Ich bin davon überzeugt, dass wir eine ganze Menge hier im Land anstoßen können. Diese Diskussion führen wir auch nicht erst seit gestern. Spätestens
seit 2000 debattieren wir hier im Landtag regelmäßig, wie wir die Situation im ambulanten und im stationären Bereich verbessern können, und dass dazu die Vernetzung und die sektorenübergreifende Zusammenarbeit der Teilsektoren gehören, ist auch keine neue Erkenntnis.
Anregungen für die Problemlösungen liegen vor und wir haben sie im Einzelnen immer wieder diskutiert. Wir brauchen mehr Transparenz und Vergleichbarkeit der Angebote, eine Neuausrichtung und Weiterentwicklung der Pflegeaus-, -fort- und -weiterbildung und des Berufsbildes. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie wollen Sie nämlich jungen Menschen den Pflegeberuf schmackhaft machen? - Sie müssen am Wochenende Doppelschichten fahren, werden schlecht bezahlt und alle Jahre wieder mit Pflegeskandalen in Verbindung gebracht. Wenn wir ein Pflegeinfrastrukturgesetz als Teil eines Pflegegesetzbuches bekommen, dann müssen wir das Pflegewohngeld, das zwar gut gemeint war, aber nichts gebracht hat, in eine transparente Investitionsförderung umwandeln.
Wir brauchen Bürokratieabbau und Arbeitsvereinfachungen für die Mitarbeiter in den Pflegeeinrichtungen. Damit meine ich nicht, dass Dokumentation überflüssig ist. Sie brauchen Dokumentation, um beispielsweise Schichtwechsel reibungsloser gestalten zu können und sie brauchen eine patientenorientierte Dokumentation. Ob man allerdings wirklich all das braucht, womit heutzutage die Mitarbeiter beschäftigt sind, bezweifele ich.
Ich glaube, dass man diesbezüglich auf Landesebene einiges machen könnte, ohne sich über irgendwelche Finanzierungsmodalitäten streiten zu müssen.
Ich bin auch davon überzeugt, dass wir eine Standardsetzung bei notwendigen bürokratischen Abläufen brauchen. Denn erst durch eine Standardsetzung wird auch der bürokratische Ablauf vereinfacht.
Und - das ist eines meiner Lieblingskinder - wir brauchen die Etablierung eines kostenträgerunabhängigen Pflege-TÜVs. Ich weiß, dass dies die Vertreter der Kassen und Ersatzkassen nicht besonders gerne hören, aber ich erachte es nach wie vor als einen unhaltbaren Zustand, dass der MDK unter dem Dach der gesetzlichen Krankenkassen die Kontrollen durchführt und gleichzeitig darüber entscheidet, wer welche Pflegestufe erhält.
Ja, Frau Birk, Plaisir lässt grüßen. Ich glaube, dass wir auf Landesebene die Chance haben, ein eigenes Personalbemessungskonzept einzuführen, wenn wir die Erkenntnisse aus Plaisir umsetzen würden. Uns würden auf einen Schlag 1.500 examinierte Kräfte fehlen.
Des Weiteren müssen wir einen rechtlichen Status festlegen. - Auch hier böte die Einführung eines Pflegegesetzbuches die Möglichkeit, genau einen solch rechtlichen Status festzulegen. Anschließend brauchten wir die Vernetzung vorhandener Angebote.
Frau Birk, ähnlich wie Frau Schümann habe ich Ihre Kritik an der hauswirtschaftlichen Versorgung nicht verstanden. Hauswirtschaftliche Unterstützung entlastet Pflegepersonal und wir sind uns doch darin einig, dass ein Schwerstpflegebedürftiger 24 Stunden Pflege bedarf. Er braucht allerdings nicht nur 24 Stunden Pflege, sondern 24 Stunden Pflege und Betreuung. Wir sollten völlig ideologiefrei darüber nachdenken, wie wir auch im Rahmen eines Personalbemessungssystems den tatsächlichen Pflege- und Betreuungsbedarf nicht nur messen, sondern auch ganz genau differenzieren können, um zu entscheiden, wie hoch der tatsächliche Betreuungsaufwand bei einem Bedürftigen und wie hoch der tatsächliche medizinische Pflegeaufwand sind. Und genau dieser Betreuungsaufwand wird zum Teil durch eine hauswirtschaftliche Versorgung geleistet.
(Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber nicht als solche vergütet! Wis- sen Sie, was sie verdienen?)
- Frau Birk, ich weiß, was eine hauswirtschaftliche Kraft verdient. Insofern verstehe ich nicht, warum Sie es hier so abgetan haben. Es kann eine große Chance sein, examinierte Pflegekräfte zu entlasten, damit sie sich auf das konzentrieren können, wofür sie eigentlich da sein sollen.
Wenn wir es ernst meinen, dass sich Pflege am Menschen orientieren soll, dann bedeutet das aus unserer Sicht, dass eine am individuellen Hilfe- und Pflegebedarf orientierte Versorgung die Schaffung verbindlicher Pflegestandards, die gleichzeitig den bürokratischen Aufwand zum Beispiel für die Dokumentation begrenzen, erfordert. Diese Regelungen können wir auf Landesebene schaffen.
Ein letztes Wort zur Frage, ob wir stationäre Überkapazitäten in Schleswig-Holstein haben. - Nein, wir haben keine stationären Überkapazitäten. Frau Birk, nicht erst seit heute fordern Sie, Pflegeheime
abzuschaffen. Sie werden es nicht schaffen, auf eine professionelle stationäre Unterbringung zu verzichten. Denn unsere Gesellschaft muss sich in Zukunft mit mehr und mehr Pflegebedürftigen - so bedauerlich das auch ist - auseinandersetzen.
Wenn Sie den tatsächlichen Pflegebedarf feststellen - und Sie plädieren ja für eine am Menschen orientierte Pflege -, dann werden Sie auf eine Gruppe stoßen, die tatsächlich 24 Stunden am Tag Pflege und Betreuung braucht. Diese Gruppe ist gar nicht einmal so klein.
Ich habe es selbst einmal ausgerechnet: Bereits 1994 hätte die Pflege von einem ambulant zu Pflegenden der Pflegestufe drei rund 28.400 DM gekostet. Sie können ja einmal inflationär hochrechnen, was es heute kosten würde. Von daher ist es meiner Meinung nach hoch problematisch, so zu tun, als ob wir uns als Gesellschaft so etwas leisten könnten. Ich plädiere zwar für so wenig stationäre Versorgung wir möglich, aber wir werden nicht auf sie verzichten können. Dies muss man der Ehrlichkeit halber auch den Menschen sagen. Ich denke, dass wir die Situation der Pflegebedürftigen hier in Schleswig-Holstein ohne ideologische Debatten über Finanzierungskonzepte verbessern können.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine gute Pflege benötigt Transparenz, stabile Strukturen und eine solide finanzielle Ausstattung. Keiner der drei Punkte wurde bisher erreicht.
In dem gewachsenen System „Pflege“ liegt manches im Argen. Wiederholte Anträge voller Absichtserklärungen tragen allerdings keineswegs zur Problemlösung bei. Bereits 2004 hat der SSW nach den Skandalen in schleswig-holsteinischen Pflegeheimen konkret auf ein Verfahren hingewiesen, das den Personalbedarf in den Pflegeheimen misst: Plaisir.
Die Landesregierung hatte vor ein paar Jahren mit dem Plaisir-Modellprojekt im Kreis Segeberg untersuchen lassen, wie viel Personal ein Pflegeheim braucht. Dabei wurde deutlich, dass die Einrichtungen mehr Personal benötigen, um modernen Standards gerecht zu werden. Leider ist Plaisir danach in der Schublade verschwunden, weil offen
sichtlich die finanziellen Implikationen zu peinlich waren. Doch wir erinnern uns noch gut an dieses Verfahren und fordern, dass aufgrund von Plaisir der Personalbedarf in unseren Heimen neu berechnet wird. Das wäre ein kleiner, konkreter Schritt zu mehr Pflegequalität.
Wir brauchen in der Pflege mehr Personal und vor allem besser qualifiziertes Personal. Wer als Ungeübter einen schwer pflegebedürftigen Menschen vom Bett in den Rollstuhl hebt, belastet meist aus Unkenntnis die eigene Gesundheit. Nicht umsonst ist der Altenpflegeberuf inzwischen eine anerkannte Profession mit viel Know-how. Doch tatsächlich pflegt immer noch in den meisten Heimen jeder zweite Beschäftigte ohne ausreichende professionelle Grundlage. Die Folge: Demotivierung, vermeidbare Berufskrankheiten und Pflegefehler bei den Bewohnern, wie sie zuletzt der Prüfbericht des Medizinischen Dienstes öffentlich gemacht hat.
Es ist also nicht angezeigt, die Fachkraftquote zu flexibilisieren, wie es der Antragstext der Grünen vorsieht, sondern anzuheben: Je mehr Fachleute in der Altenpflege arbeiten, desto höher ist die Pflegequalität.
Der Unterschied liegt in den professionellen Standards. Vergleichbar ist das mit dem Privatmann, der ein ganzes Wochenende mit der Montage eines IKEA-Schranks zubringen muss und es dann immer noch nicht hinbekommt - im Gegensatz zu einem gelernten Tischler, der das Regal im Handumdrehen montiert.
Der Trend geht aber zur weiteren Deprofessionalisierung. Der wachsende Schwarzmarkt an aus Osteuropa importierten Pflegekräften, die vielerorts mangels Alternativen zum Eckpfeiler einer menschenwürdigen Pflege geworden sind, ist ein Menetekel für das, was uns noch blüht. Darum muss zuallererst die Finanzierung auf sichere Füße gestellt werden. Wir müssen den Charakter der Pflegeversicherung, die bisher vornehmlich von den Arbeitnehmern und Rentnern bezahlt wird, verändern. Wie es jetzt ist, darf es nicht weitergehen.
Qualifizierte Pflege kostet Geld. Dieses muss umgehend in das System fließen. Daran müssen sich alle beteiligen. Genau das will die Große Koalition in Berlin nicht. Sie hat um eine solide Finanzierung im sommerlichen Pflegekompromiss einen großen Bogen gemacht. Der Berg kreißte und heraus kam eine Maus.
Dass Kompromisse in einer Großen Koalition immer erst nach ermüdenden Nachtsitzungen zustande kommen, wissen wir in Schleswig-Holstein inzwischen aus leidvoller Erfahrung. Die Qualität der Kompromisse ist meistens dementsprechend.
Von den weitreichenden Reformen, die erst eine Große Koalition auf den Weg bringen könnte Konjunktiv! -, wie uns nach der Landtagswahl allerorten prognostiziert wurde, ist in Berlin keine Spur. Stattdessen kleinmütige Maßnahmenpakete, die allein der Koalitionsarithmetik geschuldet sind und mit den Erfordernissen des jeweiligen Politikfeldes herzlich wenig zu tun haben!
Warum sollte das in Berlin und bei der Pflege anders sein? Die minimale Erhöhung des Beitrags zur Pflegeversicherung in Höhe von 0,25 Prozentpunkten nach einem Marathongespräch hat mit einer Pflegereform überhaupt nichts zu tun.
Tatsache bleibt, dass die Pflegeversicherung eine Zweiklassengesellschaft zementiert, die den Gutverdienenden in einem Maße Vorteile verschafft, das zum Himmel schreit. Obwohl Privatversicherte im Durchschnitt über ein doppelt so hohes Einkommen wie die gesetzlich Versicherten verfügen, beteiligen sie sich lediglich mit einer Kopfprämie an der Pflege anderer Privatversicherten. Die Privatversicherten beteiligen sich dagegen nicht an den Kosten für die Pflege der gesetzlich Versicherten, deren Nachfrage allerdings erst die Struktur schafft, von der auch die Privatversicherten profitieren. Das ist unsolidarisch. Privatversicherte haben Anspruch auf alle Leistungen, erhalten diese aber entgegen den landläufigen AOK-Versicherten unabhängig davon, wie hoch das monatliche Einkommen ist. Das stellt die Prinzipien einer solidarischen Gesellschaft total auf den Kopf.
Der SSW fordert seit Jahren eine Bürgerversicherung im Pflegebereich, an der sich alle beteiligen und von der auch alle profitieren. Diese Bürgerversicherung mit einkommensabhängigen Beiträgen für alle würde nicht nur das Finanzvolumen erhöhen, sondern als dessen Folge auch die Pflegebedingungen verbessern. Bevor wir also über Verbraucherschutz in der Pflege, über Qualitätssicherung und über neue Pflege- und Wohnformen reden, müssen wir das ungerechte Finanzierungssystem verändern. Die Privatversicherten müssen in die Solidaritätsgemeinschaft eingebunden werden.
So steht es übrigens bereits auch im Koalitionsvertrag von CDU und SPD auf Bundesebene. Ich zitiere:
„Zum Ausgleich der unterschiedlichen Risikostrukturen wird ein Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung eingeführt.“
Das ist bislang nicht geschehen. Eine gerechte Verteilung der Lasten der Pflege zwischen Privat- und Kassenpatienten steht noch aus.
Wir reden hier laut dem Pflegeexperten Professor Karl Lauterbach von einem Volumen von 2,5 Milliarden €, das die Privatversicherten dem System schulden. Jedermann kann sich ausrechnen, was eine solche Summe - 2,5 Milliarden € - im Pflegesystem für die Qualität der Pflege bedeutet.
Die unzureichende Praxis der Pflege im engen Minutenkorsett teilweise lebensfremder Vorschriften der Pflegekassen ändern wir nur durch eine gründliche Reform der Finanzierung. Würde der Ausgleich realisiert, wie es der Koalitionsvertrag vorsieht, blieben die guten und hehren Ziele einer menschenwürdigen Pflege keine Wolkenkuckucksheime, sondern gelebte Realität für alle Menschen, die auf Pflege angewiesen sind. Darum plädiert der SSW dafür, dass die Großkoalitionäre in Kiel ihren Kollegen in Berlin Beine machen, damit der im Koalitionsvertrag verabredete Finanzausgleich so schnell wie möglich kommt. Das wären dann die in dem Grünenantrag beschworenen Möglichkeiten auf Landesebene, die wir unbedingt nutzen sollten.
Wir müssen natürlich auch über Strukturen sprechen. Der angeführte Prüfbericht hat deutlich gemacht, dass Heime mit ähnlichen Pflegesätzen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Während in dem einen Heim Sondenernährung und Personalfluktuation an der Tagesordnung sind, leben im anderen Heim zufriedene Bewohner, die geduldig und gut gepflegt werden.
Worin liegt der Unterschied? Die Pflegeexperten sind sich einig, dass vor allem der Qualifikationsgrad und die Öffnung der Heime die Faktoren sind, die bei der Qualitätssicherung eine entscheidende Rolle spielen.
In Flensburg werden die Heime, natürlich auch vor dem Hintergrund leidvoller Erfahrungen, die man gemacht hat, jetzt mindestens einmal jährlich besucht. Die durchschnittliche Kontrolllücke des Medizinischen Dienstes von bis zu drei Jahren, die jetzt auch noch gesetzlich zementiert werden soll, wird damit überbrückt. Die Heime müssen aber auch mehr über ihre Arbeit berichten. Sie sollten die Gelegenheit haben, auch über ihre Erfolge zu berichten.
Pflegewissenschaftlerin Doris Schiemann fordert nicht umsonst eine Positivliste, die alle guten Heime aufführt. Das motiviert die anderen Heime, ihre Standards zu verbessern. Wir müssen die Heime stärker als bisher öffnen. Die Heimleitung sollte Angehörige, ehemalige Nachbarn und Freunde der Bewohner ins Heim einladen sowie umgekehrt den Bewohnern den Weg nach draußen ebnen. Missstände haben dann gar keine Chance, vor sich hinzuschwelen.