Protokoll der Sitzung vom 13.10.2006

(Vereinzelter Beifall bei SPD und CDU)

Wir in Schleswig-Holstein sind das einzige Bundesland, das ein flächendeckendes Konzept eines Frühwarnsystem auf den Weg gebracht hat. Ich verhehle aber nicht, dass das nicht ausreicht, wenn wir sichere Strukturen in der Kinder- und Jugendhilfe auf den Weg bringen wollen. Deswegen begrüße ich es, dass wir im Ausschuss auch über die speziellen Aspekte von Inobhutnahme sprechen, über die Situation der allgemeinen soziale Dienste und uns vergegenwärtigen, dass auf Landesebene Fortbildungsreihen wie zum Beispiel Kindeswohlgefährdung und allgemeiner sozialer Dienst unabdingbar sind, um unseren Teil dazu beizutragen, dass die Qualität der Angebote in unserem Land stetig verbessert wird.

Ich werde jedenfalls nicht nachlassen, die Lebenssituation vernachlässigter und von Gewalt betroffener Kinder zum Gegenstand weiterer politischer, fachlicher und persönlicher Anstrengungen zu machen. Ich freue mich, dass wir in Schleswig-Holstein bei öffentlichen, bei freien Trägern, hier im Parlament und auch in der Öffentlichkeit auf positive Resonanzen, vor allen Dingen auf große Mitwirkungsbereitschaft stoßen. Ich wünsche mir - ich glaube, im Namen aller -, dass zurzeit kein schleswig-holsteinisches Kind ein solches Schicksal durchleiden muss, wie wir es gerade wieder bei dem aktuellen Fall Kevin haben erfahren müssen.

(Beifall bei SPD und CDU)

Ich danke der Frau Ministerin - auch für die Entschuldigung. Das tut dem Landtag gut und es kann passieren.

Es ist Ausschussüberweisung beantragt worden. Der Bericht der Landesregierung, Drucksache 16/830, soll dem Sozialausschuss überwiesen werden. Zur abschließenden Beratung?

(Zurufe: Ja!)

- Er soll zur abschließenden Beratung überwiesen werden. Wer so beschließen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? Dann ist die Überweisung beschlossen.

Wir setzen die Tagung um 15 Uhr mit dem Tagesordnungspunkt 38, Frühförderung in SchleswigHolstein, fort. Ich wünsche Ihnen eine gute Mittagspause.

Die Sitzung ist unterbrochen.

(Unterbrechung: 13:07 bis 15:01 Uhr)

Wir setzen die Sitzung fort. Ich rufe Tagesordnungspunkt 38 auf:

Frühförderung in Schleswig-Holstein

Bericht der Landesregierung Drucksache 16/928

Ich erteile der Ministerin für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren, Frau Dr. Gitta Trauernicht, das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu Beginn des Jahres hat die Landesregierung einen Bericht über die Schuleingangsuntersuchungen des kinderund jugendärztlichen Dienstes in Schleswig-Holstein veröffentlicht. Der Bericht enthält einige beunruhigende Zahlen. Rund 8 % der Kinder zeigten Verhaltensauffälligkeiten. Bei jeweils 16 % der Kinder wurden Sprach- oder Koordinierungsstörungen festgestellt, dies überwiegend mit steigender Tendenz.

Die beispielhaften Werte beschreiben Entwicklungen im ganzen Bundesgebiet. Ich bin mir mit allen Verantwortlichen in den Kommunen darin einig, dass diese besorgniserregende Entwicklung nicht hingenommen werden darf. Wir können etwas dagegen tun. Wir lassen die Kinder und die Familien mit ihren Sorgen nicht allein. Es ist ganz wichtig, dass wir die Kinder und Familien erreichen. Mit der Frühförderung haben wir ein wirksames Instrument, Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen zu helfen.

Mir ist wichtig, dass bei den Hilfen eine ganzheitliche Betrachtung unter Einschluss der Gesamtentwicklung des Kindes und seines familiären Umfeldes im Vordergrund steht. Das war auch Thema der Debatte von heute Morgen und ist auch jetzt wieder Thema. Oft ist es sinnvoll, in einem einzigen Förderplan heilpädagogische und medizinisch-therapeutische Leistungen - zum Beispiel logo- oder ergotherapeutische Leistungen - zusammenzuführen.

Die Kreise und kreisfreien Städte nehmen gemeinsam mit den Leistungserbringern diese Verantwortung in der Frühförderung wahr. Wir haben in Schleswig-Holstein heute insgesamt knapp 60 Frühförderstellen und damit, wie wir meinen, ein flächendeckendes, wohnortnahes Netz an heilpädagogischen Angeboten. Das ist im Prinzip ein erfreulicher Status.

(Ministerin Dr. Gitta Trauernicht)

Ich begrüße sehr, dass sich in einigen Regionen des Landes bereits zukunftweisende Ansätze einer interdisziplinären Zusammenarbeit der unterschiedlichen Professionen und Institutionen entwickelt haben. Von dort kommt die Ansage, dass es keinen weiteren Entwicklungsbedarf gibt. Aber wir sehen den Entwicklungsbedarf mit Blick auf das gesamte Land doch. Da gibt es deutliche Unterschiede in den Qualitäten der Frühförderung.

Wir wollen, dass das, was in Ansätzen praktiziert wird, nämlich die Einführung der Komplexleistung Frühförderung, für das ganze Land entwickelt wird. Diese Leistungsform bedeutet für die Eltern Leistungen verschiedener Träger aus einer Hand. Ich will das noch deutlicher machen.

Erstens erspart das den Eltern die oft mühsame Arbeit des Zusammensuchens von Teilleistungen bei den verschiedenen Rehaträgern und Leistungsanbietern. Wer das einmal selber mitgemacht hat, weiß, wovon ich spreche.

Zweitens gibt das Komplexangebot den Eltern Sicherheit. Denn die Vielfalt der therapeutischen Angebote auf dem Markt irritiert viele, die Hilfe suchen. Sie bekommen so Transparenz und Unterstützung.

Drittens sind in der Komplexleistung die einzelnen Bausteine besser aufeinander abgestimmt und tragen damit zu einer wirkungsvolleren Hilfeplanung und Leistungserbringung bei.

(Beifall der Abgeordneten Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Es gibt für die Komplexleistung Frühförderung bundesrechtliche Vorgaben. Diese sind leider äußerst kompliziert. Manche sagen sogar, sie seien rechtlich so unklar, dass es nicht verwunderlich sei, dass landauf, landab große Schwierigkeiten bestehen, zu einer Verständigung zu kommen.

Wir in Schleswig-Holstein haben als Land die Aufgabe, die Reha-Träger bei der Erarbeitung einer Landesrahmenvereinbarung für die Frühförderung zu unterstützen. Wir tun dies mit hohem Engagement und Aufwand seit mehr als einem Jahr. Aber unsere Aufgabe und Rolle ist nur die der Moderation und des Treibens. Deswegen bin ich froh, jetzt wenigstens einen bemerkenswerten Zwischenschritt verkünden zu können, dass sich nämlich die Vertragspartner in vielen Grundfragen einig sind. Aber es gibt noch keine letzte Einigung in der Frage der Finanzierung. Dies ist natürlich ein ganz entscheidender Punkt.

Ich begrüße außerordentlich, dass sich die gesetzlichen Krankenkassen zu einer quotalen Mitfinanzie

rung der Komplexleistung Frühförderung bereit erklärt haben. Ich bin sicher, dass dieses positive Signal den Abschluss einer Landesrahmenempfehlung Frühförderung Schleswig-Holstein entscheidend voranbringen wird. Aber ich sage auch: Es ist ein äußerst mühsamer Prozess. Ich wünschte mir, dass sich die an diesem Vorhaben Beteiligten an einen Tisch setzten und die Tür erst wieder aufginge, wenn sie wirklich zu einer Lösung gekommen sind.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber die Verfahren sind leider häufig nicht dementsprechend, sondern so, dass man immer wieder auseinandergeht, um dann den nächsten Schritt zu tun. Nichtsdestotrotz habe ich bei den Krankenkassen mit Nachdruck für die Aufmerksamkeit gegenüber diesem Thema und für die Bereitschaft zu einer Kooperation mit anderen Leistungsträgern geworben.

Unser Ziel muss also sein, in den Regionen des Landes Strukturen zu schaffen, in denen die unterschiedlichen Leistungssysteme der Frühförderung von Kindern vernetzt zusammenwirken und ineinandergreifen. Wir alle wissen, dass nur auf diese Weise den betroffenen Kindern und Eltern eine schnelle, unbürokratische, wirklich optimale Unterstützung zuteilwird.

Vor diesem Hintergrund haben wir noch eine Aufgabe vor uns, nämlich den Landesrahmenvertrag zu einem Abschluss zu bringen. Ich fordere alle Beteiligten noch einmal auf - auch angesichts dieser Landtagsdebatte -, das Projekt zu unterstützen. Ich erwarte engagierte Beiträge von allen Seiten und dass dieser politische Wille des Landes so ernst genommen wird, dass noch in diesem Jahr der Abschluss auf dem Tisch liegen wird.

(Beifall bei SPD und CDU)

Ich eröffne die Aussprache. Für die antragstellende Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erteile ich der Frau Abgeordneten Monika Heinold das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Ministerin, vielen Dank für den Bericht, zumindest für den ersten Teil des schriftlich vorgelegten Berichts. Zu dem zweiten Teil habe ich erhebliche Kritik zu üben.

Die Landesregierung stellt dar, was sich seit der Änderung des Sozialgesetzbuches IX verändert hat. Die neuen rechtlichen Rahmenbedingungen für die

(Ministerin Dr. Gitta Trauernicht)

frühe Förderung von Kindern - darauf sind Sie eben eingegangen - werden im Bericht ausführlich dargestellt. Hier geht es insbesondere um die Komplexleistung, um die neuen interdisziplinären Frühförderstellen, die sowohl die medizinischen als auch die heilpädagogische Leistungen erbringen.

Ziel ist, die Angebote für Familien einfacher und transparenter zu gestalten und den Verschiebebahnhof zwischen den Kostenträgern zu beenden. Leider ist dieses Ziel in Schleswig-Holstein noch nicht umgesetzt. Deshalb begrüßen wir, dass sich die Landesregierung - sie hat es eben noch einmal dargestellt - dafür einsetzt, dass die Landesrahmenempfehlung in Schleswig-Holstein endlich umgesetzt wird. Wir appellieren dringlichst an die Leistungsträgerkommunen, aber auch an die Krankenkassen, sich zu verständigen und sich zu einigen, damit die Familie vor Ort die Hilfe bekommt, die sie braucht. Eltern und Träger warten dringendst darauf; das ist zumindest bei meinen Gesprächen vor Ort so herausgekommen.

Enttäuschend ist, dass die Landesregierung den zweiten Teil unseres Berichtsantrags nicht beantwortet hat. Die Landesregierung hat keine Kenntnisse über die Praxis der Frühförderung in Schleswig-Holstein. Sie beabsichtigt auch nicht, diese einzuholen.

Dies alles erinnert mich an den Bericht, den wir zu den Kindertagesstätten bekommen haben. Ich erinnere mich an den Krippenbereich. Die Kreise hatten dazu gesagt, der Bedarf sei gedeckt. Auch die Landesregierung berief sich darauf, dass die Kreise darauf hingewiesen haben, dass der Bedarf gedeckt sei. Dazu haben wir im Sozialausschuss inzwischen aber eine Verständigung herbeigeführt. Wir haben dort beschlossen, dass noch einmal an die Kommunen mit der dringlichen Bitte herangetreten wird, uns den Iststand zu melden und zu begründen, wie sie zu ihrer Erkenntnis kommen.

Ich rege an, dass wir im Bereich der Frühförderung noch einmal an die Kreise herantreten. Es darf nicht sein, dass sie in einem so wichtigen Feld nicht wissen, wie vor Ort gearbeitet wird. Im Bericht wird gesagt, die Kommunen hätten innerhalb der kurzen Zeit die Daten leider nicht ermitteln können. Frau Ministerin, es ist ein übliches parlamentarisches Verfahren, dass in einem solchen Fall die antragstellende Fraktion - das sind wir - gefragt wird, ob es nicht ein, zwei oder drei Monate länger dauern kann. Wir hätten gewartet. Wenn wir als Land im Bereich der frühen Hilfen beziehungsweise bei der Frühförderung von Kindern, die von Behinderungen bedroht oder behindert sind, vorankommen wollen, dann müssen wir wissen, wie es vor Ort

aussieht. Hier muss der Sozialausschuss nacharbeiten.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Wenn es uns nicht gelingt, die Frühförderung vernünftig auszubauen, kommt es dazu, dass wir in der Schule, in der Jugendhilfe, aber auch später auf dem Arbeitsmarkt die Folgekosten zahlen müssen, und an diesen oft teuren Folgekosten werden sich dann auch die Kommunen beteiligen müssen.

Meine Damen und Herren, wir müssen alles tun, damit Eltern die Hilfen, die sie brauchen, auch erhalten. Wir haben uns heute Morgen darüber unterhalten, wie wir mit Eltern umgehen, die von sich aus keinen Hilfebedarf melden. Wir haben uns darüber unterhalten, wie wir diese Kinder aufspüren und die Eltern begleiten.

Bei der Frühförderung finden wir zum Teil eine andere Situation vor: Eltern suchen die Hilfe, bekommen sie aber nicht, weil die Jugendämter kein Geld haben. Kindertagesstätten melden den Jugendämtern Hilfe, aber das Jugendamt sagt: Das Kind hat nur zwei Defizite, muss aber drei aufweisen, damit ihm geholfen wird. Diese Situation vor Ort muss verändert werden und deshalb hoffe ich, dass wir im Sozialausschuss gemeinsam beschließen, die Jugendämter und Kreise noch einmal anzuschreiben, um die Situation vor Ort abzufragen. Denn nur dann, Frau Ministerin, haben auch die weiteren Projekte Sinn. Sie haben - so viel ich weiß - fürs nächste Jahr Mittel in Höhe von 1 Million € für die Frühförderung und weitere Hilfen für Menschen mit Behinderung eingeworben. Diese können wir aber nur einsetzen, wenn wir wissen, was im Land los ist. Also, es bedarf der Nacharbeit im Sozialausschuss.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)