Protokoll der Sitzung vom 14.12.2001

(Ministerin Ute Erdsiek-Rave)

stungsvergleiche mit anderen Ländern. Das müssen wir offenbar erst lernen.

(Zuruf des Abgeordneten Martin Kayenburg [CDU])

Aber ich bin davon überzeugt, dass in jeder Krise auch immer eine große Chance liegt,

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Deshalb produ- zieren Sie so viele!)

eine Chance für den Stellenwert von Bildung, von Leistung und Lernen, eine Chance allerdings nur dann, wenn wir diese Chance nicht zerreden, wenn wir nicht in alte parteipolitische Grabenkämpfe zurückfallen, die gerade in Schleswig-Holstein so erbittert geführt worden sind.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD und Beifall der Abgeordneten Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Wolf- gang Kubicki [FDP])

Es gibt Schocks, die lösen Panik aus, die lösen Fehlreaktionen aus, es gibt aber auch heilsame Schocks; es gibt heilsame Schocks, die Veränderung nachhaltig und schnell bewirken können. Die letzte Stabilisierung des Schiefen Turms von Pisa hat zwölf Jahre gedauert. Das wäre hier allerdings zu lange.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf des Abgeordneten Wolf- gang Kubicki [FDP])

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die CDUFraktion hat Herr Abgeordneter Jost de Jager.

Bevor er das Rednerpult erreicht hat, nutze ich die Gelegenheit, auf unserer Tribüne neue Gäste zu begrüßen. Es sind Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler der Heinrich-Harms-Schule aus Hutzfeld sowie des Gymnasiums im Bildungszentrum Mettenhof eingetroffen. - Ihnen allen ein herzliches Willkommen!

(Beifall)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal ein Wort vorweg schicken. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass es zeitweilig in den Reihen der CDU etwas laut war. Dass es bei der SPD nicht laut war, hängt aber damit zusammen, dass dort eigentlich gar keiner ist.

(Beifall bei der CDU)

Insofern ist das Interesse an diesem Thema bei den Fraktionen durchaus unterschiedlich sowie übrigens bei den Chefs auch; denn ich nehme zur Kenntnis, dass die Fraktionschefs da sind beziehungsweise eben hier gewesen sind, die Ministerpräsidentin aber nicht.

(Klaus Schlie [CDU]: Chefthema! So ist es! - Zuruf von der CDU: Chefsache!)

Meine Damen und Herren, wer Augen hatte zu sehen und Ohren zu hören, der konnte von PISA nicht wirklich überrascht gewesen sein.

(Beifall des Abgeordneten Rainer Wiegard [CDU])

Wer genau hingehört hat bei den Gesprächen mit ausbildenden Betrieben, mit den Schulen selbst, aber auch mit den Universitäten, der konnte in etwa erahnen, was auf uns zukommt. Der PISA-Schock in Deutschland beruht nicht auf der Tatsache, dass wir im internationalen Vergleich schlecht abgeschnitten haben, sondern darauf, wie schlecht wir abgeschnitten haben.

(Beifall bei CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Um das zu ermessen, dürfen wir nicht nur auf die Länder gucken, die in diesem Vergleich vor uns liegen, sondern wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, welche Länder hinter uns stehen.

(Sylvia Eisenberg [CDU]: Das sind ja kaum welche!)

Zum Beispiel bei der Bemessung der Lesefähigkeit heißt es - so darf ich aus der Zusammenfassung von PISA wörtlich zitieren -:

„In der unterdurchschnittlich erfolgreichen Gruppe befinden sich neben Deutschland alle fünf der ehemaligen Ostblockländer, die an PISA teilgenommen haben, vier Länder aus dem südeuropäischen Raum sowie zwei südamerikanische Staaten.“

Eines davon ist Brasilien. Letztlich sagte mir jemand, dass die wenigstens Fußball spielen können.

Doch im Ernst, meine Damen und Herren: PISA ist keine Bundesligatabelle, sondern bei PISA geht es um die Bildung junger Menschen, es geht um deren persönliche und berufliche Zukunftsaussichten und es geht nicht zuletzt um die Zukunft von uns als Industrienation, die von unseren Köpfen in unserer Gesellschaft lebt.

(Beifall bei der CDU)

Aus diesem Grund gehen die wesentlichen Erkenntnisse von PISA eben nicht nur den Bildungspolitikern unter die Haut, sondern der Gesellschaft insgesamt.

(Jost de Jager)

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der durchschnittliche Leistungsstand 15-jähriger Schüler in Deutschland schlecht ist. PISA hat die Lesefähigkeit, das Textverständnis von Schülerinnen und Schülern der westlichen Welt untersucht und stellt fest:

„Mit etwa 20 % des Altersjahrganges ist der Anteil schwacher und schwächster Leser in Deutschland ungewöhnlich groß.“

Das ist so etwas wie ein bildungspolitischer Offenbarungseid. Denn die Tatsache, dass jeder fünfte deutsche Schüler dieses Alters zur Risikogruppe gehört, ist schon schlimm genug; sie wird dadurch noch schlimmer, dass das Leseverständnis erwiesenermaßen die Grundvoraussetzung für ein weiteres eigenständiges Lernen und für das Erlernen mathematischer und naturwissenschaftlicher Zusammenhänge ist. Das Lesen ist die Schlüsselkulturtechnik Nummer 1.

(Beifall bei der CDU und der Abgeordneten Christel Aschmoneit-Lücke [FDP], Dr. Hei- ner Garg [FDP] und Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Hier geraten wir in der Tat in eine fatale Wirkungskette, die sich im Übrigen auch in den Ergebnissen der - sozusagen - naturwissenschaftlichen Lesefähigkeit und im mathematischen Verständnis - Frau Ministerin, Sie haben es selber zitiert - widerspiegeln.

Wir haben im deutschen Schulwesen ein Problem: Wir schaffen es weder, die Guten noch die Schlechten zu fördern. Die Feststellung aus PISA lautet, dass wir es nicht geschafft haben, die besonders Förderungswürdigen in unserem Schulsystem dorthin zu führen, wohin wir sie haben wollen. PISA stellt auch fest:

„Im Unterschied zum Vereinten Königreich gibt es in Deutschland keine ausgeprägte Elite.“

Meine Damen und Herren, das gilt insbesondere für den Umstand - ich glaube, dass der am schmerzlichsten ist bei der Betrachtung unseres Schulwesens -, dass wir es nicht schaffen, die Defizite bei den Schülerinnen und Schülern auszugleichen, die diese von Zuhause mitbringen. Es gibt kein Land in diesem Vergleich, in dem sich die soziale Herkunft so auf die Bildungsaussichten der Schülerinnen und Schüler niederschlägt wie in Deutschland. Und das tut in der Tat weh.

Es ist auch so, dass die Integration ausländischer Kinder durch die Schule in Deutschland kaum - beziehungsweise nur schlecht - gelingt. Das hat auch damit zu tun, dass die meisten ausländischen Kinder im Vergleich zu anderen Ländern - in unseren Schulen tatsächlich fremdsprachig sind, während viele auslän

dische Kinder in Frankreich oder in England dagegen die gleiche Sprache sprechen und nicht die gleichen Integrationsschwierigkeiten haben. Ich möchte an dieser Stelle auch sagen: Wir dürfen die Integration fremdsprachlicher Kinder in Deutschland nicht allein der Schule überlassen. Dazu bedarf es Integrationsmaßnahmen, die der Schule vorgeschaltet sind oder parallel geschehen.

(Beifall bei CDU, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was folgt daraus?)

- Für die Zuwanderungsdebatte folgt daraus eine ganze Menge! Die bisher veröffentlichten Ergebnisse von PISA sind nur die halbe Wahrheit. Im Verlauf des Jahres 2002, wahrscheinlich in der zweiten Jahreshälfte, werden die regionalisierten Ergebnisse der PISA-Studie, sprich der Vergleich der Bundesländer untereinander, vorgestellt. Erst bei diesem Vergleich geht es bildungspolitisch ernsthaft zur Sache. Es ist ohne Abstriche interessant zu wissen, wie Deutschland im Vergleich zu Korea, den Vereinigten Staaten oder Japan dasteht. Landespolitisch wird es aber erst interessant und ernst, wenn wir wissen, wie SchleswigHolstein im Vergleich zu Bayern, Baden-Württemberg oder Sachsen abschneidet oder wenn wir wissen, wie Nordrhein-Westfalen im Vergleich zu Hessen dasteht. So wie man sich im Vorwege der Veröffentlichung die Ergebnisse von PISA I ausmalen konnte, so kann man sich in etwa auch die Ergebnisse dieser regionalisierten Vergleichsstudie vorstellen. Das ist der Hintergrund, vor dem der Appell des SPD-Fraktionsvorsitzenden, der im Moment nicht im Raum ist, zu verstehen ist, dass wir die weiteren Schritte im Konsens gehen sollten. Ich bin mir nicht sicher, ob wir diesen Konsens tatsächlich erreichen. Ich bin aber dagegen, dass wir einen Konsens herstellen, bevor wir wissen, worüber wir ihn herstellen.

(Beifall bei der CDU und der Abgeordneten Christel Aschmoneit-Lücke [FDP])

Im Übrigen bin ich mir auch nicht ganz darüber im Klaren, ob ein schulpolitischer Schulterschluss die richtige Reaktion auf PISA wäre. Tatsächlich brauchen wir jetzt den Wettstreit der besseren Konzepte und Ideen im Bildungswesen. Darüber wollen wir in den kommenden Wochen gern mit Ihnen diskutieren.

(Beifall bei der CDU)

Ich gebe der Ministerpräsidentin und dem Fraktionsvorsitzender der SPD ausdrücklich Recht, wenn sie sagen, wir müssen die bildungspolitischen Grabenkämpfe beenden. Auch wir glauben, dass es in der Tat vertane Zeit wäre, die Bildungsdebatten der 70er-Jahre

(Jost de Jager)

heute weiterzuführen. Wir wollen das nicht machen. Das gilt auch für die bemerkenswerten Äußerungen etwa von Frau Spoorendonk oder von Frau Birk -, die die Schlussfolgerung gezogen haben, dass nun die sechsjährige Grundschule und die Gesamtschule weiter eingeführt werden müssten.

(Beifall bei CDU und FDP)

Ich sage Ihnen: Das sind keine Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus PISA, sondern das sind die Floskeln vergangener Zeiten. Wer so etwas heute noch sagt, gehört nach PISA zur Risikogruppe der deutschen Schulpolitik.

(Beifall bei CDU und FDP - Lachen der Ab- geordneten Anke Spoorendonk [SSW] - Zuruf des Abgeordneten Konrad Nabel [SPD])

Wir sind darüber hinaus der Auffassung, dass wir keine neue Debatte über eine Bildungsreform brauchen. Wir brauchen eine Leistungssteigerung. Ich möchte darauf zurückkommen, was der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog gesagt hat. Er sagte: „In der Bildungspolitik in Deutschland haben wir kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Vollzugsdefizit.“ Das ist haargenau richtig.