Protokoll der Sitzung vom 20.06.2003

(Beifall der Abgeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Detlef Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Die Schaffung einer neuen Institution mit dem Europäischen Rat und seinem Vorsitz ist eine schmerzhafte Konzession. Aznar, Blair und Chirac wollten ein nationales Gegengewicht zum Europäischen Parlament und zur Kommission schaffen. Dank der Anstrengungen vieler Konventmitglieder ist es aber gelungen, die Rolle des Europäischen Rates - dieser neuen Institution - zu begrenzen. Dies drückt sich schon durch die geringere Amtszeit des Ratspräsidenten von zweieinhalb Jahren gegenüber dem Kommissionspräsidenten aus. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass in dieser Konstellation eine Konkurrenzsituation zwischen Rats- und Kommissionspräsidenten droht.

Es besteht die Hoffnung, dass auch die Suche nach so etwas wie einer europäischen Identität aufgrund dieser Verfassung künftig besser gelingen wird. Natürlich hat der Philosoph Habermas, der die neueste Runde der Identitätsdiskussion vom Zaun gebrochen hat, Recht, wenn er anmerkt, dass „zu sich selbst auch der findet, der weiß, was er nicht sein will“. Doch abgesehen davon, dass die von Habermas empfohlene Abgrenzung zur USA reichlich gekünzelt wäre, sind es die sinnlichen Dinge, die das Zusammengehörigkeitsgefühl weit besser befördern können als ein abstrakter Wertekanon, der gegen andere in Stellung gebracht wird.

(Beifall bei der FDP und des Abgeordneten Rolf Fischer [SPD] sowie vereinzelt bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dazu gehören auch zukünftig starke, überzeugende Repräsentanten sowie die gemeinsame Währung in der Tasche der Europäer. Starke Symbole werden

auch deshalb gebraucht, weil Europa trotz Verfassung auf lange Sicht noch ein Verband bleiben wird, aus dem die Nationalstaaten nicht wegzudenken sind. Das ist kein Nachteil - im Gegenteil, die Skepsis gegen einen ungebremsten Machtdrang Brüssels, der oftmals mit dem Begriff Harmonisierung getarnt wird, behält ihre Gültigkeit.

(Beifall bei FDP und SSW)

Homogenität und Differenz, das ist der Weg und das Ziel der Europäischen Union. Die FDP-Fraktion ist der Meinung, dass die künftige Verfassung dafür einen vernünftigen Rahmen bietet.

Jetzt möchte ich abschließend noch eine persönliche Bemerkung machen: Die deutschen Mitglieder im Konvent, Professor Meyer, Klaus Hänsch - beides bekannte Sozialdemokraten -, Elmar Brok - der ist hier auch zitiert worden als der Vertreter der Konservativen im Europäischen Rat

(Lars Harms [SSW]: So etwas gibt es? - Zu- ruf von der CDU: Christdemokraten!)

- der Christdemokraten; aber konservativ passt ja auch dazu - und Erwin Teufel als Sprecher des Bundesrates, konnten in der Konventsdiskussion einen öffentlich wahrgenommenen guten Beitrag leisten. Ich bekenne, dass ich das vor einem Jahr hier im Landtag nicht so gesehen habe. Im Gegenteil, ich hatte erwartet, dass die deutsche Stimme kaum gehört wird. Ich freue mich, dass ich mich hier geirrt habe.

(Beifall im ganzen Haus)

Das Wort erteile ich jetzt Herrn Abgeordneten Matthiessen.

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Am 13. Juni hat der Europäische Verfassungskonvent seinen kompletten Entwurf für eine gemeinsame europäische Verfassung vorgelegt. Nach eineinhalb Jahren ist die Beratung damit zu einem vorläufigen Ende gekommen. Und man ist zu einem Ergebnis gekommen, mit dem viele nicht gerechnet haben. Man kann dieses Ergebnis durchaus als historisch bezeichnen und Ulrike Rodust hat uns auch noch einmal erläutert, was für ein gewaltiger Arbeitsprozess dahinter steht.

Der Konvententwurf geht weit über den Vertrag von Nizza hinaus, aber das war auch nötig, denn gerade die Auswirkungen der Osterweiterung sind im Vertrag von Nizza wirklich zu kurz gekommen. Deshalb

(Detlef Matthiessen)

habe ich mich auch über Herrn Ritzek gefreut, der noch einmal unterstrichen hat, dass wir hier ein Instrument auch für die zukünftige EU nach der Osterweiterung erhalten haben, sodass das Ganze handhabbar bleibt.

(Beifall des Abgeordneten Rolf Fischer [SPD])

Was beinhaltet der Verfassungsentwurf? - Die Verfassung wird die EU demokratischer und angesichts der anstehenden Erweiterung auch effizienter machen. Sie wird das Niveau des Grundrechtsschutzes innerhalb der EU erhöhen, denn erstmalig wurden gemeinsame Grundrechtsartikel formuliert. Außerdem werden die Entscheidungen des Apparates der EU transparenter. Und das vorgeschlagene Bürgerbegehren macht das Ganze auch demokratischer. Bisher gab es hier nur die gemeinsamen Politiken: GAP, die gemeinsame Agrarpolitik, die zumindest finanziell das große Schwungrad war, und die GASP, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, und so weiter. Es freut mich besonders, dass es jetzt geschafft wurde, Grundrechte niederzuschreiben, die für alle EU-Bürger gelten.

Für uns ist es von besonderer Wichtigkeit, dass unter dem Begriff „Würde des Menschen“ in dem Grundgesetzartikel klargestellt wird, wieweit man mit der Gentechnologie gehen darf. In Artikel II - 3 Abs. 2 heißt es:

„Im Rahmen der Medizin und der Biologie muss insbesondere Folgendes beachtet werden:“

Und in den folgenden Unterpunkten heißt es dann konkret:

„das Verbot eugenischer Praktiken, insbesondere derjenigen, welche die Selektion von Menschen zum Ziel haben (…)“.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW sowie vereinzelt bei der SPD)

Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sich die EU in diesem Punkt festgelegt hat. Weiter ist auch das Verbot des reproduktiven Klonens genannt. Ich denke, das sind Elemente der Würde des Menschen. Ich bin auch ein bisschen stolz darauf, dass die Verfassung uns jetzt europaweit auf diese Grundsätze der Würde des Menschen festgelegt hat.

Begrüßenswert ist außerdem die Aufnahme des Nichtdiskriminierungsartikels aus dem Amsterdamer Vertrag und des Artikels zur Gleichheit von Frauen und Männern. Zu Anfang stand davon kein

Wort im Entwurf. Ulrike Rodust hat das sehr engagiert verfolgt.

(Beifall der Abgeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Der Gleichheitsartikel in Artikel 137 und 141 des Amsterdamer Vertrages bezog sich bisher ausschließlich auf Arbeit und Entgelt und er fordert jetzt endlich die Gleichheit von Frauen und Männern in allen Bereichen und lässt ausdrücklich spezifische Vergünstigungen zugunsten des unterrepräsentierten Geschlechts zu.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abgeordneten Jutta Schümann [SPD] und Lars Harms [SSW])

Der Entwurf scheint wirklich wesentlich umfangreicher zu sein als alles bisher Dagewesene - oder wie sonst sollten wir die Anti-Europaparolen aus dem Alpenvorland verstehen, die da jetzt aufkommen. Es scheint dort tatsächlich die Angst umzugehen. Reinhold Bocklet von der CSU, seines Zeichens Europaminister in Bayern, spricht von einem „Weg zum Zentralismus Brüsseler Prägung“. Weiter äußert sich Herr Bocklet über die neuen Aufgaben der EU, die sich jetzt auch auf den Sport und den Zivilschutz beziehen - was für schlimme Ziele; ich weiß gar nicht, was er dagegen hat - und damit auch in Aufgaben der Länder eingriffen.

(Klaus Schlie [CDU]: Ich denke, das ist das Problem!)

Ich denke, gerade der grenzüberschreitende Zivilschutz ist eine geradezu natürliche Aufgabe, die der EU zuwachsen sollte.

(Rolf Fischer [SPD]: Gutes Beispiel! - Bei- fall der Abgeordneten Ulrike Rodust [SPD])

Ich weiß nicht, was es dort für Ängste gibt, vielleicht ja, dass man als Freistaat nicht mehr ganz so frei sein kann. Am liebsten würde die bayerische Landesregierung wahrscheinlich selbst als eigenes Land der EU beitreten.

(Zuruf des Abgeordneten Gerhard Poppen- diecker [SPD])

Gott bewahre, muss man sagen, obwohl gerade das ja nun nicht in die Präambel mit aufgenommen worden ist.

Ich wollte noch auf das eingehen, was der Kollege Ritzek zum Thema Ausschuss der Regionen, AdR, ausgeführt hat. Wir sind sehr wohl für eine Stärkung - dazu haben wir ja auch einen parteiübergreifenden Landtagsbeschluss gefasst -, aber wir teilen nicht die

(Detlef Matthiessen)

Ansicht, dass der Ausschuss der Regionen quasi zu einem gesetzgebenden Organ ausgebaut werden sollte. Wir denken, das soll eine kritische Begleitung der EU-Politik aus der Sicht der Regionen sein, aber auch nicht mehr. Ich befürchte schlicht, man käme zu einer Überbürokratisierung, wenn man den Weg beschreiten wollte, dass man dort eigene Gesetzesvorschläge erarbeiten könnte.

(Beifall der Abgeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Lars Harms [SSW])

Gegen eigene Initiativen möchte ich nichts sagen, Anregungen an die Kommission und das Parlament, das steht jedem frei.

In der Präambel zu dem Entwurf heißt es:

„In der Überzeugung, dass ein nunmehr geeintes Europa auf diesem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl all seiner Bürger, auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will, dass es ein Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt, dass es Demokratie und Transparenz als Wesenszüge seines öffentlichen Lebens stärken und auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken wird.“

Das ist eine Sache, die wir alle sehr gut mittragen können.

Allerdings müssen wir auch ehrlich sein: Gerade im Bereich der Energiepolitik - das ist etwas, auf das ich besonders schaue - und der Atompolitik sind wir nicht ganz zufrieden, zum Beispiel im Hinblick auf den EURATOM-Vertrag. Auch dazu gibt es einen Landtagsbeschluss. Da heißt es im Anhang des Verfassungsentwurfs:

„Die Bestimmungen des Vertrages zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft müssen weiterhin ihre volle rechtliche Wirkung entfalten.“

Da bleibt also doch noch eine ganze Menge zu tun. Aber auch die Tatsache, dass es im Anhang aufgehängt ist, bietet eine Chance, zu weiteren Fortschritten zu kommen.

Für uns ist ganz klar, dass ein zukunftsfähiges Europa erneuerbare Energien und keine Atomkraft braucht. Nur noch eine Minderheit der europäischen Länder setzt auf die Energiequelle Atom. Im Bau oder bestellt oder geplant ist in Europa konkret kein einziges neues Atomkraftwerk, wenn auch zum Beispiel in Finnland politische Absichten bestehen. Wie ich jetzt

gehört habe, werden die ökonomischen Rahmenbedingungen einer Realisierung als zunehmend im Wege stehend empfunden.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)