Protokoll der Sitzung vom 08.05.2009

(Beifall der Abgeordneten Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Auch für die EU gilt der Satz: Die Wirtschaft ist für die Menschen da und nicht umgekehrt.

(Beifall bei der SPD)

Die europäische Integration hat schon viel erreicht. Sie ist aus einer Wirtschaftsgemeinschaft entstanden, die über die ökonomische Integration eine politische Gemeinschaft erreichen will. Der erste ökonomische Abschnitt war erfolgreich. Das zeigt übrigens auch die aktuelle Weltfinanzkrise. Kein Land allein ist in der Lage, die Probleme zu lösen. Beim zweiten Abschnitt, dem Aufbau einer politischen Gemeinschaft, sind wir schon weit gekommen. Die bevorstehende Wahl zum Europaparlament ist ein wichtiger Bestandteil für eine funktionierende Demokratie in Europa. Aber wir müssen auch den dritten Teil vollenden, die Stärkung des sozialen Europas, ein Europa, in dessen Mittelpunkt die Menschen und nicht nur die Märkte stehen.

Doch was ist ein soziales Europa? Jeder hat eine andere Definition davon. Für die einen gehört zum

(Minister Uwe Döring)

sozialen Europa ein starker Staat, der eingreift und alles entscheidet, für andere soll alles der Markt regeln. Ich bin davon überzeugt: Wir werden zwischen beiden Positionen eine sinnvolle Balance finden müssen. Wie diese austariert werden soll, darüber werden wir noch lange diskutieren müssen. Aber wir müssen dies erreichen.

Was könnten die Kernpunkte eines sozialen Europas sein? Aus meiner Sicht kann ich Ihnen dazu einige Vorschläge machen.

Wir brauchen grenzüberschreitende Arbeitnehmerrechte.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Je stärker Unternehmen europaweit und global handeln, desto bedeutender wird es, dass Arbeitnehmerrechte nicht an nationalen Grenzen haltmachen.

Wir brauchen einen europäischen Pakt gegen Lohndumping. Die Menschen, ganz gleich, wo in Europa sie wohnen, müssen von ihrer Arbeit leben können.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen einen sozialen Stabilitätspakt mit Zielen und Standards über die jeweiligen Sozialund Bildungsausgaben, die sich dann allerdings auch an den jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeiten zu orientieren haben. Damit die Mobilität, die Freizügigkeit von Menschen nicht ein reines Lippenbekenntnis bleibt, müssen wir letztlich, was die Sozialsysteme anbelangt, dafür sorgen, dass wir möglichst viel harmonisieren, dass Ansprüche der sozialen Sicherung mitgenommen werden können.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Wenn ich das nicht habe, habe ich eine faktische Schranke. Das heißt, wenn ich das will, dass sich Menschen in diesem Binnenmarkt frei bewegen können - ich bin sehr dafür -, darf es für sie dadurch keine persönlichen Nachteile geben. Wenn das der Fall ist, werden sie es nicht tun.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Wir brauchen eine bessere Koordinierung der Wirtschafts-, der Finanz- und der Geldpolitik. So könnte zum Beispiel die Europäische Zentralbank neben der Wahrung von Preisstabilität auch die Förderung von Wachstum und Beschäftigung als gleichgewichtiges Ziel verfolgen, wie wir das früher von der Bundesbank kannten. Das Wirtschaften im europäischen Binnenmarkt muss nach fairen Re

geln verlaufen. Steuerdumping darf es genauso wenig geben wie Lohndumping.

Schließlich: Wir brauchen bessere Rechtsetzung. Der Abbau überflüssiger Regelungen ist äußerst sinnvoll. Darüber haben wir hier auch mehrfach gesprochen. Aber es müssen ordnungspolitische Funktionen aufrecht erhalten bleiben. Es kann nicht die völlige Deregulierung sein. Aber was überflüssig ist, was hemmt, muss entsprechend abgeschafft werden.

Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Stichpunkte, die ich hier anführen könnte. Eines aber sollten wir nicht vergessen: Das zentrale Europa ist das zentrale Zukunftsprojekt der Europäischen Union im 21. Jahrhundert. Es braucht das Fundament einer engagierten europäischen Bürgergesellschaft, denn es ist ein Projekt aller 500 Millionen Menschen in Europa, einer der größten Demokratien in der Welt. Deshalb ist es auch so wichtig, dass die Menschen im Juni zur Wahl des Europäischen Parlaments gehen. Auch wenn wir alle unterschiedliche Auffassungen davon haben, wer denn gewählt werden soll, sollten wir alle gemeinsam dafür sorgen, dass gewählt wird. Das Wesentliche ist, dass wir eine hohe Beteiligung haben.

(Beifall bei SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wenn wir eine hohe Beteiligung haben, kann es zu einem entsprechend hohen Gewicht kommen. Insofern haben wir alle eine gemeinsame politische Verantwortung.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf weitere Beratungen in den Ausschüssen.

(Beifall bei SPD und CDU)

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPDFraktion hat Herr Abgeordneter Rolf Fischer.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern trafen sich in Prag zu einem europäischen Beschäftigungsgipfel leider nur sehr wenige europäische Staaten. Es ist gut, wenn man miteinander redet, noch besser wäre es gewesen, wenn konkrete Maßnahmen beschlossen worden wären. Auch das ist nicht der Fall. Das ist enttäuschend, denn die Zeit drängt.

Noch immer ist die Frage der Arbeitszeiten chaotisch geregelt; noch immer gibt keinen Schutz

(Minister Uwe Döring)

schirm für Beschäftigung; noch immer sind die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unzureichend geschützt. Weil das so ist, brauchen wir das soziale Europa, brauchen wir ein Europa, in dem die Menschen und nicht die Märkte im Mittelpunkt stehen. Der Minister hat es gesagt. Das ist der Zusammenhang, in den ich unsere Große Anfrage stellen möchte.

Wir wollen, dass Europa Träger einer neuen Hoffnung, eines neuen Versprechens wird: Wir wollen ein sozial gerechtes und solidarisches Europa mit starken Bürgerrechten und verbindlichen Rechten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Solange dies nicht erfüllt ist, werden die Menschen die Chancen, die Europa ihnen bietet, nicht erkennen, und vor allem werden sie sich nicht mit Europa identifizieren.

Ein Europa, in Frieden geeint, politisch stark, sozial und demokratisch erfolgreich, das ist unsere sozialdemokratische Antwort auf die neue soziale Frage im 21. Jahrhundert. Gerade die Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt: Europa braucht nicht weniger, Europa braucht mehr Europa! Deshalb ist die Europawahl in vier Wochen auch eine Richtungswahl. Deshalb ist sie so wichtig. Wir wollen, dass sie zu einem Signal des Aufbruchs für ein starkes und soziales Europa der Zukunft wird.

Europa wurde in der Vergangenheit fast ausschließlich wirtschaftlich definiert, von der Montanunion bis zur Wirtschaftsgemeinschaft, vom Binnenmarkt bis zu den unsäglichen EuGH-Urteilen zur Tariftreue. Heute wissen wir, dass diese Einseitigkeit zulasten der Menschen geht. Die Bürger wissen dies auch. Die Antwort der Landesregierung zeigt, inwieweit Europa auf Schleswig-Holstein zum Beispiel in der Frage der Tariftreue gewirkt hat. Das wird ganz deutlich. An dieser Stelle darf ich dem Minister und vor allen Dingen dem Ministerium herzlich für die Antwort danken.

(Beifall bei SPD und CDU)

Weil das so ist, stellen die Menschen zu Recht Bedingung an dieses Europa, Bedingungen, die wir aufnehmen wollen und müssen.

Ich sage deutlich: Das fällt uns Sozialdemokraten leicht, denn unsere Vorstellungen von Europa entsprechen genau diesen Bedingungen: Wir wollen, dass Wirtschaften auch auf europäischer Ebene in eine soziale und politische Ordnung eingefasst ist. Auch im europäischen Binnenmarkt müssen soziale und ökologische Regeln gelten.

Wenn wir eines zurzeit erfahren, dann ist es doch dies: Die Märkte und ihre Macher, die immer den individuellen Profit vor das Gemeinwohl gesetzt haben, sind gescheitert.

(Beifall bei der SPD)

Weil das so ist, müssen wir gleichwertig - ich betone: gleichwertig! - neben die reine Wirtschaftsund Währungsunion eine neue starke und funktionstüchtige Sozialunion stellen.

(Beifall bei der SPD)

Das ist übrigens nicht nur unser politisches Ziel, das ist auch eine europäische Tradition.

Sozialstaatlichkeit ist die richtige Antwort auf die Globalisierung. Sie ist eine europäische Antwort, und wir wollen sie weiterentwickeln. Wir sagen deutlich: In Europa dürfen nicht soziale Mindeststandards regieren, sondern wir brauchen das höchstmögliche Maß an sozialem Schutz.

So tragisch es ist, dass aus vielen europäischen Milliardären mittlerweile nur noch Millionäre geworden sind, so tragisch es ist, dass die Gehälter der Vorstandsvorsitzenden großer Firmen plötzlich öffentlich diskutiert werden, so sehr hält sich allerdings auch mein Mitleid in Grenzen. Denn weit tragischer ist das Steigen der europäischen Arbeitslosenquote, weit tragischer ist die damit verbundene Armut vieler Menschen, und weit tragischer ist, dass es auf der europäischen Ebene viel zu wenig Möglichkeiten gibt, dagegen anzugehen. Deshalb brauchen wir einen europäischen Pakt für Arbeit.

(Beifall bei der SPD und der Abgeordneten Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN])

Deshalb wollen wir den Ausbau der Arbeitnehmerrechte. Deshalb brauchen wir starke europäische Betriebsräte. Deshalb stärken wir die Tarifautonomie, und zwar in allen Staaten Europas.

(Beifall bei der SPD)

Dass in diesen Zusammenhang auch der gesetzliche Mindestlohn für Deutschland gehört, der in Europa längst Standard ist, ist ebenso selbstverständlich wie richtig.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Ohne diese Instrumente wird es kein soziales Europa geben. Als unser Spitzeneuropäer Martin Schulz jüngst darauf hinwies, dass sich der Franzose Sarkozy im Europaparlament wie Karl Marx im Exil anhöre, wurde noch etwas anderes sehr deutlich:

(Rolf Fischer)

Wenn die Konjunktur schwächelt, dann sind plötzlich alle - oder fast alle - sozial.