Im Vergleich zum europäischen Ausland ist das allerdings noch eine schlechte Nachricht, denn dort liegt der Standard bereits bei 85 %. Verehrte Kollegin Franzen, irgendwann wird auch ein konservativer Bildungspolitiker feststellen, dass das, was um uns herum geschieht, eigentlich nicht so schlecht ist.
Gerade die Erkenntnisse, die Sie im Hinblick auf die Ausrichtung unseres Schulsystems in den letzten Jahren gewonnen haben, zeigen, dass Sie sich dem nähern können. Es ist für uns aber noch ein langer Weg, auch wenn wir - das können wir durchaus mit Stolz sagen - weiter sind als die meisten anderen Bundesländer.
Zum 1. Januar 2009 ist Deutschland der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen beigetreten, in deren Artikel 24 es heißt:
,,Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht der Menschen mit Behinderung auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu erreichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen...“
Entsprechend einer Empfehlung der UNESCOWeltkonferenz der Bildungsminister, die im vergangenen November in Genf stattgefunden hat, wonach die Mitgliedstaaten der UNESCO ihre Bildungssysteme nach dem Grundsatz der Inklusion gestalten sollen, steht das Jahr 2009 unter dem Motto: Jahr der inklusiven Bildung.
Im Englischen entspricht ,,inclusion“ meistens dem deutschen Begriff der Integration. Im Deutschen hat sich aber durchgesetzt, dass mit „Inklusion“ eine entscheidende Weiterentwicklung des Prinzips der Integration gemeint ist. Danach werden Kinder nicht nach ihrer sogenannten Marginalisierung we
gen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Krankheiten und Behinderung, ihrer sozialen Stellung oder aus anderen Gründen wahrgenommen, sondern jedes Kind bringt Stärken und Schwächen mit, auf die gemeinsam eingegangen wird. Gemeinsamer Unterricht in einer Regelklasse ist der Grundsatz, von dem es Ausnahmen geben kann, während nach der früheren Logik, an der die CDU noch einiges Gutes zu finden scheint, getrennter Unterricht der Regelfall war, von dem es Ausnahmen geben konnte.
Wir Sozialdemokraten vertreten das Ziel des möglichst umfassenden gemeinsamen Lernens. Weder Herkunft noch Behinderung dürfen ein grundsätzliches Argument dagegen sein.
Dabei müssen wir uns auch vor Augen führen, dass gerade die früheren Sonderschulen für Lernbehinderte lange als Auffangstation für Kinder herhalten mussten, über deren Schicksal ihre soziale oder ethnische Zugehörigkeit entschied. Man denke nur daran, wie viele Sinti- und Roma-Kinder ohne jede Not an Sonderschulen gelandet sind, womit ihre berufliche Zukunft von vornherein entschieden war.
Eine ganze Reihe von Verbänden und auch die Medien haben Formulierungen wie die vom Ende der Sonderschule geprägt. Auch bei dieser Strukturfrage sind wir einen deutlichen Schritt weiter als viele andere Länder, denn es ist nicht nur Kosmetik, wenn wir im neuen Schulgesetz von Förderzentren statt von Sonderschulen sprechen. Die aus unserer Sicht bestmögliche Perspektive für diese Schulen ist es, sich wie das schon erwähnte Landesförderzentrum „Sehen“ in Schleswig zu einer Schule ohne Schüler zu entwickeln;
das ist eine Einrichtung, die mit den Regelschulen bei der Förderung der Schülerinnen und Schüler mit Sehschädigung eng zusammenarbeitet und diese berät und unterstützt.
Wir sind uns darüber einig, dass es auch auf lange Sicht eine gänzliche Abschaffung der Förderzentren nicht geben kann, weil ein Teil der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung immer Lernvoraussetzungen mitbringt, die in einem integrativen beziehungsweise inklusiven Unterricht beide Seiten überfordern und einem Erfolg im Wege stehen würden. Aber auch in solchen Fällen muss es nicht so
sein, dass die Unterrichtung in einem Förderzentrum eine unumkehrbare Entscheidung ist. Es sollte auch dann das Ziel sein, die Rückkehr in eine Regelschule zu ermöglichen.
Ein ehemaliger Sonderschullehrer - also jemand, der es wissen muss - hat kürzlich in einem offenen Brief vor einer Umschulung von der Regelschule in das Förderzentrum Lernen mit drastischen Worten gewarnt. Ich zitiere:
„Fast alle Kinder/Jugendliche in den Förderzentren Lernen stammen aus armen und unterprivilegierten Familien. Sie sind durch die sozialen Verhältnisse in ihrer Entwicklung beeinträchtigt worden. Somit hat die ihnen zugeschriebene Behinderung in der Regel keine individuellen, sondern gesellschaftliche Ursachen. Die Sonderschullehrerinnen und Sonderschullehrer können bei allem Einsatz die Folgen der Umschulung nicht kompensieren. Der Besuch eines Förderzentrums Lernen verhilft den Schülerinnen und Schülern nicht zu besseren Leistungen, sondern führt sie vielmehr zu lebenslanger Beschämung und dauerhaft geringem Selbstwertgefühl, auch zu Frustration und Aggressionen.“
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben zum „Jahr der inklusiven Bildung“ eine Parlamentsinitiative mit einem Entwurf zur Änderung des Schulgesetzes und einem Entschließungsantrag gestartet. Sie gehen von einer Übergangszeit von lediglich drei Jahren für ihr Modell aus, in dem es keinen Unterricht mehr in Förderzentren für Kinder mit Lern-, Sprach- oder Verhaltensbehinderungen gibt. Das setzt natürlich zusätzliche Qualifikationen für die Lehrkräfte an den Regelschulen voraus und auch eine ganze Menge an baulichen Investitionen.
Diesem Zeitplan der Grünen können wir nicht folgen. Die Schulreform, die im Schulgesetz von 2007 verankert ist, verlangt von nahezu allen Schulen große Anstrengungen. Das wird sich auch in den nächsten Jahren nicht ändern.
Selbstverständlich müssen alle Lehrkräfte im Studium, in der Referendarzeit und in der Fort- und Weiterbildung auf die individuelle Förderung sowohl von Kindern mit besonderen Problemen als auch mit besonderen Begabungen trainiert werden. Das tun wir auch. Wir werden die pädagogische Kompetenz der Lehrerinnen und Lehrer auch in Zukunft
Aber das, was BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in ihrem Zeitplan - ich nenne es mal „Turbo-Inklusion“ - vorsehen, kann, fürchte ich, nicht geleistet werden. Wir müssen uns auch davor hüten, die Lehramtsausbildung, die durch die konsekutiven Studiengänge und durch den neu geregelten Vorbereitungsdienst verkürzt und verdichtet wurde, durch immer neuere Belastungen, denen keine Entlastungen gegenüberstehen, unattraktiv zu machen.
Unsere Vorstellungen sind folgende: Wir wollen einen realistischen Zeitplan, um den europäischen Durchschnitt von rund 85 % bei der integrativen oder inklusiven Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf in einem Zeitraum von zehn Jahren zu schaffen.
Um dies vorzubereiten, muss die vorschulische Prävention, besonders im Bereich der Sprachförderung und der Sprachheilförderung, verstärkt werden. Dazu sollen künftig Kindertagesstätten mit einem Förderzentrum zusammenarbeiten.
An den bisherigen Förderzentren „Lernen“ sollen zunächst die beiden ersten Jahrgangsstufen der Eingangsphase auslaufen, und frühestens zum dritten Jahrgang soll die Aufnahme eines Kindes in ein Förderzentrum beschlossen werden. Die Förderzentren sollen sich schrittweise darauf orientieren, zur Schule ohne Schüler zu werden und mit den Regelschulen zusammenzuarbeiten.
Der Übergang von Kindern mit besonderem Förderbedarf in die Sekundarstufe I muss der Regelfall, nicht die Ausnahme werden. Erfahrungen haben gezeigt, dass dies an allen Schulen grundsätzlich möglich ist, auch an Gymnasien.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wir sind uns mit Ihnen in der Zielperspektive einig, nicht aber über den Weg dorthin. Wir werden über diesen Gesetzentwurf im Bildungsausschuss diskutieren, und ich habe doch die Hoffnung, dass wir in der Diskussion noch zu einer gemeinsamen Lösung finden werden.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Schleswig-Holstein werden rund 45 % der Förderschüler integrativ in Regelschulen unterrichtet. Der Anteil liegt damit dreimal so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Man kann daher feststellen, dass unser Bundesland in Sachen inklusiver Bildung bereits sehr weit vorangeschritten ist und seit den 90er-Jahren hierzu auf breite Erfahrungen zurückblicken kann. Dies betrifft sowohl die Chancen und Möglichkeiten als auch die Probleme und Grenzen integrativer Beschulung. Wenn man nicht beide Seiten gleichermaßen betrachtet und sachgerechte Lösungen entwickelt, wird man am Ende das Ziel, auch jungen Menschen mit sonderpädagogischen Förderbedarfen gute Bildung und damit Wege zu gesellschaftlicher Teilhabe zu eröffnen, komplett verfehlen. „Gut gemeint“ ist bekanntlich manchmal das Gegenteil von „gut“, und das gilt gerade auch bei diesem Thema, über das wir heute sprechen.
Ein zentraler Ausgangspunkt sind dabei die Rahmenbedingungen, unter denen integrative beziehungsweise inklusive Bildung stattfindet. Dazu zählen gesicherte Ansprüche auf eine ausreichende Zahl von Lehrerstunden, die durch Speziallehrkräfte, also Sonderpädagogen, erteilt werden, dazu gehören Lerngruppengrößen, die für alle Schüler eine individuelle Förderung ermöglichen, sowie räumliche Voraussetzungen, die auch schwierige Integrationsprobleme lösbar machen. Ist all dies nicht gewährleistet, wird Integration alias Inklusion im schlimmsten Fall zu einer Form billiger Beschulung, die alle beteiligten Schülerinnen und Schüler zu Verlierern macht.
Die vom Bildungsministerium jährlich vorgelegten Berichte zur Unterrichtsversorgung zeigen mit aller Deutlichkeit, wo auch hier im Land die Probleme liegen.
Nehmen wir die letzten verfügbaren Daten, Schuljahr 2007/2008, aus dem Bericht zur Unterrichtsversorgung: integrative Maßnahmen 6.827 Schüler, rund 11.500 Lehrerwochenstunden als Extrazugabe für sonderpädagogische Förderung. Das sind pro Schüler im Schnitt rund 1,7 Extrawochenstunden. Zehn Jahre vorher, Schuljahr 1997/1998: 3.342 Schüler bei knapp 6.800 Lehrerwochenstunden. Teilt man diese Zahlen, kommt man auf einen Durchschnitt von 2,1 Extrastunden pro Schüler.
Vor zehn Jahren war die zusätzliche Stundenzuteilung also deutlich besser, als sie jetzt ist. Die Lehrer, die die Anfänge der integrativen Beschulung zu Beginn der 90er-Jahre in Schleswig-Holstein noch kennen, sagen: Damals war es üblich, dass man im Schnitt drei Wochenstunden extra bekam. Wenn man das zugrunde legt, hat man praktisch eine Halbierung der im Durchschnitt zugeteilten Ressourcen pro Kind in dem Zeitraum von knapp zwei Jahrzehnten festzustellen.
Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund gewinnen die Forderungen der Grünen binnen drei Jahren eine hundertprozentige Integration erreichen zu wollen, irgendwie einen sehr schalen Beigeschmack.
Meine Damen und Herren, von dem Ansatz, ein bestimmtes Plansoll zu definieren und dann auch noch kurze Umsetzungsfristen festzulegen, halten wir Liberale soundso nichts. Wenn solche Ziele dann auch noch vor dem Hintergrund einer real rückläufigen Zuteilung von Personalressourcen proklamiert werden, ist das grob fahrlässig und schadet die Bildungschancen aller Kinder,
sowohl derjenigen mit besonderem Förderbedarf als auch der übrigen Kinder, die in Integrationsklassen auch einen Anspruch auf ihnen zukommende individuelle Förderung haben.
Die Grünen nennen drei Gruppen, für die sie bis 2012/13 die Möglichkeit zu gesondertem, das heißt stationärem Unterricht in Förderklassen, komplett abschaffen wollen: Das sind die Gruppen der Schüler mit Lern-, Sprach- und Verhaltensbehinderungen.