

(Beifall bei der SPD)

PISA ist zu Recht das neue Megathema in der Öffentlichkeit. Wenige Jahre nach dem Beginn der verschiedenen TIMSS-Studien haben wir jetzt von der OECD ein Zeugnis erhalten, wonach unser Schulsystem in

allen wichtigen Leistungsbereichen irgendwo zwischen ausreichend und ungenügend abschneidet. Die zentralen Botschaften sind schon genannt worden. Ich muss sie nicht im Detail wiederholen. Es wurde das Problem dargestellt, Texte zu lesen. Die Tatsache, dass das Interesse am Lesen dramatisch gesunken ist, wurde ebenfalls erwähnt. Die Ministerin hat auch schon über die mathematischen und naturwissenschaftlichen Leistungen und ihre Probleme in Deutschland gesprochen.

Nahezu kein anderes Land in der Welt, das getestet wurde, produziert so extreme Leistungsbandbreiten wie das deutsche Schulwesen. Kein anderes Schulsystem konserviert soziale Unterschiede so stark wie das unsere. Diese Fragen, wie die Schule organisiert werden soll, sind in der Tat Fragen, über die wir zu sprechen haben werden.

(Konrad Nabel [SPD]: So ist es!)

In der Tat ist es so, dass die Integration Kinder nicht deutscher Muttersprache in unser Bildungssystem ganz offensichtlich versagt hat.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Der Hinweis, dass es ein Unterschied ist, ob ich 10 % der Kinder mit Migrationshintergrund habe - wie in Deutschland - oder 2 % wie in Finnland, ist sicher richtig. Unter dem Stichwort Zuwanderung kann man aber in der jetzigen Situation doch nicht so tun, als ob diese Kinder vom Himmel gefallen wären oder wie Heuschrecken über das Land gekommen wären. Sie haben ein Recht auf eine vernünftige und ordentliche Vorbereitung auf die Schule. Das ist der Ansatzpunkt.

(Beifall bei SPD, FDP und SSW)

Es ist korrekt, dass das zurzeit in Deutschland offensichtlich nicht vernünftig gelungen ist. Das ist der Ansatzpunkt, nicht der Kurs auf die Zuwanderungsdebatte. Das sage ich an dieser Stelle ganz deutlich.

(Beifall bei SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Zurzeit wird von Notstand, Bildungskatastrophe und ähnlichen Dingen gesprochen. Der PISA-Koordinator der OECD wird mit dem Satz zitiert:

„Ein Viertel der deutschen Schüler wird den Anschluss an das Leben - an die Herausforderungen in Familie, Beruf und Gesellschaft wahrscheinlich nicht schaffen.“

Ich will mich in keinen Panikwettlauf begeben. Eines scheint mir aber unabweisbar klar zu sein: Wenn wir nicht erkennen, welche enormen Anstrengungen und Herausforderungen jeder in seinem Verantwortungsbereich für eine zukunftsfähige Bildung unserer Kinder

(Jürgen Weber)

zu leisten hat, dann wird man uns eines Tages zu Recht zur Rechenschaft ziehen.

(Beifall bei FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, SSW und des Abgeordneten Konrad Nabel [SPD])

PISA ist nicht die erste Untersuchung. Sie ist aber ein - wie ich finde - enormer Schritt nach vorn. Warum? Mehr als ihre Vorgänger versucht PISA, fachlich übergreifend Kompetenzen zu erfassen. Weiterhin geht es bei PISA um die Anwendung von Wissen und auch um Fertigkeiten in außerschulischen Situationen sowie um kritisches Urteilen. Das bedeutet eine neue Qualität. PISA beinhaltet auch eine nachvollziehbare Kontexterfassung von Schule, vor allem auch sozialer Rahmenbedingungen. Deshalb kann man sich jetzt nicht herausreden. Ausflüchte und Nebenkriegsschauplätze helfen nicht, weil wir fundiertes Material haben, das wir auszuweiten haben.

Zu den viel zitierten schulpolitischen Grabenkämpfen der letzten Jahre und Jahrzehnte: Ich gehöre auch zu denen, die diese nicht führen wollen. Ob wir zu einem Grundkonsens kommen werden, weiß ich nicht. Ich sage ganz deutlich: Es kann nicht sein, dass wir uns in eine Konsensdebatte begeben, bevor wir nicht vernünftig ausgewertet haben. Einen Grundkonsens auf der Basis konservativer Bildungsideologien kann sich unser Bildungssystem auf gar keinen Fall leisten.

(Beifall bei SPD und SSW)

Deswegen werden wir sehr genau benennen müssen, über welche Bildungsinhalte und Bildungsformen wir eigentlich reden. Wir werden die Formeln und Floskeln beiseite lassen müssen. Der Handlungsbedarf ist ohne Frage enorm. Weil das Thema gesamtgesellschaftliche Probleme als Hintergrund für die Bildungsprobleme angesprochen wurde, sage ich deutlich: Natürlich kann man die Fragen nicht ausblenden. In Nuancen darf ich aber etwas anders diskutieren als die Ministerin. Ich nenne Großbritannien. Man wird nicht sagen können, dass die soziale Problemlage sich dort im Vergleich zur Bundesrepublik - deutlich abgeschwächt zeigt. Dort ist es durch die Labour-Regierung immerhin gelungen, im Bereich der Grundund Vorschule und durch ganzheitliche Bildungsangebote für die ganz Kleinen so etwas wie ExcellenceCenter zu schaffen, die dazu beitragen, gesellschaftliche Probleme mit den Mitteln der Bildungspolitik mit sehr guten Erfolgen in den Griff zu bekommen. Es lohnt, den Blick dorthin zu wenden und die dortigen Erfahrungen, die so nicht im PISA-Bericht stehen, mit auszuwerten. Es gibt eine Reihe von Ansätzen, die man mit einbeziehen muss.

(Beifall der Abgeordneten Konrad Nabel [SPD], Dr. Ulf von Hielmcrone [SPD] und Anke Spoorendonk [SSW])

Die Ministerin hat bereits darauf hingewiesen: In der Tat fällt auf, dass viele Schüler nicht in der Lage waren, Fragen zu beantworten, weil offensichtlich die Komplexität der Fragen nicht verstanden worden ist. Man könnte einige Beispiele mehr nennen. Wir haben - und das ist für mich die erste Schlussfolgerung - ganz offensichtlich nicht nur ein Problem in der Quantität von Wissen. Vielmehr stehen wir vor der Frage, wer in unseren Schulen wie und in welcher Form Wissen vermittelt. Dieser Ansatzpunkt hat zunächst einmal gar nichts mit den Schularten zu tun. Primär geht es darum, wie sich die Lernkultur an unseren Schulen insgesamt entwickelt.

(Vereinzelter Beifall bei SPD und FDP)

Wenn man sich die Aufgaben der PISA-Studie - die findet man im Netz, in Büchern und auch in Zeitungen - einmal anschaut, dann stellt man fest, dass es dabei auch eine ganze Reihe von Kreativitätsaufgaben gibt. Es stellt sich die Frage, warum gerade diese Aufgaben zum ganz überwiegenden Teil von den deutschen Schülern nicht gelöst werden konnten. Die Antwort ist, dass dort Dinge abgefordert wurden, die in den deutschen Lehrplänen überhaupt nicht vorkommen und deshalb von den deutschen Schülern auch gar nicht bewältigt werden können. Deswegen will ich eines deutlich sagen: Meines Erachtens ist es sehr viel ertragreicher, über Unterrichtsformen, Fächerkanon und Lehrerqualifizierung zu reden, als sich andauernd und ausschließlich über Fragen zur Schulzeitdauer und zu den Schularten den Kopf zu zerbrechen.