Protokoll der Sitzung vom 20.02.2003

Dieses Gutachten ist natürlich ernst zu nehmen, aber es enthält keine neuen Erkenntnisse. Wenn sich die FDP-Kollegen in der monatelangen Diskussion um unseren Gesetzentwurf einmal mit der BGHEntscheidung zu diesem Thema beschäftigt hätten, wüssten Sie das. Diese Entscheidung hat Bundestag und Bundesrat beschäftigt, aber offenbar nicht die FDP. Herr Kubicki wird sich ja in wenigen Minuten selbst zu Wort melden. Es steht zu erwarten, dass er sich uns wieder einmal als selbstbewusster Hüter des Rechtsstaates präsentieren wird.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Ein bisschen mehr als Sie verstehe ich davon, Herr Mül- ler!)

Gestatten Sie mir als einem, der zumindest mehr als nur das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Landes Schleswig-Holstein gelesen hat, dennoch, Sie mit unserer Sichtweise zu beschäftigen.

Der Wissenschaftliche Dienst unseres Hauses sieht in § 3 Abs. 1 unseres Gesetzentwurfs eine vergleichbare Regelung zum Berliner Tariftreuegesetz, das der BGH in seinem Vorlagebeschluss vom 18. Januar 2000 dem Bundesverfassungsgericht zugeleitet hat, in dem der BGH die Verfassungsmäßigkeit bezweifelt, da es dem Gebot der Koalitionsfreiheit des Artikel 9 Abs. 3 GG nicht genüge. Zum einen liegt bisher kein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor, das für die Legislative verbindlich sein könnte.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Das stimmt! Es wäre auch noch schöner, wenn Sie es trotz- dem machen würden!)

Der Baugewerbeverband - Herr Schlie, bitte zuhören; das ist ein Verband, der Ihnen angeblich nahe steht - weist zu Recht darauf hin, dass auch kein Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit vorliege. Denn weder muss ein Arbeitnehmer aufgrund des Tariftreuegesetzes Mitglied einer Tarifvertragspartei werden noch wird er selbst tarifgebunden. Die Tariftreuepflicht hat nur schuldrechtliche Wirkung zwischen den Parteien des konkreten öffentlichen Bauauftrags. Die Tariftreuepflicht greift nicht in das tarifvertragliche Verhältnis der Arbeitsvertragsparteien ein, und der Arbeitnehmer erhält keinen Anspruch gegen seinen Arbeitgeber auf Einhaltung der Tariftreue. Aber selbst wenn Sie einen Eingriff in die Vertragsfreiheit unterstellten, wäre dieser Eingriff unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten unserer Überzeugung nach zu rechtfertigen. Der Verhältnismäßigkeit entspricht auch die Beschränkung des Gesetzes auf Sektoren, in denen sich die am wenigsten sozialverträglichen Aspekte zeigen.

(Klaus-Dieter Müller)

Im Übrigen vermag auch der Wissenschaftliche Dienst unseres Hauses nicht zu beurteilen, ob bei den im Gesetzentwurf genannten Tatbeständen eine marktbeherrschende Stellung der öffentlichen Hand besteht, die auch für den BGH Voraussetzung für die verfassungsrechtlichen Bedenken ist.

Nach all dem mag ein Restrisiko bestehen, aber die wirtschaftliche Lage unserer Betriebe fordert zwingend ein Handeln. Meine Damen und Herren, das Bedenkentragen der Politiker sind die Betroffenen Leid. Sie erwarten von uns, dass wir handeln, um zu helfen, und das tun wir heute.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW - Zuruf von Wolfgang Kubi- cki [FDP])

- Sie sind doch gleich an der Reihe, Herr Kubicki! - Während sich FDP und CDU in wirtschaftsliberalen Träumen und verfassungsrechtlichen Bedenken gegenseitig überholen und das Gesetz ablehnen, geht es der Gewerkschaft ver.di nicht weit genug. Für die kommunalen Auftraggeber enthalte das Gesetz nur eine Kann-Bestimmung, und ein geltender Tarifvertrag werde zum Maßstab gemacht, nicht aber der von ver.di freigegebene. Eine Diskriminierung eines geltenden Tarifvertrages kann und wird es mit uns nicht geben. Eine Verpflichtung der Kommunen durch den Landesgesetzgeber ebenfalls nicht. Dabei geht es eben nicht nur um das Konnexitätsprinzip, sondern auch um die Frage, wie viel Eigenverantwortung der Landesgesetzgeber den Kommunen zutraut.

(Beifall bei SPD, SSW und der Abgeordne- ten Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir sind sicher, dass unsere Kommunen verantwortlich handeln werden. Sie wissen, welchen Stellenwert Maßnahmen zur Bestandssicherung der Betriebe in und für unsere Gemeinden haben. Im Übrigen, meine Damen und Herren: Moral ist nicht teilbar.

(Martin Kayenburg [CDU]: Das sollten Sie sich einmal merken! - Wolfgang Kubicki [FDP]: Das muss Müller sagen!)

- Ganz ruhig bleiben! - Moral ist nicht teilbar nach dem Motto: Wir können nicht verantworten, dass in unserem Land Menschen mit Niedrigstlöhnen ausgebeutet werden und dabei unsere Arbeitsplätze und Firmen gleichermaßen ruiniert werden, dass aber eine Anwendung der bei uns geltenden Tariflöhne die Preise in die Höhe treibt, was wir uns nicht leisten können und wollen.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Hat Rohwer das bisher gemacht?)

Das ist nicht möglich. Das Land geht heute mit gutem Beispiel voran. Es ist schade, dass Sie nicht mitmachen, aber es entlarvt Sie.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW - Wolfgang Kubicki [FDP]: Schauen wir mal!)

Ich erteile Frau Abgeordneter Strauß das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn mir vor meinem Eintritt in diesen Landtag jemand gesagt hätte, dass unter der Führung der SPD ein derartiges Gesetzgebungsverfahren wie zum Tariftreuegesetz möglich sei, so hätte ich dies als böswillige Unterstellung zurückgewiesen.

(Beifall bei CDU und FDP)

Die Wirklichkeit lehrt das Gegenteil: Die Wirklichkeit, die uns mit diesem Gesetzentwurf vorliegt, erzählt von einem Gesetzfindungsverfahren, das jeder Beschreibung spottet. Bei diesem Gesetzentwurf wurden Fragen der Verfassungswidrigkeit ebenso beliebig ausgelegt wie die der Anwendungsbereiche. Weder das bestehende Recht noch die Auswirkungen wurden berücksichtigt. Schon der Begriff Tariftreuegesetz führt in die Irre. Es geht eben nicht um die Einhaltung von im Rahmen der Tarifautonomie abgeschlossenen Tarifverträge, sondern um einen staatlich verordneten Lohn. Selbst tariftreue Unternehmen werden ausgegrenzt. Das ist ein Anschlag auf die Tarifautonomie.

Auch verfassungsrechtliche Fragen werden offensichtlich nach Parteibuch der Antragsteller beantwortet. Bei der Beratung des Gesetzentwurfs des SSW in 2001 war sich der Innenminister mit dem Wissenschaftlichen Dienst in der Beurteilung noch weitgehend einig und sah keinen Handlungsspielraum für ein Landesgesetz. 2003 sieht der Innenminister kaum bis keine Bedenken. Im Übrigen verweist er darauf, dass das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden habe. Herr Minister Rohwer, Sie erklärten noch Ende 2001, jedes Landesvergabegesetz, das kommen werde, werde vermutlich beklagt. Auch sollte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht vorgegriffen werden. Herr Minister, in beiden Punkten haben Sie Recht. Das hohe Risiko der Verfassungswidrigkeit kann im schlimmsten Fall bedeuten, dass die ohnehin schon marginale Bautätigkeit in Schleswig-Holstein durch Vergaberechtsstreitigkeiten ganz zum Erliegen kommt. Das hätte

(Roswitha Strauß)

insbesondere katastrophale Folgen für die schleswigholsteinischen Unternehmen.

(Beifall bei CDU und FDP - Martin Kayen- burg [CDU]: So ist das! - Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So wie in Bayern!)

Herr Minister Rohwer, Anfang 2003 müssen Sie sich als Miturheber dieses Gesetzes für die Folgen in die Verantwortung nehmen lassen.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: So ist es!)

Sie werden uns jedoch gleich in gewohnt geschmeidiger Form erklären, weshalb heute richtig ist, was vor einem Jahr noch falsch war. So beliebig wie die Rechtsstaatlichkeit, so beliebig werden auch die Anwendungsbereiche behandelt. Zunächst hieß es: ÖPNV rein ins Gesetz, weil dringender Handlungsbedarf besteht. SPNV sollte raus aus dem Gesetz, weil es keinen Handlungsbedarf gab. Jetzt heißt es: SPNV rein ins Gesetz und ÖPNV raus aus dem Gesetz. Ist das nun einerseits die wundersame Heilung der bösen Krankheit Lohndumping im ÖPNV und andererseits das Ausbrechen dieser Krankheit im SPNV oder ist der SPNV dank erfolgreichen Wettbewerbs schlicht das Notopfer an die Gewerkschaften? Verlogenheit und Widersinn dieses politischen Handelns sind nicht steigerbar. Was dieses peinliche Wechselspiel mit seriöser Politik zu tun haben soll, erschließt sich mir auch nicht.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Nichts!)

Herr Kollege Müller, Ansprüche, die man nicht hat, kann man natürlich auch nicht erfüllen. Dass die Gewerkschaften mit diesem Bäumchen-wechsel-dichSpiel trotz des Trostpflasters Abfallentsorgungswirtschaft höchst unzufrieden sind, ist klar, ging es doch darum, den lästigen Wettbewerb im gesamten ÖPNV zu unterbinden und die hohen Tarife der öffentlichen Hand mit seinen Sonderzulagen zu sanktionieren und festzuschreiben. Ich sehe es daher als außerordentlichen Erfolg der Opposition an, dass es uns durch hartnäckiges Nachhaken bezüglich der Konnexität gelungen ist, diesen Coup der Gewerkschaften zu durchkreuzen und den Wettbewerb wenigstens im ÖPNV zu sichern. Bürger, Kreise und Kommunen werden so vor enormen Kostensteigerungen bewahrt.

(Beifall bei CDU und FDP - Zuruf des Ab- geordneten Bernd Schröder [SPD])

- Herr Kollege Schröder, zum nunmehr hinzugefügten Anwendungsbereich Abfallentsorgungswirtschaft: Wir erinnern uns; es ist noch gar nicht lange her, da erhielt ein mittelständischer Unternehmer aus Hamburg nach einer europaweiten Ausschreibung der

städtischen Abfallwirtschaft Kiel den Vergabezuschlag. Sofort wurden vonseiten der Gewerkschaften und des Betriebsrats des unterlegenen RWEKonzerns Proteste mit dem Schlachtruf „Lohndumping“ laut. Der mittelständische Unternehmer sah sich durch die Presse angegriffen. Dass ein mittelständisches Unternehmen gegen einen Großkonzern auch einmal eine Chance im Wettbewerb hat und obendrein durch diesen Wettbewerb die Kosten für die Gebührenzahler um zirka 5 Millionen € gesenkt werden, ist nur zu begrüßen und hat mit Lohndumping nicht das Geringste zu tun. Diesen wichtigen Wettbewerb abzuwürgen, ist ein Skandal.

(Beifall bei CDU und FDP)

Nach der Maxime, es lebe die eindimensionale Denkweise, errichten Sie mit diesem Gesetz ganz nebenbei auch noch ein Bollwerk gegen den Arbeitsmarkt und gegen die Hartz-Pläne.

(Martin Kayenburg [CDU]: So ist das!)

Wollten Sie diese nicht 1:1 umsetzen? Wo sollen Ihrer Meinung nach eigentlich noch Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich entstehen können, wenn Sie mit diesem Gesetz potenziell mögliche Arbeitsbereiche verschließen?

(Beifall bei CDU und FDP)

Herr Kollege Müller, nach diesem Gesetz ist es keinem Arbeitgeber möglich, einen Leiharbeiter oder eine Hilfskraft auf öffentlichen Baustellen oder im Abfallbereich unterhalb der bestimmten Tarifvorgaben zu beschäftigen. Langzeitarbeitslose bleiben draußen. Auch Bündnisse für Arbeit zur Sicherung von Arbeitsplätzen sind von der öffentlichen Auftragsvergabe ausgeschlossen.

(Unruhe)

Was für Caterpillar und HDW zur Sicherung von Arbeitsplätzen angestrebt wird, wird für Handwerker und mittelständische Unternehmen unmöglich gemacht.

(Anhaltende Unruhe - Glocke des Präsiden- ten)

Ich darf das Haus um etwas mehr Aufmerksamkeit bitten - in allen Reihen!

Um das gedankliche Chaos perfekt zu machen, erklärte die Ministerpräsidentin parallel zur Verabschiedung dieses Gesetzes zu allem Überfluss auch noch

(Roswitha Strauß)

am 13. Februar dieses Jahres, dass es für Ihre Partei an der Zeit sei, sich offensiv mit den Gewerkschaften auseinander zu setzen. Ich zitiere aus der Presse:

„Ich glaube, wir müssen über Themen reden, wo die Gewerkschaften aus Instinkt „Nein“ rufen, zum Beispiel über Flächentarife.“

Verehrte Frau Ministerpräsidentin, an dieser Stelle kann ich Ihnen durchaus zustimmen. Die Frage ist nur: Wie vereinbaren Sie diese Äußerungen mit dem Inhalt dieses Gesetzes und wie konnte dieses Gesetz Ihren Kabinettstisch passieren?

(Beifall bei CDU und FDP)

Es dokumentiert nicht nur das genaue Gegenteil Ihrer Äußerungen; darüber hinaus weiten Sie mit dem Lohn der Baustelle regionale schleswig-holsteinische Tarife zum Flächentarif auf ganz Europa aus. Genau diese Widersprüchlichkeit zwischen Reden und Handeln ist der Stoff, aus dem die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Albträume in Deutschland gestrickt werden. In allen Pressemitteilungen von Rot-Grün wird stets betont, dass es vordringlich um Hilfe für die Bauwirtschaft geht. In der Pressemeldung vom 21. Januar 2003 aus den „Kieler Nachrichten“ steht in einer Schlagzeile: „SPD: Tariftreue soll den Bau schützen“. Hier gab Kollege Müller zu Protokoll, dass das Land ein interessanter Auftraggeber für Bauinvestitionen in Höhe von mehr als 1 Milliarde € sei.