Protokoll der Sitzung vom 15.06.2005

Vielen Dank der Frau Abgeordneten Anke Spoorendonk. - Ich erteile für die Landesregierung Herrn Europaminister Uwe Döring das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal kann ich feststellen, dass wir in der Debatte sehr viel Übereinstimmung haben. Das ist zunächst einmal positiv. Diese Gemeinsamkeit besteht allerdings im Allgemeinen. Wenn man ins Detail kommt, merkt man doch den einen oder anderen Unterschied.

(Dr. Ekkehard Klug [FDP]: Das ist auch nicht schlimm!)

- Das ist nicht schlimm, nein, im Gegenteil, Herr Klug. Das belebt es ja. Was wir in der Vergangenheit vielleicht gemacht haben, ist, dass wir die Europapolitik mit zu viel Harmoniesucht betrachtet haben.

(Beifall bei SPD und FDP)

Dadurch fehlte eine entsprechende Profilschärfung, weil wir alle in den Sonntagsreden lediglich hervorgehoben haben, wie schön Europa ist. Das ist es ja auch. Aber um das konkret umzusetzen, müssen wir sagen, auch in der Europapolitik gibt es Unterschiede und die darf man artikulieren, ohne deswegen ein schlechter Europäer zu sein. Darüber müssen wir streiten wie in allen anderen Politikbereichen.

Meine Damen und Herren, nach den Referenden in Frankreich und den Niederlanden ist die EU zwar ins Schlingern geraten, aber sie ist nicht aus der Bahn

(Minister Uwe Döring)

geworfen. Ich denke, da gibt es eine allgemeine Übereinstimmung. Wir brauchen vielleicht sogar diesen heilsamen Schock. Ich darf das sagen, weil ich auch einmal Abgeordneter war: Zu der Zeit, als ich Abgeordneter war, war bei Europadebatten das Plenum nicht so voll. Da mag es auch einmal sein, dass ein heilsamer Schock den einen oder anderen dazu treibt, dass Europapolitik keine Nischenpolitik ist, sondern eine Querschnittsaufgabe.

(Beifall bei SPD, CDU und FDP)

Wir dürfen nicht in eine europapolitische Schreckstarre verfallen. Wir müssen das die Situation nutzen und die Aufmerksamkeit, die für das Thema Europapolitik jetzt vorhanden ist; wir müssen sie für Europa und für die Zukunft nutzen. Dabei spielt das eine Rolle, was in den nächsten Tagen passiert, und dabei insbesondere die finanzielle Vorausschau. Wenn wir an dieser Stelle nicht dazu kommen, dass nationale Egoismen überwunden werden - dazu gehört der Britenrabatt, der inzwischen eine andere Grundlage hat als damals; dazu gehört aber auch die deutsche Haltung, was die Finanzierung der EU anbelangt; und da mag die Zahl 1,06 eine Kompromisszahl sein, die es uns ermöglicht, eine Finanzierung voranzutreiben -, dann allerdings sind wir in einer Situation, in der Stillstand droht.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Ich denke, zu Panik besteht kein Anlass. Wir haben den Vertrag von Nizza - der gilt weiter -, wir haben die EU-Institutionen, wir haben den Prozess der europäischen Integration, bei dem ich auch nicht gesagt habe, der solle gestoppt werden. Was ich gesagt habe, war: Man muss darüber nachdenken, ob er in der Geschwindigkeit weitergehen kann. Ich habe dazu eine Meinung geäußert, die in meiner Partei nicht mehrheitsfähig ist. Das ist nicht schlimm, so etwas gibt es mal. Deswegen darf man das trotzdem sagen und muss darüber entsprechend mit den anderen diskutieren.

Bei der Türkeifrage - das spreche ich hier ganz offen an; man hat mir das hier nicht aufgeschrieben, sondern hat mir davon abgeraten, das anzusprechen -, dürfen wir dieses Problem nicht wechselseitig verteufeln.

(Beifall des Abgeordneten Dr. Heiner Garg [FDP])

Wir haben hier klare Zusagen gemacht. An diesen Zusagen muss insoweit festgehalten werden. Das heißt, es muss mit der Türkei geredet werden. Wir sind uns aber auch einig - Rolf Fischer hat das vorhin gesagt -, es ist ein sehr langer, schwieriger Prozess,

weil wir hier aus einer völlig anderen Kultur kommen und ganz andere Probleme miteinander besprechen müssen, als wir besprochen haben, als es um den Beitritt von Portugal, Irland oder Estland gegangen ist. Das heißt, es ist ein langer Prozess, und ich kann mich darin wiederfinden zu sagen, wenn wir alles andere zeitgleich miteinander verabreden können, dann können auch zu dem Zeitpunkt Verhandlungen aufgenommen werden. Wenn wir aber die Konsolidierung ernsthaft in Angriff nehmen, dann dauert vielleicht der Verhandlungsprozess ein bisschen länger.

Was am Ende herauskommt, weiß niemand von uns. Insofern bin ich hier anderer Meinung als die CDU, dass man nicht von vornherein privilegierte Partnerschaft sagt und nichts anderes. Es mag sein, dass am Ende eines Prozesse so etwas steht. Dies aber am Anfang zu sagen, wäre der falsche Beginn für Verhandlungen.

Meine Damen und Herren, wir haben festzustellen: Die Referenden waren kein Betriebsunfall, auch wenn sie an der einen oder anderen Stelle innenpolitisch geprägt waren. Wir waren in der Europapolitik nicht stark genug, um dagegenhalten zu können. Die Verfassung sollte diese bestehende Kritik und die mangelnde Legitimation aufnehmen; wir haben es schließlich mit einem Verfassungsvertrag zu tun. Wir müssen entsprechende Maßnahmen beziehungsweise Korrekturen vornehmen und wir müssen es vor allen Dingen den Menschen vermitteln.

Es ist bereits gesagt worden: Das Elitenprojekt Europa muss von einem breiten demokratischen Prozess getragen werden und diesbezüglich, Herr Klug, haben Sie mich missverstanden. Ich habe nicht gesagt, es sei nicht so schlimm, weil es nur ein paar Einzelfälle seien. Nein, es gibt den überbordenden Bürokratismus in der EU. Das ist überhaupt keine Frage.

(Beifall bei der CDU)

Aber dieser kommt nicht von selbst. Da mache ich der Politik, uns allen, die sehr gern Brüssel als Sündenbock nehmen, wenn irgendwo wieder einmal etwas schief geht, den Vorwurf. Denn vorher haben wir genau diese Maßnahmen gefordert.

(Dr. Ekkehard Klug [FDP]: Wir nicht!)

- Nein, Sie nicht. Sie sind ja auch eine kleine Partei. - Es ist innerhalb der gesamten Politik - schauen Sie es sich doch an, Herr Klug - so: Wenn die Regelungen kommen, verhalten sich das Europäische Parlament, die Länderregierungen - es ist vor allen Dingen auch die Bundesrepublik Deutschland, die sich mit einer absonderlichen Anforderung hervortut, alles zu regeln -, die gesamte Politik so, als hätten sie nichts

(Minister Uwe Döring)

damit zu tun. Das hat dann Brüssel eingebrockt. Das trägt übrigens zur Europaverdrossenheit bei.

Dann sollten wir als Europapolitiker, aber auch als andere Fachpolitiker weniger Regelungen in der EU fordern, dann sollten wir mehr nationale Lösungen und weniger Regelungen innerhalb der EU vornehmen. In diesem Sinne haben wir auch in der Koalition gesprochen. Dies nach außen hin zu vertreten ist wichtiger und führt nicht zu Verdrossenheit. Denn man kann nicht auf der einen Seite Regelungen fordern und sie auf der anderen Seite hinterher verteufeln.

(Beifall bei SPD und FDP)

Meine Damen und Herren, wir müssen den Menschen die Angst bezüglich der Punkte Binnenmarkt und Erweiterung nehmen. Das ist bereits gesagt worden; ich muss es daher nicht im Einzelnen wiederholen.

Eines geht allerdings nicht: Den Menschen darf nicht das Gefühl vermittelt werden, Europa sei ein radikaler Binnenmarkt ohne Sozialpolitik. Wenn dies passiert, werden Sie weder die Köpfe noch die Herzen der Menschen erreichen. Das heißt, wir brauchen so etwas wie eine europäische Sozialverträglichkeitsklausel, mit der wir die jeweiligen Entscheidungen gegenchecken.

Meine Damen und Herren, wie kommen wir weiter voran? - Wir müssen den Menschen den konkreten Nutzen, den sie haben, deutlich machen. Im Moment werden nämlich hauptsächlich die konkreten Ängste und die konkreten Sorgen betont. Dies müssen wir umkehren. Wir müssen den Nutzen konkret aufzeigen.

Ich darf ein Beispiel nennen, das ich neulich schon erwähnte: Wir alle freuen uns darüber, dass der Lübecker Hafen boomt, dass dort viel mehr Containerumsatz stattfindet. Danach hört es in der Diskussion schon sehr schnell auf. Man muss dann allerdings auch sagen, woraus dieser Boom resultiert. Der Lübecker Hafen boomt, weil wir die Osterweiterung haben.

(Beifall bei SPD und FDP)

Er boomt, weil wir mit den neuen Beitrittsländern einen höheren Umsatz als mit den Vereinigten Staaten haben. Das heißt, wir müssen deutlich machen, dass durch die Europapolitik und insofern auch durch die Erweiterung neue Arbeitsplätze auch in unserem Land geschaffen werden.

Ich fasse zusammen: Die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses wird durch folgende Faktoren geprägt sein:

Erstens. Es wird eine Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses mit erheblich längerer Strecke geben, also mit erheblichen Verzögerungen. Es wird allerdings gleichzeitig die Möglichkeit geben, einzelne Teilelemente in Kraft zu setzen.

Es wird - zweitens - eine inhaltliche Integration der neuen Mitglieder der Union der 25 geben müssen. Denn auch hier - so denke ich - wird noch nachzuarbeiten sein. Diese Staaten sind zwar in der Europäischen Union, aber ich verweise beispielhaft auf die Minderheitenpolitik der baltischen Staaten. Auch die Minderheitenpolitik Polens ist nicht der Maßstab, den wir an Minderheitenpolitik legen.

(Beifall bei der FDP)

Drittens. Wir brauchen eine Stärkung und den Ausbau der sozialen Dimension im Integrationsprozess.

Viertens. Wir brauchen die verstärkte Aufnahme des Dialogs mit den Bürgerinnen und Bürgern.

Fünftens. Wir brauchen eine Phase der Konsolidierung der Fortsetzung des Erweiterungsprozesses. Lassen Sie uns daran weiter arbeiten.

Wie wichtig diese Entscheidung in Frankreich war, ist daran zu erkennen, dass Frankreich ein Gründungsland, ein Motor der Integration war. Hinsichtlich dessen, was dies bedeutet, darf ich einen Kommentar aus dem „Guardian“ zitieren:

„Das Nein der Franzosen zu Europa ist genauso, als würden die Briten Nein zum Beefsteak, die Russen Nein zum Wodka sagen oder das Herz Nein zum Körper sagen.“

Ich denke, hier sind wir uns alle einig: Das kann keine endgültige Antwort sein.

(Beifall im ganzen Haus)

Ich danke dem Herrn Minister. - Als weiteren Redner rufe ich den Herrn Abgeordneten Ritzek für die CDUFraktion auf.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir gehen in die zweite Runde und verdeutlichen noch einmal viele Schwerpunkte, die schon erwähnt worden sind.

Die Stellungnahmen nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und in den Niederlanden überschlagen sich. Auch heute und gestern konnten wir Tendenzen aus Dänemark und Schweden vernehmen. Es heißt zum Beispiel: „Weiter abstimmen“, „Mora

(Manfred Ritzek)

torium für die Abstimmungen“, „Europäische Verfassung zurückziehen“.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der europäische Prozess darf nicht scheitern. Wir haben die längste Periode des Friedens in Europa. Es wächst die dritte Generation in Frieden und Freiheit heran. Aber gerade diese dritte Generation Jugendlicher zwischen 18 und 24 Jahren stimmte in den Niederlanden als stärkste Wählergruppe mit 65 % gegen die Europäische Verfassung. Das macht Sorge.