Protokoll der Sitzung vom 19.06.2003

(Beifall der Abgeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Unser vierter Grundsatz lautet: Auch bei der Abgrenzung zwischen Erwachsenen- und Jugendstrafrecht muss der Erziehungsgedanke im Vordergrund stehen. Wir lehnen deshalb mit der Landesregierung die Forderung nach einer grundsätzlichen Anwendung des allgemeinen Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende im Alter von 18 bis 21 Jahren ab.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Der formale Hinweis auf das Volljährigkeitsalter 18 verkennt das entwicklungspsychologische Faktum vielfach erst späteren Heranreifens zu einem sozial verantwortlichen, rücksichtsvollen Mitmenschen, der sich als soziales, in die Gesellschaft eingebundenes Wesen versteht und der sich bewusst und überzeugt entsprechend verhält.

Nicht ohne Grund, sondern sachgerecht und folgerichtig zieht zum Beispiel das Kinder- und Jugendhilferecht die Altersgrenze für junge Menschen erst bei 27 Jahren. Auch ein Vorziehen der Grenze des Strafmündigkeitsalters - damit komme ich zum Schluss - von 14 auf zwölf oder noch weiter in Richtung Säuglingsalter, Herr Kollege Geißler, lehnen wir ab.

(Beifall der Abgeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

(Klaus-Peter Puls)

Wir teilen die Auffassung der Landesregierung, dass für Kinder unter 14 Jahren das Instrumentarium des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ausreicht und zur Reaktion auf kindliches Fehlverhalten besser geeignet ist als strafrechtliche Sanktionen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und vereinzelt bei der SPD)

Weitere Einzelfragen, die der Bericht aufwirft, sollten wir zum Gegenstand unserer Beratungen in den zuständigen Ausschüssen machen. Ich beantrage Überweisung in den Innen- und Rechtsausschuss zur federführenden Beratung und in den Sozialausschuss zur Mitberatung.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Das Wort für die Fraktion der CDU erteile ich jetzt dem Abgeordneten Thorsten Geißler.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein starker Anstieg der registrierten Jugendkriminalität, spektakuläre Einzelfälle kindlicher und jugendlicher Intensivtäter, aber auch schwere Gewalttaten junger Rechtsextremisten haben eine Diskussion über eine Reform des Jugendstrafrechts ausgelöst. In der Tat, die Zahlen sind alarmierend. Zwischen 1993 und 2001 hat die polizeilich registrierte Kriminalität junger Menschen unter 21 Jahren bundesweit um etwa 37 % zugenommen, die Gewaltkriminalität sogar um 78 %. Ein Blick auf die Kriminalstatistik unseres Landes zeigt, dass der Anteil unter 21-Jähriger an Tatverdächtigen bei Raubüberfällen auf Straßen und Wegen 75,7 % beträgt,

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

bei räuberischen Angriffen auf Kraftfahrer - man sollte die Statistik gelegentlich lesen, Herr Kollege Kubicki - 73,6 %, beim Handtaschenraub 63,2 %. Meine Damen und Herren, da kann von einem überzeichneten Bild durch die Medien keine Rede sein. Das sind nackte und traurige Fakten.

(Beifall bei der CDU)

Wir stehen vor einer ernsten Herausforderung für alle gesellschaftlichen und staatlichen Kräfte. Wir müssen uns dieser Herausforderung stellen. Wir dürfen nicht im Nichtstun verharren, Herr Kollege Puls, sondern müssen die Probleme lösen.

(Beifall bei der CDU)

Dazu haben wir Ihnen zweimal umfangreiche Maßnahmepakete vorgeschlagen, und zwar auch zur Stärkung der Prävention. Selbstverständlich wissen wir, dass mit repressiven Maßnahmen allein nichts zu lösen ist. Aber es kommt auf beides an: präventive Angebote, präventive Maßnahmen, aber auch konsequente Sanktionen, die Jugendlichen das begangene Unrecht vor Augen führen. Da gibt es Reformbedarf und das werde ich jetzt im Einzelnen nachweisen. Ich nenne die zentralen Punkte der derzeitigen Diskussion; sie sind ja auch im Bericht genannt.

Nach der gegenwärtigen Fassung des § 105 JGG muss für Heranwachsende, das heißt Täter, die zur Zeit der Tat 18, aber noch nicht 21 Jahre alt sind, im Einzelfall geprüft werden, ob allgemeines Strafrecht oder Jugendstrafrecht anzuwenden ist. Diese Norm hat in der Praxis zu einer erheblichen Rechtsungleichheit geführt. Bundesweit wird nach den Zahlen, die uns zur Verfügung gestellt worden sind, in 36,1 % der Fälle auf Heranwachsende Erwachsenenstrafrecht angewandt. Aber es gibt krasse Unterschiede. In Nordrhein-Westfalen wurde bei 59,8 % der Heranwachsenden Erwachsenenstrafrecht angewendet, in Schleswig-Holstein hingegen nur bei 8,5 %. Niemand kann mir glaubhaft machen, dass alle in dieser Altersgruppe bei uns zurückgeblieben sind. Das ist doch nicht der Fall.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Doch!)

Vielmehr gibt es hier eine Uneinheitlichkeit des Rechts, die nicht hinnehmbar ist. Ich unterstütze daher alle Reformansätze im Bundesrat, die darauf hinauslaufen, dass es ein Regel-Ausnahme-Verhältnis gibt, in der Regel Erwachsenenstrafrecht, bei entwicklungsbedingten Verzögerungen, die im Einzelfall nachzuweisen sind, Jugendstrafrecht. Das ist der richtige Weg.

Ich sage auch sehr klar: Es darf keine Vereinheitlichung geben, sondern wir müssen differenzieren. Weder darf es eine generelle Anwendung des Jugendstrafrechts auf alle bis zu 21-Jährigen noch eine generelle Anwendung des Erwachsenenstrafrechts geben, sondern es muss ein Regel-Ausnahme-Verhältnis geben, bei dem eine Überprüfung im Einzelfall durchzuführen ist und das dazu führt, dass es keinen grundsätzlichen Wertungswiderspruch gibt zwischen der Volljährigkeitsgrenze, 18 Jahre - Übernahme aller staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten -, und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit.

Wir müssen in einem weiteren Punkt reformieren. Das betrifft den so genannten Warnschussarrest. Den Jugendgerichten soll die Möglichkeit eingeräumt werden, neben der Verurteilung zu einer Jugendstrafe

(Thorsten Geißler)

auf Bewährung einen Jugendarrest zu verhängen; denn die gegenwärtige Rechtslage hat in der Praxis zum Teil kuriose Folgen. Nehmen Sie folgenden Fall: Drei jugendliche Täter begehen gemeinsam eine Straftat. Zwei haben eine günstige Prognose. Daher bekommen sie vier Wochen Jugendarrest. Der Jugendarrest wird auch vollstreckt. Der dritte hat eine negative Prognose. Was passiert? Er bekommt eine Freiheitsstrafe auf Bewährung und verlässt den Gerichtssaal als freier Mann oder als freie Frau. Der dritte Täter muss das als Freispruch zweiter Klasse empfinden. Das ist eine absurde Praxis. Das müssen wir gemeinsam durch die Einführung dieses Warnschuss- und Einstiegsarrests ändern.

Ich füge ein weiteres Argument hinzu. Es ist doch ein Irrtum zu glauben - das ist auch nicht die Praxis -, dass ein Widerruf der Bewährung bereits nach der ersten Folgetat erfolgt. Oft ergibt es zwei, drei oder vier Verurteilungen auf Bewährung. Wenn dann irgendwann die fünfte oder sechste Tat begangen worden ist, werden plötzlich alle Bewährungsstrafen widerrufen und es wird eine Gesamtstrafe gebildet. Diese ist dann im Verhältnis zu der letzten begangenen Tat zum Teil wirklich sehr hoch. Der Täter versteht die Welt nicht mehr. Der Staat hat ihn jahrelang nicht ernst genommen. Er hat sein Verhalten nie sanktioniert, aber plötzlich wird hart zugeschlagen. Das ist der falsche Weg.

Es muss auch jugendlichen Tätern von Anfang an vor Augen geführt werden, dass ihr normabweichendes Verhalten nicht akzeptiert wird, und zwar nicht brutal mit der Brechstange, sondern mit einem maßvollen Einstiegsarrest, der verdeutlicht, dass das Tun nicht folgen- und sanktionslos bleibt. Da müssen wir gemeinsam hinkommen.

(Beifall bei der CDU)

Es besteht Übereinstimmung darüber, dass nur eine Sanktion, die der Tat auf dem Fuße folgt, die gewünschte erzieherische Wirkung entfalten kann.

Man kann darüber reden, ob man das vorrangige Jugendverfahren nimmt oder ob man das beschleunigte Verfahren ausweitet, das schon jetzt bei Heranwachsenden und auch bei Erwachsenen angewandt werden kann. Wenn wir es schaffen, das vorrangige Jugendverfahren landesweit und bundesweit zu installieren, dann bedarf es keiner Gesetzesänderung. Solange es aber nur bei Modellen bleibt, ist weiterhin Handlungsbedarf gegeben.

Auch im Bereich der Kinderkriminalität gibt es natürlich Handlungsbedarf. Die PKS weist für das Jahr 1993 3.343 Kinder als Tatverdächtige aus. Für das Jahr 2002 sind es bereits 4.825. Das ist ein An

stieg um mehr als 25 %. Ich meine nicht, dass wir über die Strafmündigkeitsgrenze diskutieren müssen. Das ist nicht erforderlich. Aber wir müssen die Instrumentarien des Kinder- und Jugendhilferechts konsequent anwenden. Dazu zählt auch die stationäre Unterbringung, die geschlossene Unterbringung zur intensiven pädagogischen Einwirkung. Das geschieht in anderen Bundesländern auch, aber leider nicht in Schleswig-Holstein.

Formulieren Sie bitte Ihren letzten Satz, Herr Abgeordneter.

Sehr gern, Herr Präsident. - Wenn Sie die Strafmündigkeitsgrenze da lassen wollen, wo sie ist, dann haben Sie mich an Ihrer Seite. Aber dann erwarte ich, dass Sie die Instrumente des Kinder- und Jugendhilferechts konsequent nutzen, damit sich die innere Sicherheit im Lande endlich wieder verbessert. Sie haben bei der Bekämpfung der Kinder- und Jugendkriminalität bisher keine Erfolge aufzuweisen. Machen Sie nicht weiter das, was Sie immer tun, nämlich die Augen verschließen und nichts tun, sondern handeln Sie mit uns gemeinsam. Wir haben konkrete und konstruktive Vorschläge dazu unterbreitet.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort für die FDP-Fraktion erteile ich jetzt dem Fraktionsvorsitzenden, Herrn Abgeordneten Wolfgang Kubicki.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kriminalstatistik hat es uns erst vor kurzer Zeit wieder vor Augen geführt: Die Zahl der jugendlichen Straftäter steigt. Jeder dritte Raubüberfall und 84 % aller Diebstähle von Mopeds und Motorrädern gingen auf das Konto Jungendlicher, wahrscheinlich deswegen, weil nur diese Mopeds fahren. Es besteht also Handlungsbedarf, hat der Kollege Geißler gesagt. Eine Verschärfung des Jugendstrafrechts, Herr Kollege Geißler, ist aber der falsche Weg.

Im Übrigen müssen Sie mir irgendwann einmal erklären, warum die Vielzahl der Gesetzesverschärfungen, die wir in der Vergangenheit durchgeführt haben, bedauerlicherweise immer noch nicht zu einem

(Wolfgang Kubicki)

drastischen Rückgang der Straftaten insgesamt geführt haben.

(Thorsten Geißler [CDU]: Wann haben wir wirklich Gesetze verschärft?)

- Seit 1992 ist das Strafgesetzbuch so häufig geändert worden wie in den 100 Jahren davor nicht, Herr Kollege Geißler, und zwar mit drastischen Verschärfungen auch in der Höchststrafenandrohung, ohne dass Dramatisches passiert wäre. Ich komme darauf gleich zurück.

Für Konservative, Herr Kollege Geißler, ist die Lösung ganz einfach. Nichts liegt näher, als den starken Staat zu preisen und als sozialpolitische Maßnahme die Haftanstalten zu füllen. Anders sind die Vorschläge der unionsgeführten Länder nicht zu verstehen. Diese wollen die grundsätzliche Anwendung des allgemeinen Strafrechts auf Heranwachsende, die Anhebung der Höchststrafe auf 15 Jahre, soweit auf Heranwachsende Jugendstrafrecht angewendet wird, die Sicherungsverwahrung gegen Heranwachsende, auf die das allgemeine Strafrecht angewendet wird, und den so genannten Warnschussarrest, also den Arrest neben zur Bewährung ausgesetzter Jugendstrafe.

Darüber hinaus gibt es noch einige Verwirrte - ich weiß gar nicht, wer mir hier „Schilda“ daneben geschrieben hat -, die eine Herabsetzung der Strafmündigkeit auf zwölf Jahre verlangen. Die so denken, Herr Kollege Geißler, sind in ihrer geistigen Haltung mindestens 80 Jahre zurückgeblieben.

(Beifall bei FDP, SPD und SSW)

Mit der Einführung des JGG im Jahre 1923 wurde nämlich die Strafmündigkeit von 12 auf 14 Jahre angehoben. Vielleicht sollte man auch darüber nachdenken, warum das damals geschehen ist.

Wir halten die von Ihnen skizzierten Vorschläge für wirkungslos und dem Problem der Jugendkriminalität nicht für angemessen.

Um es kurz zu machen: Die Anhebung der Höchststrafe wird keinen einzigen Jugendlichen von einer möglichen Straftat abhalten. Kriminologisch ist anerkannt - mittlerweile zweifelsfrei anerkannt, Herr Kollege Geißler -, dass nicht die drohende Strafe, sondern vor allem das Risiko der Entdeckung abschreckende Wirkung entfaltet. Dieses Risiko erhöht sich zum Beispiel durch eine höhere Polizeipräsenz.

(Beifall bei der FDP)

Der so genannte Warnschussarrest bei Bewährungsstrafen ist nicht notwendig. Es gibt die Möglichkeit, im Rahmen der Bewährung den jungen Tätern Aufla