Protokoll der Sitzung vom 19.06.2003

(Silke Hinrichsen)

- Möchten Sie vielleicht im Augenblick hier oben stehen und weiter reden? Ich kann nur sagen, mich stört das im Moment.

Eine doppelte Rednerschaft am Pult ist nicht zulässig.

Diesem präventiven Zweck kommen wir mit dem Beschluss der Justizministerkonferenz, der eine Ausweitung der freiheitsentziehenden Maßnahmen fordert, nicht näher. Denn was passiert, wenn die Jugendlichen wieder aus der Anstalt herauskommen? Sind sie dann auf einmal geläutert? – Ich bezweifele, wie im Übrigen auch die überwiegende Zahl der Fachleute, den erzieherischen Wert des Freiheitsentzuges.

Die Strafandrohung verhindert Jugendkriminalität nicht und die Jugendlichen verhalten sich nach Verbüßung der Freiheitsstrafe nicht rechtstreuer. Im Gegenteil! Die Haft kann auch kriminelles Verhalten verfestigen.

Dass wir der Justizministerkonferenz in ihrer harten Linie nicht folgen können, heißt aber nicht, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Wir nehmen die Probleme ernst. Wir glauben nur nicht, dass eine solche Verschärfung die richtige Antwort ist. Das einzig legitime Ziel von Jugendstrafrecht ist die Verhinderung von Wiederholungskriminalität. Die Forschung in diesem Bereich belegt dabei in eindrucksvoller Deutlichkeit, dass Jugendliche sich nicht von einer hohen Strafe oder Altergrenzen im Strafrecht abschrecken lassen, sondern allenfalls – wie es der Kollege Kubicki auch schon sagte – von einem hohen Entdeckungsrisiko und von einer schnellen Sanktion, die der Straftat auf dem Fuße folgt. Eine solche Wirkung lässt sich aber nicht mit reinen Verschärfungen erreichen, sondern mehr, indem das Instrumentarium zur Erwiderung und Vermeidung von Jugendkriminalität ausgebaut und weiter aufgefächert wird.

Eine schnelle Reaktion auf Straftaten sichert das vorrangige Jugendverfahren. Hier hat sich in SchleswigHolstein das „Flensburger Modell“ schon bewährt; es muss nur noch weiter ausgebreitet werden.

Eine wirklich individuell angepasste Sanktionierung ermöglichen Verfahren wie die Diversion, TäterOpfer-Ausgleich oder auch eine – schon vorhandene - bessere Zusammenarbeit von Polizei, Justiz, Jugendhilfe und sozialen Institutionen. Da wird nicht gleich mit der Keule draufgehauen, sondern der einzelne Täter möglichst optimal in seine Schranken verwiesen.

Letztlich geht es aber auch darum, Kriminalität dadurch zu verhindern, dass man ihre Wurzeln anpackt: Drogen, Armut, Gewaltbereitschaft oder die mangelhafte Integration von Jugendlichen aus Einwandererfamilien fordern nämlich mehr als eine strafrechtliche Keule.

Bei der Bekämpfung der Ursachen und Begleiterscheinungen von Jugendkriminalität geht es eben auch um eine Stärkung der Jugendhilfe und um die Verbesserung der Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen. Das sollten sich gerade auch jene vor Augen führen, die in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Krise im Sozial- und Jugendbereich extrem sparen wollen.

(Beifall beim SSW)

Beide Lager in dieser Diskussion haben eine Mehrheit auf ihrer Seite. Wir die überwältigende Mehrheit der Wissenschaft und Praxis – der Kriminologen, Juristen und Jugendgerichtshelfer -, die CDU die Mehrheit der Stammtischexperten.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Na, na!)

Was die Union hier wieder betreibt, ist Vodoopolitik. Sie sieht drakonisch aus und kann für die Betroffenen ganz schön schmerzhaft sein. Sie beschwört höhere Kräfte, die sich sachlich nicht mehr erklären lassen, sie bewirkt wenig und ist bar jeder kriminologischen Vernunft.

(Beifall beim SSW und des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

Das Strafrecht ist eine Errungenschaft unserer modernen Gesellschaft, das auf die nüchterne Wahrung der Rechte von Opfern und Tätern aufbaut und nicht auf Stimmungen. Der SSW lehnt daher die von der Ländermehrheit angestrebte sinnlose Verschärfung ab und unterstützt die Landesregierung in ihren Bemühen um eine wirklich zukunftsweisende Reform des Jugendstrafrechts.

(Beifall beim SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und vereinzelt bei der SPD)

Das Wort zu einem Kurzbeitrag nach § 56 Abs. 4 der Geschäftsordnung erteile ich Herrn Abgeordneten Dr. Trutz Graf Kerssenbrock.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gehörte zu den prägenden Erlebnissen meines Juristenlebens, aber durchaus in gesellschaftlicher Hinsicht: Als ich vor 25 Jahren – das ist leider schon so lange her –

(Dr. Trutz Graf Kerssenbrock)

beim Jugendgericht in Hamburg meine erste Referendarstation hatte, habe ich die Erfahrung gemacht, Jugendstrafrecht ist wirklich etwas anderes als Erwachsenenstrafrecht – ganz deutlich.

Wenn ich mir den gegenwärtigen Debattenstand angucke, Frau Ministerin, dann hat er sich eigentlich nicht verändert – seit jetzt 25 oder 30 Jahren. Das muss besorgt machen. Die Zahlen – der Kollege Geißler hat sie vorgetragen – sind demgegenüber gestiegen. Das muss eigentlich noch besorgter machen.

Gestern konnten wir die Meldung lesen, ein 13jähriger bewaffneter Räuber hat ein Ladengeschäft ausgeräumt. Ich plädiere ausdrücklich nicht für die Herabsetzung der Strafmündigkeit – ebenso wenig wie der Kollege Geißler.

(Detlef Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das muss noch einmal ge- sagt werden!)

Die Mitschüler meiner Kinder brüsten sich zum Teil mit erfolgreichen Diebstahlstouren, die sie hinter sich gebracht haben, damit, wie toll und wie erfolgreich sie sind.

Meine Damen und Herren, das alles sind keine Fälle für den Strafrichter und schon gar keine Fälle für den Freiheitsentzug.

(Beifall bei FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und des Abgeordneten Jürgen Weber [SPD])

Ich sage ganz deutlich: Es muss wirklich das Bestreben aller Beteiligten sein – ich halte das nicht für eine parteipolitische Frage -, den Freiheitsentzug so lange wie möglich zu vermeiden; denn dort werden sie eigentlich erst richtig angelernt.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD sowie des Abge- ordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

Das ist wirklich das Problem. Wer die die Verhältnisse in unseren Strafanstalten kennt – ich meine sie ein bisschen zu kennen -, der muss das akzeptieren, dass wir da wirklich etwas tun müssen. Das ist eine gesellschaftspolitische, nicht unbedingt eine juristische Aufgabe.

Ich glaube wirklich, dass man bei jugendlichen Straftätern – ich sage jetzt einmal, unabhängig vom Alter – sagen muss und sagen kann, es ist in der Regel das Resultat des Versagens von Familie oder auch der Nichtexistenz von Familie. Da in der Tat setzt ein großes Maßnahmenbündel an, dem wir uns zu widmen haben. Wir sind aber – wenn ich den Bericht

richtig gelesen habe, Frau Ministerin – an drei Stellen möglicherweise durchaus weiter, auch auf einem gemeinsamen Weg, den ich dann für wichtig halten würde.

Erstens. Man müsste noch ernsthafter debattieren – da hat sich etwas verschoben -, dass auch auf Heranwachsende in der Regel das Erwachsenenstrafrecht Anwendung finden müsste. An der Stelle müssten Sie sich ein Stück bewegen. Ich halte das auch von der Sache her für notwendig. Wer mit Heranwachsenden – ich sage es jetzt einmal so – zu tun hat, die Straftaten begangen haben, weiß, dass man die von Erwachsenen, von 21-, von 22-Jährigen, ernsthaft kaum noch unterscheiden kann.

Zweitens. Ich meine auch, dass Sie sich bei der Frage des Fahrverbots als einer Sanktion bewegen sollten. Nichts ist so wirksam – der Führerschein wird ja in dem Bericht als Prestigeobjekt beschrieben – wie eine solche Konsequenz in diesem Bereich. Auch hier müssten Sie sich aus meiner Sicht bewegen.

Drittens. Auch bei der Frage, dass Sicherheitsverwahrung – hier wird bei Ihnen in dem Bericht schon Bewegung erkennbar – bei ganz bestimmten, möglicherweise mit besonderem Problempotenzial behafteten jugendlichen Tätern in Betracht gezogen werden muss, um solche Fälle zu verhindern, wie sie kürzlich zu beklagen waren, muss wirklich etwas getan werden. Da bewegen Sie sich ja auch schon.

Wenn an diesen Stellen möglicherweise ein bisschen Bewegung in Gang käme, wäre im Jugendstrafrecht schon sehr viel mehr geschehen, als man es vor 30 Jahren noch zu vermuten hatte.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abgeordneten Jürgen Weber [SPD])

Zu einem Kurzbeitrag nach § 56 Abs. 4 der Geschäftsordnung erteile ich Herrn Abgeordneten Wagner das Wort.

Vielen Dank, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das ist heute eine Debatte für Juristen. Wir haben heute sehr viel juristischen Sachverstand gehört. Gestatten Sie mir, als Nichtjurist dazu eine Anmerkung zu machen. Ich habe viel über die Täter, über die Gründe ihrer Taten, über die Wurzeln ihrer Kriminalität, über soziale Prävention und über Täter-Opfer-Ausgleich gehört. All das sind Dinge, die sicherlich wichtig sind. Da sind wir einer Meinung. Was ich aus den Fraktionen - auch aus

(Joachim Wagner)

meiner - jedoch überhaupt nicht gehört habe, sind Worte zum Thema Schutz der Gesellschaft vor solchen Tätern.

Wir sind uns einig, wir reden nicht über den 13Jährigen, der irgendwo bei Karstadt eine Coladose klaut. Das ist nicht unser Thema. Frau Ministerin, wir reden hier über Probleme, die es in SchleswigHolstein - Gott sei dank - noch nicht in starkem Maße gegeben hat. Das ist aber jederzeit möglich. Denken Sie an das hier erwähnte Thema Mehmet. Denken Sie an die Autoaufbrüche in Hamburg. Das waren 30 bis 50 Fahrzeuge. Was hat man mit diesem Jungen nicht alles gemacht? Man hat ihn nach Finnland zur Erholung geschickt. Nichts hat geholfen. Völlig richtig, zur Erholung.

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Baasch [SPD])

- Ja, in der Sauna ist er wahrscheinlich auch gewesen. Trotzdem hat er weiter Fahrzeuge aufgebrochen, Herr Kollege.

(Zuruf der Abgeordneten Ursula Kähler [SPD])

- Selbstverständlich haben die Eltern. Haben Sie nicht zugehört? Mir fehlt das Thema Schutz der Gesellschaft. Ich bitte Sie und uns alle herzlich, dass wir in den Ausschussberatungen wirklich auch über dieses Thema sprechen. Das ist hier nicht ein einziges Mal geschehen. In Ausnahmefällen muss man einfach ein schärferes Instrumentarium haben. Das ist meine herzliche Bitte.

(Beifall bei der CDU)

Zu einem Kurzbeitrag nach § 56 Abs. 4 der Geschäftsordnung hat für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Abgeordnete Irene Fröhlich das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kubicki, es tut mir Leid, ich war schneller als Sie. Herr Wagner, ich habe vorhin schon überlegt, ob ich so etwas noch einbringen müsste. Ich habe aber absichtlich darauf verzichtet, weil es mir erst einmal darum ging, die sachlichen Hintergründe zum Thema Jugendstrafrecht ziemlich deutlich auseinander zu nehmen und eben gerade nicht zu viel über den sozialpädagogisch notwendigen und sachlichen, fachlichen Hintergrund zu sprechen. Wenn Sie aber fragen, wer die Gesellschaft vor diesen Kindern schützt, dann muss man eher umgekehrt fragen: Was hat diese

Gesellschaft gemacht, dass diese Kinder sie dermaßen in Gefahr bringen konnten? Gerade bei Kindern muss man diese Frage doch umdrehen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)