Protokoll der Sitzung vom 19.06.2003

Der so genannte Warnschussarrest bei Bewährungsstrafen ist nicht notwendig. Es gibt die Möglichkeit, im Rahmen der Bewährung den jungen Tätern Aufla

gen zu erteilen und so gezielter auf die weitere Entwicklung einzuwirken. In Schleswig-Holstein gibt es, Herr Kollege Geißler, bei einer Bewährungsstrafe für Jugendliche immer eine Bewährungsauflage. Ein schlauer Richter aus den neuen Bundesländern hat so zum Beispiel jungen rechtsradikalen Straftätern im Rahmen der Bewährung und für deren Zeitraum auferlegt, sich nicht mehr mit den typischen Bomberjacken und Springerstiefeln zu bekleiden. Dies zeigte erheblich mehr Wirkung auf diese Täter, als es ein kurzer Arrest je getan hätte.

(Beifall der Abgeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das wäre von diesen jugendlichen Tätern sogar noch als Auszeichnung für ihren Bekennermut empfunden worden. Die Bewährungsauflage hat deutlich mehr bewirkt, als der Jugendarrest es je hätte tun können.

Ziel des Jugendstrafrechts muss es sein, die straffällig gewordenen Jugendlichen zu einem weiteren Leben ohne Straftaten anzuhalten. Dazu müssen wir uns vergegenwärtigen, von welch einer Tätergruppe wir überhaupt reden. Herr Kollege, nur etwa 5 % der straffälligen männlichen Jugendlichen entwickeln kriminelle Karrieren. Diese begehen in der Masse 75 % aller Straftaten im Jugendbereich. Wir reden also bei den Problemfällen von einer vergleichbar kleinen Personengruppe. Dafür muss man nicht das gesamte Jugendstrafrecht verschärfen. Diese Gruppe stammt überwiegend aus problematischen Familien. Dadurch verweigern sie die Schule, starten lange Problemkarrieren und erweisen sich nachher insgesamt als schwer zugänglich für pädagogische und therapeutische Angebote.

Ich sage Ihnen: Das von uns gestern debattierte Wegweiserecht bei häuslicher Gewalt bringt zur Vermeidung der Straffälligkeit Jugendlicher, die in einem solchen Haushalt aufwachsen müssen, weitaus mehr als eine verschärfte Strafandrohung.

(Beifall bei FDP, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Denn so erfahren die Jugendlichen zum ersten Mal, dass der Staat auf Gewaltanwendung zumindest reagiert. Es macht ihnen deutlich, dass sie von dieser Gesellschaft Schutz erhalten. In der Folge werden sie sich nach unserer Auffassung loyaler zu den Regeln dieser Gesellschaft bekennen.

Erfolg versprechen könnte das so genannte vorrangige Jugendverfahren, auch Flensburger Modell genannt. Es zielt darauf ab, jugendliche Täter innerhalb von vier Wochen nach der Tat mit einer staatlichen Reaktion zu konfrontieren. Auf der Grundlage einer

(Wolfgang Kubicki)

Vereinbarung von Amtsgericht, Staatsanwaltschaft, Polizei und sozialen Diensten einer Kommune wird eine zügige Bearbeitung der Akten erreicht. Ich lege großen Wert darauf, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte immer eingeschaltet bleiben und das Sanktionenrecht nicht unterschwellig von der Polizei allein ausgeübt werden kann.

(Beifall bei FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die zeitnahe Reaktion auf eine Tat zeigt hierbei nachweislich mehr Wirkung als eine härtere Strafe. Ich meine damit aber ausdrücklich keine Übernahme des beschleunigten Verfahrens ins Jugendstrafrecht - Sie haben es gesagt, Frau Ministerin - mit den dazugehörigen Einschränkungen des Beweisantragsrechts. Das lehnen auch wir ab.

Wir sollten gemeinsam über Optimierungsmöglichkeiten im geltenden Jugendstrafrecht diskutieren, statt platt härtere Strafen zu fordern. Insofern, Herr Kollege Geißler, nehmen wir Ihr Angebot zu einer weiteren vertiefenden Diskussion, die auch bei Ihnen zu Erkenntnisgewinn führen kann, gern an. Grundsätzlich steht aber fest: Eine Lebensperspektive mit guter Bildung, Ausbildung und einer späteren Aussicht auf einen Arbeitsplatz ist die beste Präventivmaßnahme gegen Jugendkriminalität.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Ministerin, ich habe den Bereich Inneres und Recht in meiner Fraktion erst vor kurzem übernommen. Aber seien Sie gewiss, dass ich mich mit der mir eigenen Zurückhaltung auch in diesen Fragen gegenüber den innen- und rechtspolitischen Sprechern meiner eigenen Partei in den Ländern durchsetzen werde.

(Beifall bei FDP und SPD)

Ich erteile das Wort der Frau Abgeordneten Irene Fröhlich.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Rechtspolitik muss sich an der Sache orientieren und darf nicht populistisch Scheinlösungen anbieten. Wir wollen durch gezielte Einwirkung auf jugendliche und heranwachsende Straftäter weitere Taten verhindern, anstatt durch Maßnahmen wie den Warnschussarrest möglicherweise neue Straftaten zu produzieren.

Die Forderung der Union, das Strafmündigkeitsalter auf zwölf Jahre zu senken - nicht Ihre Forderung,

Herr Geißler; das habe ich mit Freude gehört -, ist purer Populismus und pädagogisch unverantwortlich.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Populismus muss an sich nichts Schlechtes sein!)

- Das finden Sie, Herr Kubicki, und das kennzeichnet Sie. Mich kennzeichnet das genau nicht.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Das ist nicht po- pulär!)

Bei Kriminologen und Praktikern stößt die Forderung auf Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters auf breite Ablehnung.

(Vereinzelter Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein 12-jähriger Straftäter - wenn man ein Kind denn so nennen will - braucht dringend konkrete Hilfen, die die Defizite in seinem sozialen Umfeld ausgleichen. Nackte Strafen haben den gegenteiligen Effekt. Sie stellen eine zusätzliche Nähe zum kriminellen Umfeld her.

Wir wollen eine Reform mit umgekehrter Stossrichtung. Bei Heranwachsenden zwischen 18 und 21 Jahren sollte zwingend das Jugendstrafrecht angewendet werden. Das Jugendstrafrecht bietet deutlich mehr Möglichkeiten, präventiv auf die Heranwachsenden einzuwirken. Die Gutachten zum Jugendstrafrecht für den 64. Deutschen Juristentag und der Bericht der Jugendstrafrechtsreformkommission der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen bestätigen uns in dieser Frage ebenso wie in Bezug auf die Beibehaltung des Strafmündigkeitsalters. Dies dient nicht nur der Entwicklung der jungen Menschen, sondern auch dem Opferschutz. In Schleswig-Holstein haben wir gerade an diesem Punkt mit dem Divergenzverfahren gute Erfahrungen gemacht.

Herr Geißler, ich finde, Sie sollten einmal Ihre eigene Diktion überprüfen. Sie haben gesagt, spektakuläre Strafvorfälle hätten eine bestimmte Debatte ausgelöst. So ist es nicht. Vielmehr stellen Sie sich sofort, wenn so etwas passiert, hin und fordern höhere Strafen.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Damit sind Sie daran beteiligt, solche Debatten auszulösen. Wie nützlich das jeweils für Ihre Sache und Ihr Anliegen ist, lasse ich dahingestellt sein. Es ist einfach falsch, wenn Sie behaupten, die Landesregierung glänze an dieser Stelle durch Nichtstun.

(Thorsten Geißler [CDU]: Wo sind die Er- folge?)

(Irene Fröhlich)

Deswegen ist es mir so wichtig, in dieser Debatte genau das vorzutragen, was es an Möglichkeiten gibt. Wir können es im Ausschuss auf seine Wirksamkeit hin untersuchen. Wir können uns auch die Einzelfälle anschauen, die Herr Kubicki hier genannt hat. Es mag sein, dass das alles notwendig ist. Wir können schauen, ob es zum Beispiel eine Verbesserung bei Institutionen für Jugendliche und in der Zusammenarbeit gibt. Das wollen wir gern tun. Aber einfach zu unterstellen, hier passiere nichts, die Landesregierung glänze durch Nichtstun und Straftaten würden nicht sanktioniert, das ist falsch. Das weise ich zurück.

Auch weitere Forderungen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden in der ganzen Debatte um die Jugendstrafrechtsreform bestätigt. So hält der Deutsche Juristentag eine Beschränkung der Jugendstrafe für 14- und 15-Jährige auf schwerste Gewaltverbrechen für erforderlich. Ich würde mich dem sofort anschließen. Der Jugendstrafvollzug soll gesetzlich geregelt werden und die Untersuchungshaft soll, ebenso wie bei Erwachsenen, auf eine spätere Jugendstrafe voll angerechnet werden. Das macht auch insofern den größeren Sinn, als nur das Erfolg versprechend zu sein scheint, was an Sanktionen sehr schnell auf die Straftat folgt.

Ebenso wurden mehr Rechte für die Opfer von Straftaten bei gleichzeitigem Ausbau der Pflichtverteidigung befürwortet.

Die Diskussion um das Jugendstrafrecht wird innerhalb von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN intensiv geführt. Im Mittelpunkt steht für uns, wie die präventiven Möglichkeiten verbessert werden können - innerhalb des Strafrechtes, aber natürlich auch außerhalb -, bevor Delinquenz entsteht.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mit dem Erziehungsgedanken steht die Prävention im Mittelpunkt des Jugendstrafrechts.

Daran werden wir festhalten. Zum Beispiel könnten die Präventionsmöglichkeiten durch Änderungen innerhalb des Sanktionensystems im Jugendstrafrecht verbessert werden. Gehäufte Straffälligkeit ist gerade bei Jugendlichen meist ein Ausdruck von sozialen Problemlagen. Daher müssen diese Probleme in den Blick genommen und Jugendliche unterstützt werden, um ein Leben ohne Straftaten zu führen. Hierzu sollten ambulante Maßnahmen Vorrang vor stationären Maßnahmen haben. Neue Sanktionen wie der von der Union geforderte „Warnschussarrest“ sind dagegen pädagogisch ungeeignet. Hier folgt die Union Alltagstheorien anstatt kriminologischen Erkenntnissen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Vorschläge des Deutschen Juristentages zeigen, dass in der nächsten Wahlperiode eine Reform des Jugendstrafrechts angegangen werden muss, um sowohl den Opfern als auch den jungen Straftätern besser gerecht zu werden. Wichtig bei der Durchführung der Maßnahmen sind Schnelligkeit, Opfer- und Tatbezug, Wertevermittlung, Erziehung und Sozialtraining.

Darum haben wir in Schleswig-Holstein einiges auf den Weg gebracht: Das vorrangige Jugendverfahren, die Diversion und nicht zuletzt das Kooperationsmodell, das zurzeit in Lübeck und in Dithmarschen läuft. Wir hoffen, dass das eines Tages diese Erkenntnisse bringen wird, die wir auf das ganze Land ausweiten können.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)

Das Wort für den SSW im Schleswig-Holsteinischen Landtag erhält jetzt Frau Abgeordnete Silke Hinrichsen.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Mehrheit der Justizministerkonferenz hat im letzten Jahr zu einer Verschärfung des Jugendstrafrechts aufgerufen. Meine Kollegen haben das ja auch schon erwähnt. Dies gibt wieder einmal Anlass zur Feststellung, dass auch eine demokratische Mehrheit nicht immer Gewähr für eine kluge Entscheidung ist. Denn aus unserer Sicht ist es Unsinn, den Problemen der Jugendkriminalität mit Mitteln wie dem Erwachsenenstrafrecht, Strafverschärfungen und „Warnschussarreste“ beikommen zu wollen.

Junge Menschen fragen in aller Regel nicht vorher nach dem höchsten Strafmaß, bevor sie eine Tat begehen. Ob die Höchststrafe nun zehn oder 15 Jahre ist, macht für sie keinen Unterschied. Der Unterschied besteht allein in der Genugtuung der Opfer und der Öffentlichkeit, wenn drakonische Strafen verhängt werden.

Die Vergeltung darf aber gerade nicht der Maßstab für das Strafrecht sein – schon gar nicht für das Jugendstrafrecht.

Wir halten weiterhin daran fest, dass der Zweck einer Jugendstrafe sein muss; die Delinquenten zu einem Leben ohne Straftaten zu erziehen.

(Der Abgeordnete Wolfgang Kubicki [FDP] befindet sich im Dialog mit anderen Abge- ordneten)

(Silke Hinrichsen)