Protokoll der Sitzung vom 03.04.2003

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kein Kind ist wie ein anderes und kein Kind lernt wie ein anderes. Bildung und Bildungsfortschritte sind sehr indi

(Ministerin Ute Erdsiek-Rave)

viduelle Prozesse. Jeder weiß das. Trotzdem - das muss ich nun sagen, Frau Eisenberg -: Unsere Schulen - diesen Spiegel haben wir doch gerade vorgehalten bekommen - tragen diesem Umstand zu wenig Rechnung. Das können Sie hier doch nicht einfach bestreiten, indem Sie sich hier hinstellen und sagen: Das ist alles immer schon gemacht worden, es wird schon immer gefördert, das ist doch alles ganz prima.

(Zuruf der Abgeordneten Sylvia Eisenberg [CDU])

Haben Sie denn schon vergessen, was uns PISA ins Stammbuch geschrieben hat?

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf der Abgeordneten Sylvia Eisenberg [CDU])

Ich finde, es ist die Aufgabe verantwortlicher Schulpolitik, Instrumente dafür zu entwickeln, wie der individuellen Situation der Schülerinnen und Schüler Rechnung getragen werden kann, und Instrumente zu entwickeln, die eben nicht alles über einen Kamm scheren, sondern jedes Kinder in den Blick nehmen und nach seinen Bedürfnissen fordern und fördern, und Leistungen der Schüler an Standards zu messen und zu überprüfen.

Wir haben uns deshalb für die Einführung von individuellen Lernplänen entschieden. Sie sollen allen an der Schule Beteiligten - das ist das neue Element daran -, Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern und Eltern, mehr Klarheit verschaffen und sie auch mit in die Verantwortung nehmen. Natürlich muss ich einschränkend sagen: Soweit das überhaupt möglich ist. Der Beitrag der Eltern dazu ist natürlich nicht sanktionierbar - das sage ich, wenn Sie fragen, was dann passiert -, natürlich nicht. Aber es geschieht zum ersten Mal, dass es konkrete Verabredungen mit Einzelmaßnahmen gibt, die festgelegt werden, an die sich alle halten sollen, und dies mit ihrer Unterschrift bestätigen. Das ist ein neues Instrument.

Lassen Sie uns doch erst einmal probieren, wie das läuft, und machen Sie nicht so einen Popanz darum, indem Sie das als ein Monstrum oder Ähnliches darstellen. Das ist wirklich lächerlich.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Wir haben einen intensiven Anhörungsprozess hinter uns. Wir haben auch, wie es richtig ist, eine Reihe von Änderungsvorschlägen berücksichtigt. Wir wollen, dass dieses pädagogische Mittel erfolgreich eingesetzt wird. Das Ziel, individuelle Förderung so viel wie möglich, ist doch wohl unstrittig. Wenn Sie dagegen etwas haben, wundere ich mich wirklich. Es

überrascht mich schon, dass Sie diesen Weg so grundsätzlich nicht mitgehen wollen.

Herr Dr. Klug, Sie sprechen hier von bürokratischen Monstren.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Stimmt ja auch! - Dr. Ekkehard Klug [FDP]: Ist doch wahr!)

Das ist eines Ihrer Lieblingstopoi in jeder bildungspolitischen Diskussion. Dann müssten Sie auch gegen Entwicklungsberichte sein. Dann müssten Sie auch gegen Berichtszeugnisse sein. Dann müssten Sie auch gegen Förderpläne in den Förderschulen sein.

(Anke Spoorendonk [SSW]: Ist er auch!)

Wahrscheinlich sind Sie das auch. Zurück, zack, zu den Notenzeugnissen: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, das reicht aus,

(Zuruf des Abgeordneten Martin Kayenburg [CDU])

etwas anderes ist in der Bildungspolitik nicht notwendig. - Dann unterscheiden wir uns in manchen Dingen doch grundsätzlicher, als ich das gedacht habe.

(Martin Kayenburg [CDU]: Das ist auch gut so!)

- Wissen Sie, warum das eigentlich so schmerzhaft ist? - In der Nach-PISA-Diskussion bestand zum ersten Mal in Deutschland und auch hier im Landtag eine sehr viel größere bildungspolitische Übereinstimmung in manchen Grundfragen, als das jemals der Fall war.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Das finde ich für unsere Schulen positiv. Wenn Sie jetzt aus populistischen Gründen meinen, Sie müssten davon abgehen, müssen Sie das tun und selbst verantworten.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Ekkehard Klug [FDP])

Der revidierte Entwurf, der in der nächsten Woche im Landesschulbeirat beraten wird, trägt jedenfalls den Wünschen aus der Schulpraxis weitgehend Rechnung. Ich will Ihnen das ganz kurz erläutern.

Der Lernplan ist eben etwas anderes als ein rückwärts gewandtes Zeugnis, in dem die Schüler etwas bestätigt bekommen. Es ist eine auf die Zukunft und das jeweilige Halbjahr gerichtete Vereinbarung zwischen Eltern, Schülern und Lehrern. Es ist auch kein abstraktes, starres Instrument, sondern ein pädagogisches Mittel mit unterschiedlichen Merkmalen, die

(Ministerin Ute Erdsiek-Rave)

ergänzt werden können. Wir geben dafür kein starres Konzept vor. Er ist offen und flexibel. Nur so kann langfristig die Lernsituation entstehen, die das einzelne Kind braucht.

Als ein Element ist die Erstellung von Lernplänen in der ersten Phase, in der wir sie erproben wollen, für Schüler mit besonderer Begabung, also für Höchstbegabte - für die in der Vergangenheit hier immer wieder festgestellt wurde, dass die Lehrerinnen und Lehrer zu wenig auf sie eingehen und ihnen entsprechende Fördermaßnahmen eröffnen - verbindlich. Das andere ist die Verbindlichkeit für die Schülerinnen und Schüler, die besonders schwach sind, also mindestens die, bei denen eine Nichtversetzung droht. Wir haben uns - was von vielen Schulen erwartet und gefordert wurde - zunächst auf diese beiden Gruppen der Schülerinnen und Schüler beschränkt.

Schon heute führen die Lehrerinnen und Lehrer intensive Beratungsgespräche mit den Eltern und Schülern. Das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Das ist keine sozusagen Generalkritik an den Lehrern und der Art, in der sie pädagogisch arbeiten. Die neue Qualität ist eine, die sich mit diesem speziellen Instrument entwickeln wird. Davon bin ich überzeugt. Wir werden umfangreiche Beratungsangebote und Fortbildungsangebote machen.

Hier ist eben schon von IGLU die Rede gewesen. Ich will wegen der mangelnden Zeit nichts dazu sagen. Das kommt beim nächsten Tagesordnungspunkt noch einmal. Ich will Ihnen nur die Lektüre eines Artikels in der „Zeit“ von heute ans Herz legen, in dem dargestellt wird, wie der Spitzenreiter von IGLU - das ist neben England Holland - arbeitet, auch individuell fördert. Da findet sich ein schöner Absatz. Unter der Überschrift „Früher Start zur Weltspitze“ steht da:

„’Wir versuchen, jedes Kind so individuell wie möglich zu fördern’… Zum Beleg, dass die Rede Ihres Chefs von der ‚individuellen Förderung’ nicht nur Schulleiterprosa ist, holt… Lehrerin… den Ordner ihrer Klasse hervor. Für jedes Kind ist auf einem Blatt notiert, welches Lernziel es im nächsten Halbjahr erreichen kann und ob es besondere Unterstützung benötigt.“

Sie tun so, als habe die Ministerialbürokratie in Schleswig-Holstein ein ganz besonderes Instrument selbst erfunden. Das ist mitnichten so. Wir haben uns an den erfolgreichen Ländern orientiert. Genau diese Instrumente werden dort seit langem angewandt. Sie sind dort erfolgreich. Sie sind hier neu. Jedes Neue ruft natürlich Diskussionen hervor. Aber ich bin davon überzeugt, dass dieser Weg richtig ist.

(Beifall bei FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Beratung.

Ich frage, welche Antragslage gewünscht ist, Abstimmung in der Sache oder Ausschussüberweisung?

(Zuruf: Abstimmung in der Sache!)

- Abstimmung in der Sache. Wer dem Antrag der Fraktion der FDP, Drucksache 15/2568, Rücknahme des Erlassentwurfs zu individuellen „Lernplänen“ für Schülerinnen und Schüler, in der Sache seine Zustimmung geben will, den bitte ich um sein Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Damit ist der Antrag der Fraktion der FDP, Drucksache 15/2568, in der Sache mit den Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW gegen die Stimmen von CDU und FDP abgelehnt. Damit ist dieser Tagesordnungspunkt erledigt.

Es ist jetzt 17:40 Uhr. Als Nächstes haben wir Tagesordnungspunkt 22 aufzurufen. Hierbei geht es um die Unterrichtsversorgung. Ich darf um die Meinungsbildung des hohen Hauses bitten, ob wir ihn jetzt noch beraten wollen, und zwar in einer wegen der Anschlusstermine gebotenen komprimierten Form. Ich möchte darauf hinweisen, dass Kolleginnen und Kollegen darum gebeten haben, die 18:00-Uhr-Grenze nicht allzu deutlich zu überschreiten.

(Zurufe)

- Da Einverständnis hierüber besteht, rufe ich jetzt Punkt 22 der Tagesordnung auf:

Unterrichtsversorgung und Unterrichtsgarantie an Grundschulen Antrag der Fraktion der CDU Drucksache 15/2574

Antrag der Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 15/2594

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Dem ist nicht so.

Dann eröffne ich die Aussprache. Für die antragstellende Fraktion der CDU erteile ich jetzt der Frau Abgeordneten Sylvia Eisenberg das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Plötzlich ist alles möglich, um den Unterrichtsausfall zu beheben. Sogar Geld soll nach Ankündigung der Minister

(Sylvia Eisenberg)

präsidentin zur Verfügung gestellt werden. Damit - das freut uns natürlich - wird zum ersten Mal nach außen hin anerkannt, dass es in Schleswig-Holstein tatsächlich Unterrichtsausfall in einem erheblichen Maße gibt. Das ist eine Einsicht, auf die die Opposition immerhin drei Jahre gewartet hat.

Die Frage ist allerdings, ob dieses groß angekündigte Programm den hochgesteckten Erwartungen entsprechen kann und wird. Spitz gerechnet - aber das ist immerhin eine Leistung - stehen ab 2005, also bei Beendigung des vollen Programms, pro Woche und pro Schule - nicht pro Klasse - im Durchschnitt drei Stunden für einen Vertretungspool zur Verfügung. Ob das ausreichen wird, wird sich zeigen. Aber, meine Damen und Herren, Einsicht ist der erste Weg zur Besserung. Hinsichtlich der Behebung des Unterrichtsausfalls haben Sie und die Landesregierung Einsicht gezeigt. Das erkennen wir an und freuen uns, dass Sie - Frau Simonis ist leider nicht da; Sie, Frau Erdsiek-Rave, können es an Frau Simonis weitergeben - so schnell auf die Ankündigung unseres Antrages vom 4. März reagiert haben. Vielen Dank.

Damit, meine Damen und Herren, kommen wir zu unserem Antrag, der keinesfalls erledigt ist, sondern sowohl den Unterrichtsausfall als auch das Problem der schlechten Unterrichtsversorgung beheben will.

Ab und zu ist es gut, in die Vergangenheit zu schauen und wieder einmal die Statistiken zu lesen. Der Landesrechnungshof hatte bereits 1999 festgestellt, dass die Unterrichtsversorgung in Schleswig-Holstein weit unter dem Durchschnitt der Bundesländer liegt und dass diese schon miserable Unterrichtsversorgung nur gehalten werden kann, wenn bis zum Schuljahr 2004/05 1.500 Vollzeitlehrereinheiten den Bedarf decken, bei gleichzeitiger Wiederbesetzung aller Pensionierungsstellen. Wollte Schleswig-Holstein tatsächlich besser werden und ungefähr den Durchschnitt der Bundesländer erreichen, hätten wir bis zum Jahre 2005 2.250 zusätzliche Stellen benötigt. Die erhöhte Unterrichtsverpflichtung der Lehrkräfte einschließlich der Vorgriffsstunde wurde bei diesen Berechnungen des Landesrechnungshofs bereits berücksichtigt.