Protokoll der Sitzung vom 20.06.2003

Ich rufe Tagesordnungspunkt 46 auf:

Europäischer Verfassungskonvent Landtagsbeschluss vom 9. Mai 2003 Drucksache 15/2619

Bericht der Landesregierung

Ich erteile Frau Ministerpräsidentin Heide Simonis das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Vielen Dank, dass Sie zusammen mit mir hier sind, damit wir nicht so ganz allein den Nachmittag verbringen müssen.

(Beifall)

Am vergangenen Freitag hat der Europäische Konvent einen Entwurf für eine Verfassung vorgelegt und damit seine Arbeit im Wesentlichen abgeschlossen. Lediglich an Teil III der Verfassung, der konkreten Bestimmungen für die einzelnen Politikbereiche, muss noch gearbeitet werden. Eine Gesamtbewertung ist also überhaupt noch nicht möglich. Dennoch

möchte ich gern aus Sicht der Landesregierung eine Art erste Bilanz ziehen.

Im Kern geht es um drei zentrale Aspekte. Es gilt, die inneren Mechanismen der Gemeinschaft so zu gestalten, dass sie sich auch nach der Erweiterung bürgernah weiterentwickeln und effizient arbeiten können, die Funktions- und Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft zu bewahren und auszubauen und die Demokratisierung der Gemeinschaft voranzubringen, wofür insbesondere die Fragen der Mehrheitsentscheidungen und Abstimmungsmodalitäten eine wichtige Rolle spielen.

Hält man diese Maßstäbe an das an, was vorliegt, so hat der Konvent eine insgesamt erfolgreiche Arbeit geleistet.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerade auch die Bundesländer können zufrieden sein. Werden die bisher bekannten Ergebnisse am Ende bestätigt, so sind unsere Forderungen in breitem Umfang erfüllt worden. Hier nur die drei wichtigsten Punkte: Die Grundrechtecharta ist in die Verfassung integriert und damit rechtsverbindlich. Bei den Kompetenzen ist durch die Kompetenzkategorien mehr Klarheit geschaffen worden. Alle Verfassungsteile haben die gleiche Rechtsqualität mit der Folge, dass Änderungen nur durch eine Ratifizierung erfolgen können. Außerdem sind die Aussagen zur nationalen Identität erheblich ausgeweitet. Sie umfassen jetzt die grundlegende politische und verfassungsrechtliche Struktur einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltungen. Hinzu kommt noch die Achtung vor den grundlegenden Funktionen des Staates. Die Kommunen hätten sich nicht träumen lassen, dass ihre Rolle besonders herausgehoben wird. Dafür können wir dankbar sein.

Bei den Vorschlägen und Forderungen zu den einzelnen Politikbereichen fällt die Bilanz allerdings nicht ganz so positiv aus. Hier sind die Forderungen der Länder nicht in gleicher Weise erfüllt worden. Auch hier nur die wichtigsten Aspekte.

Eine Änderung der Politiken ist durch das Mandat des Konvents nicht erfasst. Damit musste die Forderung nach Präzisierung der Binnenmarktklausel ins Leere laufen. Durch die Hervorhebung des Binnenmarktes und des Wettbewerbsgedankens an prominenter Stelle in der Verfassung sind diese Aspekte sogar noch betont worden. Anstatt die Flexibilitätsklausel einzugrenzen, die bisher nur für Angelegenheiten des Binnenmarktes galt, ist ihre Anwendung auf alle Politikbereiche ausgedehnt worden, wenngleich einstimmige Entscheidungen erforderlich sind. Dagegen bleibt die

(Ministerpräsidentin Heide Simonis)

Wirtschaftspolitik Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Dies gilt auch für die Eurozone. Der Union bleibt die Aufgabe, die Koordinierung der Mitgliedstaaten untereinander sicherzustellen. Wenn Sie jetzt das Gefühl haben, dass auch Sie noch nicht alles begriffen haben, dann freue ich mich; denn auch ich habe noch nicht alles begriffen. Man muss erst im Einzelnen sehen, was mit diesem komplizierten Paragraphenwerk auf uns zukommt.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber wir sind noch nicht bei der Endabstimmung. Bis dahin kann man noch versuchen, das eine oder andere dem Bürger verständlicher zu machen. Das ist mir sowieso ein Anliegen. Wie sollen die Bürger Europa lieben, wenn sie nicht kapieren, worüber geredet wird?

(Beifall bei SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine andere Schattenseite neben dem manchmal Unverständlichen ist zum Beispiel, dass die Nationalstaaten innerhalb der Union mehr Gewicht bekommen. Dies ist insbesondere eine von Großbritannien verfolgte Perspektive. Doch wenn es zu einer Situation kommt, in der sich 25 Mitgliedstaaten in wichtigen Fragen nicht einigen können, wird die Union als Ganzes geschwächt. Es könnte zu einer gegenseitigen Blockade kommen. Hier ist konkret an die Frage der Steuerpolitik zu erinnern, die ein Land in Anbetracht seiner Sonderregelungen dazu bringt, mannhaft für den Erhalt der Einstimmigkeit zu kämpfen, um sich seine Vorteile zu erhalten, oder zum Beispiel an ein anderes Land, das in gleicher Weise für bestimmte Abstimmungsmodalitäten im Rat streitet, weil es sonst weniger Gewicht hätte.

Wenn das Prinzip des Ausgleichs von Interessen durch das der Durchsetzung von Interessen ersetzt wird, stellt sich allerdings die Gemeinschaft selber infrage.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb ist eine Gemeinschaftsmethode unverzichtbar. Sie ist der Kern der Europäischen Union. Gerade für die erweiterte Gemeinschaft ist die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit ein Schlüsselelement. Eine Gemeinschaft, die im Inneren nicht funktionsfähig ist, kann auch nach außen nicht stark sein und die Herausforderungen meistern. Hier ist die Liste sehr lang. so werden zum Beispiel Staaten in die Gemeinschaft aufgenommen, die ehemals zu einem anderen Block

system gehörten. Weitere Staaten warten auf den Beitritt. Damit wird sind natürlich auch der Charakter der Union ändern. Das birgt Chancen, aber auch Risiken.

Mit alten und neuen Nachbarn müssen im beiderseitigen Interesse Kontakte gepflegt und intensiviert werden. Die Globalisierung hat insbesondere auf den Finanzmärkten zunehmende Bedeutung erlangt und wirkt sich direkt auf die Handlungsmöglichkeiten der Nationalstaaten aus. Die Entwicklung einer internationalen Rechtsordnung stagniert und die internationalen Organisationen haben leider keinen Machtzuwachs erfahren. Neue Bedrohungen wie der internationale Terrorismus stellen uns vor Probleme, auf die wir noch keine Antwort haben, zum Beispiel eine gemeinsame Polizei und Ähnliches.

Darüber hinaus hat die Gemeinschaft eigene Interessen, die sie behaupten muss. Dazu gehören der Erhalt des europäischen Gesellschafts- und Sozialmodells, das friedliche Zusammenleben mit unseren Nachbarn oder die Entwicklung einer internationalen Rechtsordnung im Rahmen einer multipolaren Weltordnung. Hierfür muss die Europäische Verfassung den Rahmen schaffen.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Zusammenwachsen von Staaten zu einer immer engeren Gemeinschaft braucht Zeit. Weder die alten noch die neuen Mitgliedstaaten sind gegenwärtig bereit, ihre nationale Souveränität zugunsten eines europäischen Bundesstaates aufzugeben. Also müssen Reformansätze eine Balance zwischen Union und Nation wahren, wenn sie nicht scheitern wollen. Man darf die Bürgerinnen und Bürger nicht überfordern, muss ihre Bedenken und Ängste vor einem zu großen und nicht mehr überschaubaren Gebilde ernst nehmen. Nur so können die Regierungen Zustimmung gewinnen, wie zum Beispiel in den vergangenen Wochen bei den Referenden über den EU-Beitritt in Polen und Tschechien.

Die Arbeit am dritten Teil der Verfassung muss dies berücksichtigen, wenn sie Erfolg haben will. Die verschiedenen außenpolitischen Felder, der Handel, die Entwicklungszusammenarbeit, die internationalen Übereinkünfte, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Verteidigungspolitik müssen eng aufeinander abgestimmt werden. Das setzt institutionelle Regelungen voraus, die im Moment nicht ausreichend zugesichert werden können.

Die Weiterentwicklung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik muss vorbereitet werden.

(Ministerpräsidentin Heide Simonis)

Dazu gehört ein europäischer Außenminister, der mit den entsprechenden Funktionen ausgestattet ist, und zumindest in der Perspektive eine Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es darf nicht sein, wie bei der Verteidigungspolitik vorgesehen, dass es exklusive Clubs gibt, die eigenständig bestimmen, wer ihrem Kreis beitreten darf. Die sich hier wieder findende Idee eines Kerneuropas ist meiner Meinung nach falsch. Sie gefährdet nicht nur den inneren Zusammenhalt, sondern sie schwächt nach außen den Einfluss der Gemeinschaft und führt dazu, dass sich die, die nicht dabei sein dürfen, zurückgesetzt fühlen.

(Beifall bei SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Last, but not least, um die Beispiele zu beenden: Es bedarf eines abgestimmten europäischen Vorgehens in allen internationalen Organisationen, in denen Europa in der Lage ist, mit einer Stimme zu sprechen. In der Frage der Irak-Resolution haben wir das schmerzlich vermisst. Aber selbst wenn der Konvent in allen seinen Teilen eine derart mutige Vorlage entworfen hätte, bliebe es fraglich, ob die anschließende Regierungskonferenz den Entwurf unverändert übernimmt.

Die Ausgestaltung der institutionellen Ordnung der Gemeinschaft ist zum zentralen Thema der Diskussion geworden. Das ist kein Wunder, denn es handelt sich um die eigentliche Machtfrage, die in Teilen wichtiger ist als die formale Zuschreibung von Kompetenzen. Es bleibt angesichts der von den einzelnen Regierungen bereits im Vorfeld geäußerten Positionen abzuwarten, wie der Europäische Rat von Thessaloniki mit dem Entwurf umgehen wird. Eine schlechte Lösung wäre es, wenn die Ergebnisse aus den Teilen I und II des Verfassungsentwurfs nun in der Diskussion zerredet würden, weil damit die gesamte Arbeit des Konvents infrage gestellt würde.

Von entscheidender Bedeutung ist letztlich, ob sich diese Gemeinschaft zu einer politischen Union weiterentwickeln will, ob sie sich mit einer gemeinschaftlichen Regelung der Bereiche als Mindestanforderung begnügt, die für die Erhaltung der Wirtschaftskraft erforderlich sind, oder ob sie den Mut und die Kraft hat, sich über die Wirtschaftskraft hinaus mit Feldern zu beschäftigen, die Europa auch ausmachen. Das wird die Zukunft der Europäischen Union entscheiden. Auf die Formulierung einer Antwort sollte deshalb die Politik in allen Mitgliedsstaaten in den kommenden Monaten einen öffentlichen Schwerpunkt legen, damit auch die

legen, damit auch die Bürgerinnen und Bürger wissen, worüber wir uns im Notfall streiten oder streiten müssen.

(Anhaltender Beifall bei SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich eröffne die Aussprache. Für die Antragstellerin hat Frau Abgeordnete Rodust das Wort.

(Unruhe)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor die Spekulationen weitergehen, möchte ich Sie bitten, mir jetzt zuzuhören.

(Klaus Schlie [CDU]: Wir haben uns über die Abwesenheit der anderen Kabinettsmit- glieder gewundert! - Ministerpräsidentin Heide Simonis: Ich bin das Kabinett! - Hei- terkeit)

- Ich denke, wir sollten jetzt beginnen. Der Ministerrat in Thessaloniki und wir hier in Schleswig-Holstein diskutieren heute zeitgleich über den nun vorliegenden Verfassungsentwurf - einen Vertrag, der vor anderthalb Jahren von 105 überzeugten Europäern in einem kaum zu überbietenden Arbeitspensum entworfen worden ist. Diese europäische Verfassung ist eine demokratische Neubegründung. Thukydides, der größte Geschichtsschreiber der Antike, hat folgenden Satz formuliert:

„Die Verfassung, die wir haben (…), heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist."

Das werden die ersten Worte unserer europäischen Verfassung sein.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Als Union der Bürger und der Staaten wird die Europäische Union nun zum Fixpunkt einer politischen Antwort auf wirtschaftliche Globalisierung, Bedrohung für die internationale Sicherheit und Umweltzerstörung werden. Europa baut als politisches Projekt auf der kreativen Mitwirkung seiner Bürger auf. Dazu bedarf es dieser Verfassung, die Entscheidungsverfahren transparent, subsidiär und für Bürger zugänglich macht.

Der Vertag von Nizza war der Anlass für die Einberufung des Konvents. In Nizza hatten die Staats- und

(Ulrike Rodust)