Protokoll der Sitzung vom 13.11.2002

Hier sind wir auch gar nicht weit auseinander. Wir sind doch auch nicht mit allem zufrieden, was im Moment im Koalitionsvertrag dazu vereinbart worden ist. Wir wollen aber gemeinsam dafür kämpfen. Es wäre schön, wenn wir dafür eine größere Gemeinsamkeit hätten.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abgeordneten Bernd Schröder [SPD])

Übrigens, meine Damen und Herren, die Vertreter der mittelständischen Wirtschaft in Schleswig-Holstein

(Minister Dr. Bernd Rohwer)

stehen voll und ganz hinter diesen fünf Punkten. Das heißt, die erwarten von uns auch, dass wir tätig werden.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Uwe Eichelberg [CDU]: Das ist doch nichts Neues! Dann tun Sie es doch!)

- Lieber Herr Eichelberg, ich fände es schade, wenn wir jetzt diese Diskussion hier mit Totschlagsargumenten kaputtmachten.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Wenn Sie sich so äußern, dann muss ich Ihnen sagen: Mittelstandpolitik wird nicht allein in SchleswigHolstein gemacht. CDU und FDP hatten viele Jahre Zeit. Wissen Sie, was passiert ist?

(Werner Kalinka [CDU]: Nun sind wir wie- der schuld!)

- Lieber Herr Kalinka, Sie reden alle davon, dass der Beitragssatzanstieg auf 19,5 % eine Katastrophe ist. Ich sehe dies auch negativ. Wissen Sie, wie hoch der Beitragssatz bei Ihnen war? Er lag bei 19,8 % bis 19,9 %. Wissen Sie, dass die Beitragssätze während der 90er-Jahre - zu Zeiten der Regierung Kohls - um 3,8 Prozentpunkte auf 19,8 % gestiegen sind? Sie müssen diese Fakten einfach zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich plädiere dafür, dass sich keiner zurücklehnen kann.

(Roswitha Strauß [CDU]: Das sagt doch auch keiner!)

- Den Eindruck erwecken Sie aber. Wir haben ein ganz anderes Problem.

(Zuruf des Abgeordneten Werner Kalinka [CDU] - Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Herr Minister, Sie haben das Wort!

Wir haben in Deutschland keinen parteiübergreifenden Konsens in der Frage, wie wir die Lohnnebenkosten senken können und welche Reformen dafür erforderlich sind. Dafür ist nicht allein unsere Seite verantwortlich. Dafür sind wir alle verantwortlich, auch unsere Gesellschaft.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abgeordneten Bernd Schröder [SPD] und)

Es gibt Punkte des Koalitionsvertrags, die auch ich als noch nicht zu Ende gedacht ansehe. Es gibt jedoch Ansatzpunkte, die wir mit den genannten fünf Punkten verstärken können. Im Koalitionsvertrag enthalten sind Anmerkungen zur Förderung des Mittelstands, zur Verbesserung der steuerlichen Bedingungen, zur Verbesserung der Finanzierungsbedingungen für den Mittelstand, zum Bürokratieabbau und zur Arbeitsmarktreform. Last but not least ist die Hartz-Reform zu nennen. Die Hartz-Reform ist bereits relativ konkret. Die anderen Reformen sind noch nicht so konkretisiert worden. Die Senkung der Lohnnebenkosten wurde überhaupt noch nicht konkretisiert. Das Gegenteil ist der Fall. Herr Hentschel hat dazu etwas Wichtiges gesagt.

Ich appelliere an eine Allianz der schleswigholsteinischen Politiker, Parteien, Fraktionen und sonstigen Akteure. Wenn wir weiterkommen wollen, sollten wir uns auf die fünf wichtigsten Punkte verständigen. Sie haben natürlich Recht, wenn Sie sagen, wir müssen im Kleinen anfangen. In SchleswigHolstein müssen wir das tun, was wir tun müssen. Wir müssen gucken, welche bürokratischen Vorschriften in Schleswig-Holstein abgebaut werden können. Wir müssen schauen, inwieweit wir die Eigenkapitalfinanzierung des Mittelstands in SchleswigHolstein noch weiter verbessern können.

Gestern haben Heide Moser und ich Vorschläge gemacht, wie wir junge Unternehmer und Existenzgründer besser fördern können. Sie wissen, dass unsere Finanzierungsinstitute hier gute Leistungen erbringen. Das nützt alles nichts, wenn wir es nicht schaffen, auf Bundesebene die richtigen Rahmenbedingungen für mittelständische Unternehmen zu schaffen. Ich bin dankbar für den Antrag. Die fünf Punkte sind wichtig und richtig. Wir müssen gemeinsam für ihre Umsetzung kämpfen. Mein Eindruck ist, dass diese Inhalte in Berlin grundsätzlich angekommen sind. Sie sind nur noch nicht in ihrer Tragweite und in ihren Details angekommen.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Heiner Garg [FDP])

- Herr Dr. Garg, Sie haben vorhin den Kopf geschüttelt. Wir haben in Schleswig-Holstein zu den fünf Komplexen Vorschläge gemacht. Wir haben zum Thema Reform der Sozialversicherungssysteme und zum Niedriglohnsektor Vorschläge gemacht. Wir haben einen Workshop organisiert und gezeigt, dass wir auch im Sinne der aktivierenden Sozialhilfe

(Minister Dr. Bernd Rohwer)

etwas machen müssen. Lieber Wolfgang Baasch, die aktivierende Sozialhilfe ist auch ein Thema, bei dem wir Anreize setzen müssen, aus der Arbeitslosigkeit und der Sozialhilfe in neue Arbeitsplätze zu kommen, ohne dass wir massiv in Leistungen für diejenigen einschneiden müssen, die es nicht verdient haben. Ich glaube, hier müssen wir noch weit über das hinausgehen, was zurzeit innerhalb der Bundesregierung diskutiert wird.

Zur Umfinanzierung der Sozialversicherungssysteme: Es wurde gesagt, wir werden die Sozialversicherungssysteme in Deutschland nicht reformieren, wenn wir nicht an den Leistungskatalog herangehen. Das heißt aber auch, dass wir die Rentenreform der Schröder-Regierung fortsetzen.

(Beifall der Abgeordneten Roswitha Strauß [CDU])

Das war die erste Rentenreform der letzten zehn Jahre, bei der Elemente einer Eigenverantwortung und einer Eigenvorsorge eingebaut worden sind.

(Beifall bei der SPD)

Hier müssen wir weitermachen. Das sind die fünf Punkte, für die ich plädiere. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesen irgendwann zustimmen würden. Wir müssen die Sozialversicherungssysteme umfinanzieren. Wir werden angesichts des demographischen Wandels nicht damit rechnen können, dass die Lohnnebenkosten einfach so sinken. Wenn wir nichts tun, werden sie weiter steigen. Wenn wir den Leistungskatalog überprüfen, werden wir es bestenfalls erreichen, dass sie langsamer steigen.

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Sie werden sich verdoppeln! - Zuruf der Abgeordneten Ros- witha Strauß [CDU])

- Frau Strauß, wie werden wir sie senken? Wir werden sie doch nur senken, wenn wir umfinanzieren und über eine Steuerfinanzierung nachdenken. Das habe ich von Ihnen noch nie gehört.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Sagen Sie bitte, wo und wann Sie das gesagt haben. Ich habe von Ihrer Seite noch nichts zu der Frage gehört, die von uns in die Diskussion geworfen wurde, ob wir zu einer verstärkten Steuerfinanzierung der sozialen Versicherungssysteme kommen wollen. Wenn Sie das im Bundesrat mit unterstützen würden, fände ich das prima. Dann machen wir eine A- und BLänder-Initiative im Bundesrat für eine stärker steuerfinanzierte Finanzierung der sozialen Versicherungsleistungen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Nach sehr vielen Gesprächen mit der mittelständischen Wirtschaft in Schleswig-Holstein plädiere ich dafür: Wir brauchen einen New Deal für den Mittelstand. Wir brauchen einen Aufbruch, mit dem wir gemeinsam aus Schleswig-Holstein bei der Bundesregierung mit den Ländern im Bundesrat dafür kämpfen, die Rahmenbedingungen für mittelständische Firmen in Deutschland und in Schleswig-Holstein zu verbessern. Im Koalitionsvertrag finden sich richtige Ansätze. Allerdings befinden sich dort auch überarbeitungsbedürftige Punkte, die insbesondere das Sparpaket und die Lohnnebenkosten betreffen.

Von Schleswig-Holstein sind gute Vorschläge ausgegangen. Ich erwähnte die Finanzierung der Sozialversicherung. Wir haben bekanntlich eine Initiative zum Abbau der Statistikpflichten gemacht, wobei das Ergebnis schwieriger Bund-Länder-Gespräche war, dass wir doch nur den kleinsten gemeinsamen Nenner erreicht haben. Wir haben eine Umstrukturierung im Steuersystem zugunsten der Eigenkapitalbildung von mittelständischen Unternehmen vorgeschlagen. Wir haben Vorschläge zum Niedriglohnsektor gemacht. Ich habe es erwähnt. Wir haben Vorschläge zur Umfinanzierung der Sozialversicherung gemacht und wir machen in Schleswig-Holstein selbst im Kleinen das, was wir machen können.

Ich glaube, dass wir auch bundesweit gut beraten sind, wenn wir uns jetzt gemeinsam auf die wichtigsten Punkte verständigen und auf allen Ebenen - in der Wirtschaft selbst, über die Bundesregierung und den Bundesrat sowie unter anderem die Ministerpräsidentenkonferenz - gemeinsam dafür werben, dass Mittelstandspolitik eines der wichtigsten Politikfelder der nächsten Jahre wird. Ich sage es ganz pointiert: Ohne Mittelstandspolitik werden wir diese Probleme in Schleswig-Holstein nicht lösen, denn die Insolvenzen werden weiter steigen. Die Probleme werden weiter bestehen bleiben.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb noch einmal meine herzliche Bitte: Beteiligen Sie sich an diesen Diskussionen und lassen Sie uns gemeinsam versuchen, hier etwas zu tun. Ich erwarte dann auch von den schleswig-holsteinischen Bundestagsabgeordneten eine Unterstützung dieser Initiative in Berlin.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu einem Kurzbeitrag erteile ich Herrn Abgeordneten Dr. Garg das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gab drei Beiträge, die mich dazu veranlasst haben, noch etwas zu sagen. Dies war einmal der Beitrag von Herrn Hentschel, den ich im Übrigen als sehr nachdenkenswert empfunden habe. Ferner gab es Ihren Beitrag zur Reform der Sozialversicherungssysteme, Herr Minister, und den Beitrag von Lars Harms. Eines will ich ganz deutlich sagen: Ich habe sehr viel Verständnis dafür, dass in Anbetracht der katastrophalen Lage im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden, völlig unabhängig von der Farbe, unter der dort gegenwärtig regiert wird, und insbesondere aus Berlin der Appell kommt, man müsse diese wichtigen Probleme gemeinsam lösen. Herr Minister, wofür ich recht wenig Verständnis habe, ist dies: Ich finde, Sie machen es sich etwas einfach, wenn Sie sagen, hier in Kiel läuft alles ganz prima. Rot-Grün macht hier alles richtig. In Berlin wird nicht alles richtig gemacht. So einfach löst man die Probleme der Sozialversicherungssysteme nicht.

(Zurufe des Abgeordneten Detlef Matthies- sen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

- Sie können Möllemann noch dreimal nennen, aber Ihre Politik wird deshalb nicht besser, auch wenn Sie mir dies fünfmal vorwerfen. Der Kern des Problems ist für mich in der Tat, wie wir von den viel zu hohen Lohnnebenkosten runterkommen. Wie senken wir angesichts der demographischen Entwicklung die viel zu hohen Arbeitskosten? Zur demographischen Entwicklung sage ich ganz deutlich: Wir haben eine abnehmende Generation von Erwerbsfähigen. Das bedeutet, wir haben auch eine abnehmende Generation derjenigen, die in der Zukunft in die Sicherungssysteme einzahlen können. Dann stehen wir vor dem Problem, dass immer weniger Erwerbsfähige immer mehr Leistungsempfänger bedienen müssen. Herr Harms hat vollkommen richtig ausgeführt, dass ein Rechtsanspruch auf diese Leistungen besteht. Die stehen sogar unter dem Schutz des Artikels 14 des Grundgesetzes.

(Zuruf des Abgeordneten Detlef Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

- Herr Matthiessen, reden Sie doch von Dingen, von denen Sie etwas verstehen.

Lars Harms, da ist die Frage, wie wir tatsächlich dazu kommen, die Systeme zu reformieren. Ich gebe Ihnen

vollkommen Recht, dass wir da nicht einfach Dänemark überstülpen können, weil wir aus einer bestimmten Grundtradition heraus sagen, es muss eine Leistungsbezogenheit dessen geben, was man im Laufe seiner Lebensarbeitszeit geleistet hat, und dessen, was hinten herauskommt.

Ich schlage Ihnen deshalb ganz konkret vor, einmal darüber nachzudenken, ob es nicht sinnvoll wäre, dass ein Drittel der Leistungen der Rentenversicherung steuerfinanziert wird - wenn Sie sich das genau ansehen, ist das im Übrigen schon fast der Fall -, dass das zweite Drittel in einem reformierten System umlagefinanziert wird und dass das dritte Drittel kapitalgedeckt finanziert wird. Das kann nur dann passieren, wenn man das jetzt angeht; denn einen Kapitalstock bauen Sie nicht von heute auf morgen auf und den bauen Sie auch nicht mit der Riester-Rente auf.