Protokoll der Sitzung vom 19.06.2003

und greife die fraktionsübergreifende Initiative auf. Es ist beantragt worden, gemäß § 57 Abs. 2 die Beratung zu unterbrechen, um morgen nicht wieder in die Beratung einzusteigen, aber Beschluss zu fassen. Das betrifft die Beschlussfassung über die Drucksachen 15/2729 und 15/2754 beziehungsweise sich daraus ableitende, neue Beschlussvorlagen. Wer zu Tagesordnungspunkt 24 so verfahren möchte, den bitte ich um sein Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Das ist einstimmig vom Haus so beschlossen. Wir werden morgen auf Tagesordnungspunkt 24 wieder zurückkommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:

Weiterentwicklung der Sucht- und Drogenpolitik

Antrag der Fraktionen von SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abgeordneten des SSW Drucksache 15/2737

Antrag der Fraktionen von SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten des SSW

Drucksache 15/2737 (neu)

Antrag der Fraktion der CDU Drucksache 15/2763

Die Drucksache 15/2737 (neu) ist zurückgezogen worden.

Ich bin dahin gehend informiert worden, dass wir über die Anträge alternativ abstimmen. Zuerst eingegangen ist der Antrag Drucksache 15/2737, der Antrag von SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abgeordneten des SSW. Wer diesem Antrag seine Zustimmung geben will, den darf ich um sein Handzeichen bitten. - Das waren die Stimmen von

(Vizepräsident Thomas Stritzl)

SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW. - Ich frage, wer für den Antrag der Fraktion der CDU stimmt, Drucksache 15/2763? - Die CDU-Fraktion. - Der Antrag Drucksache 15/2737 hat mit den Stimmen von SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW die Mehrheit gefunden. Der Tagesordnungspunkt 25 ist damit erledigt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 35 auf:

Bericht über den Stand der Reform des Jugendstrafrechts

Landtagsbeschluss vom 2. April 2003 Drucksache 15/2569

Bericht der Landesregierung Drucksache 15/2708

Ich erteile zunächst der Ministerin für Justiz, Frauen, Jugend und Familie, Frau Lütkes, das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir richtig zu stellen, dass wir einen Bericht über den aktuellen Stand der Debatte um die Reform des Jugendstrafrechts vorgelegt haben. Das ist ein wesentlicher Punkt. Der Gesetzgebungsstand ist nämlich noch sehr rudimentär, wie die Bundesjustizministerin zuletzt auf der Justizministerkonferenz in Glücksburg in der letzten Woche zu berichten wusste.

Wir haben Ihnen diesen Bericht über die Debatte um die Reformbestrebungen gern vorgelegt, weil in regelmäßigen Abständen zu verzeichnen ist, dass im Bundesrat von CDU-geführten Ländern, insbesondere von der Justizministerin von Baden-Württemberg, die der FDP angehört, Forderungen nach einer Verschärfung des Jugendstrafrechts vorgelegt werden, die den Grundsatz „Erziehung statt Strafe“ infrage stellen.

Wer sich mit der Reform des Jugendstrafrechts befasst, muss sich mit der tatsächlichen Kinder- und Jugendkriminalität und damit auseinander setzen, dass in der Presse, in den Medien oft ein überzeichnetes Bild von der Jugenddelinquenz gezeichnet wird. Dies nährt sich aus spektakulären Einzelfällen kindlicher und jugendlicher Straftaten. Wir haben zwar festzustellen, dass seit den 90er-Jahren ein Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität zu verzeichnen ist. Dieser Anstieg ist besonders deutlich im Bereich der Raub- und Körperverletzungsdelikte. Es handelt sich dabei überwiegend um Straßenkriminalität unter Gleichaltrigen. Die Mehrzahl der Straftaten sind einfache Eigentumsdelikte. Bei schweren Formen der Kinder- und Jugendkriminalität, etwa Tötungsdelik

ten, sind über die Jahre hinweg die statistischen Zahlen stabil.

Das Jugendstrafrecht orientiert sich im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht nicht an Sanktionen gegenüber Verhalten, sondern das Jugendstrafrecht nimmt die Tat zum Anlass zu prüfen, ob Entwicklungs- oder Erziehungsdefizite bei den jugendlichen Tätern vorliegen, die durch unterstützende Maßnahmen abgebaut werden, also Erziehung statt Strafe. Sehr richtig hat der Deutsche Juristentag Ende letzten Jahres formuliert:

„Vorrangiges Ziel des Jugendstrafrechts ist es, den Jugendlichen zu einem Leben ohne Straftaten anzuhalten. Der Erziehungsgedanke als Leitprinzip des Jugendstrafrechts hat sich bewährt, er ist beizubehalten. Er sichert flexible Sanktionsformen und ermöglicht gesellschaftliche Akzeptanz für adäquate Reaktionen.“

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist eine sehr richtige Formulierung, die sich wohltuend distanziert zu den regelmäßig erhobenen Forderungen nach einer Verschärfung und einer Abschaffung gerade dieses grundlegenden Prinzips verhält.

Das Phänomen der Kinder- und Jugenddelinquenz kann man nur verstehen und kann nur angemessen behandeln, wenn man sich den Kindern und Jugendlichen unmittelbar zuwendet und insbesondere ihre Auffassung von Recht und Unrecht beeinflusst und stärkt, Das heißt, Entwicklung von Wertehaltung und Gerechtigkeitsvorstellungen müssen notwendig zum Bildungsauftrag in der Gesellschaft gehören. Wir sollten uns darüber einig sein, dass die für Jugendkriminalität verantwortlichen Faktoren - rapider sozialer Wandel, anhaltende Arbeitslosigkeit, steigende Armut und Unterversorgung, Wandel der Beziehung zwischen Eltern und Kindern und die veränderte Rolle der Familie und der Schule, auch die veränderte Freizeitwelt - nicht durch eine Verschärfung des Jugendstrafrechts verändert werden können. Das Jugendstrafrecht setzt dann ein, wenn Straftaten begangen werden, wenn sie erkennbar werden und zunächst nicht in der Prävention.

Allerdings haben wir festzuhalten, dass Jugendkriminalität Ausdruck eines Auslotens von Grenzen ist. Diese Grenzüberschreitung gehört zur Entwicklung junger Menschen und zu ihrer Ablösung vom Elternhaus. Im Regelfall stellen Gesetzesverletzungen eine alterstypische Episode dar und sind kein Einstieg in eine kriminelle Karriere. Die Mehrzahl der Jugendlichen verhält sich anschließend wieder gesetzeskon

(Ministerin Anne Lütkes)

form. Unsere Jugendpolitik hat sich deshalb daran zu orientieren, auf dieses Verhalten angemessen, interessengerecht und nicht überzureagieren. Sie kennen die in Schleswig-Holstein entwickelten Einzelinstrumente für ein schnelles Reagieren auf solche normwidrigen Verhalten wie beispielsweise das vorrangige Jugendverfahren, das Flensburger Modell und sonstige Richtlinien bei der Diversion. Wir haben dafür zu sorgen und tun es auch, dass schnell auf normwidriges Verhalten reagiert wird, wir haben aber nicht dafür zu sorgen, dass beispielsweise ein so genanntes beschleunigtes Jugendverfahren eingerichtet wird, das die Beschuldigtenrechte verletzt, und wir haben aus unserer Sicht, aus Sicht der Landesregierung dafür zu sorgen, dass gerade im Jugendstrafverfahren Beschuldigtenrechte sehr hoch und die Jugendlichen als Rechtspersönlichkeiten auch in diesen Strafverfahren geachtet werden.

Diese Instrumente beispielsweise des Flensburger Modells eignen sich aber nur sehr zurückhaltend für die so genannten Mehrfachtäter und Intensivtäter. Bei diesen handelt es sich um eine quantitativ kleine Tätergruppe, die aber qualitativ durch wiederholte Begehung von Straftaten und die Begehung gerade von schweren Straftaten hervorsticht. In diesem Fall ist Kooperation ein zentraler Ansatzpunkt. Die Verbesserung der Zusammenarbeit der verantwortlichen Institutionen, Polizei, Justiz, Kinder- und Jugendpsychiatrie, und gerade die Bearbeitung der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Jugendgerichtsbarkeit ist hier eine der vorrangigen Aufgaben.

Ich unterstütze sehr die Entwicklung des Täter-OpferAusgleichs auch für diese Tätergruppe und Initiativen, die die Stellung des Opfers im jugendgerichtlichen Strafverfahren verbessern. Die Landesregierung lehnt aber Sanktionsentwicklungen wie platte Denkzettelwirkungen oder Schüsse vor den Bug ab. Das sind keine verantwortlichen Änderungen, die den Jugendlichen helfen, in der Gesellschaft ein verantwortliches Leben zu führen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und FDP)

Ich bin etwas enttäuscht, dass gerade in dieser Debatte von der FDP im Bundesrat die Denkzettelwirkung und die Schuss-vor-den-Bug-Theorie vertreten wird, auch in der Justizministerkonferenz. Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass wir hier eine große Gemeinsamkeit haben. Ich hoffe sehr, dass durch diesen von uns vorgelegten Bericht, Herr Kollege Strafverteidiger, wir vielleicht von Schleswig-Holstein aus eine gemeinsame Initiative gegen diese populistischen Tendenzen voranbringen können.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Ich eröffne die Aussprache, und zwar über den Bericht über den Stand der Debatte zur Reform des Jugendstrafrechts. Für die Fraktion der SPD erteile ich jetzt Herrn Klaus-Peter Puls das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Landesregierung hat einen Bericht über den Stand der Debatte zur Reform des Jugendstrafrechts vorgelegt. Namens der SPD-Landtagsfraktion möchte ich mich bei der federführenden Ministerin für Justiz, Frauen, Jugend und Familie und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dafür herzlich bedanken.

(Beifall bei SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Das Jugendstrafrecht des Bundes ist im Jugendgerichtsgesetz verankert. Das Jugendgerichtsgesetz mit dem Erziehungsgrundsatz als normativem Leitprinzip ist schon seit 1923 in Kraft. Kann ein 80 Jahre altes Jugendstrafrecht heute noch zeitgemäß sein? Der Anstieg registrierter Jugendkriminalität hat in vergangenen Jahren immer wieder besonders in CDUKreisen und -Ländern Forderungen nach einer massiven Verschärfung des Jugendstrafrechts ausgelöst. Zuletzt hat die Justizministerkonferenz in Berlin im November letzten Jahres mehrheitlich, das heißt, mit den Justizministern der CDU-geführten Bundesländer, die Bundesregierung aufgefordert, eine Reform auf den Weg zu bringen, die auf eine erhebliche Verschärfung des Jugendstrafrechts hinauslaufen würde.

Wir teilen die Auffassung der SPD-geführten Länder und die im Bericht konkret und umfassend dokumentierte Meinung unserer schleswig-holsteinischen Landesregierung, dass es sich bei den Forderungen der CDU-Länder um ein populistisches Manöver handelt, das dem Problem wachsender Jugendkriminalität nicht gerecht wird.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir empfehlen der Landesregierung, in der Arbeitsgruppe, die zur Reform des Jugendstrafrechts auf Bundesebene eingerichtet worden ist und der das Land Schleswig-Holstein angehört, auf die Beachtung und Einhaltung folgender vier Grundsätze hinzuwirken:

Erstens. Es bedarf keiner grundlegenden Änderungen des Jugendstrafrechts, weil schon das geltende Recht

(Klaus-Peter Puls)

zutreffend davon ausgeht, dass Jugendkriminalität wesentlich durch außerstrafrechtliche Faktoren bestimmt wird. Wenn es so ist, dass Jugendliche ohne Ausbildung und ohne Arbeitsplatz und junge Leute aus sozialen Brennpunkten und nicht oder nicht mehr intakten Familien eher in kriminelle Milieus abgleiten, dann muss die Bekämpfung von Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität als gesamtgesellschaftliche Aufgabe formuliert werden, die nicht nur von Polizei und Justiz, sondern auch und vorrangig von einer auf junge Menschen zugeschnittenen Bildungs-, Ausbildungs-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu leisten ist.

(Beifall bei SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Wir begrüßen, dass die Landesregierung deshalb neben dem Ausbau kriminalpräventiver Ansätze den Schwerpunkt ihrer Arbeit auch in einer Verbesserung der Familienförderung, einer Verstärkung der Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule, im Ausbau der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an politischen Entscheidungen und in der Bekämpfung häuslicher Gewalt sieht. Die Entwicklung normativer Verantwortlichkeit und sozialer Handlungskompetenz erfolgt in der Tat in erster Linie im Elternhaus, im Kindergarten und in der Schule. Das sozialpolitische Ziel, Jugendliche zu einem Leben ohne Straftaten anzuhalten, ist eher mit den Mitteln des Kinder- und Jugendhilferechts als mit verschärften jugendstrafrechtlichen Sanktionen zu erreichen. Das alleinige Abstellen auf das Jugendstrafrecht zur Verhinderung von Jugendkriminalität wird nicht zum Erfolg führen, weil das Jugendstrafrecht an den verstärkt jugendliches Fehlverhalten auslösenden gesellschaftlichen Faktoren nichts ändert, sondern naturgemäß erst einsetzen kann, wenn Fehlverhalten in Form von Straftaten zutage getreten ist.

Der zweite Grundsatz muss deshalb heißen: Prävention ist besser als Reaktion. Es gilt, mit den Mitteln und Maßnahmen, die die Landesregierung in ihrem Bericht aufgezeigt hat, gesellschaftspolitisch zu handeln, ehe das Kind in den kriminellen Brunnen gefallen ist.

Gleichwohl muss Strafrechtspolitik natürlich reagieren, wenn Straftaten begangen werden. Unser dritter Grundsatz lautet demgemäß: Auf Jugendstraftaten muss schnell, angemessen und differenziert reagiert werden. Strafverschärfende Repressionen halten wir nicht für erforderlich. Auch im Bereich der Reaktion auf begangene Straftaten sind nach unserer Auffassung Erziehung, Belehrung, Normverdeutlichung, sozialisierende, gegebenenfalls resozialisierende Einflussnahme auf den straffällig gewordenen jungen

Menschen allemal besser als konzeptionsloses Verknacken und Wegsperren.

(Beifall der Abgeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Dass die Landesregierung auf jugendliches Fehlverhalten maßvoll und interessengerecht reagiert, zeigen die Beispiele, die im Bericht genannt werden; die Ministerin hat darauf hingewiesen. Zu Recht wird in dem Bericht auf die Erfolge des in SchleswigHolstein praktizierten Diversionsverfahrens hingewiesen. Zu Recht wird auch auf das vorrangige Jugendverfahren, das Flensburger Modell, hingewiesen. Zu Recht wird schließlich auf das gemeinsam mit dem Städte- und Landkreistag und den Jugendämtern der Hansestadt Lübeck und des Kreises Dithmarschen sowie dem Deutschen Jugendinstitut entwickelte Konzept für eine institutionelle Zusammenarbeit bei der Ahndung von Straftaten jugendlicher Mehrfach- und Intensivtäter hingewiesen - ein Modellprojekt, das - im Gegensatz zur geschlossenen Unterbringung - zur flächendeckenden Anwendung nur empfohlen werden kann.

(Beifall der Abgeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])