Protokoll der Sitzung vom 30.01.2008

(Beifall bei FDP, CDU und SPD)

Für die Fraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erteile ich Herrn Fraktionsvorsitzenden Karl-Martin Hentschel das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich. Das, was wir heute verabschieden, ist im Grunde die wichtigste Änderung der schleswig-holsteinischen Verfassung

während meiner Zeit im Landtag. Das ist ein grundlegender Schritt, denn die Grundrechte in Schleswig-Holstein werden in die Verfassung aufgenommen. Dennoch ist diese Änderung eher einem Zufall zu verdanken. Wir haben im Rahmen der Ausschussberatungen über das neue Landesverfassungsgericht die Frage gestellt, welche Möglichkeiten der Klage in Zukunft bestehen. Auf eine Frage von mir hin sagte der Wissenschaftliche Dienst, der dies überprüft hat, es werde keine Möglichkeit geben, die schleswig-holsteinischen Gesetze vor dem Hintergrund der Grundrechte zu prüfen, weil dies nicht Bestandteil der Verfassung sei. Daraufhin haben wir angeregt, dies zu korrigieren, auf dass die Grundrechte in die Verfassung aufgenommen werden. Zunächst gab es bei den großen Fraktionen eine Abneigung dagegen. Vor allem Kollege Puls hat vehement widersprochen und gesagt, dies komme nicht in die Tüte. Ich freue mich daher außerordentlich, dass es innerhalb von kurzer Zeit bei beiden großen Fraktionen zu einer Klärung gekommen ist.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Keine Ge- schichtsklitterung! - Werner Kalinka [CDU]: Das stimmt so nicht!)

- Herr Kollege Kalinka, wir können gern das Protokoll zur Hand nehmen. Ich freue mich, dass es dazu gekommen ist und dass wir jetzt übereinstimmend diese Grundlage schaffen. Ich glaube, das ist ein großer Schritt. Ich glaube, das ist auch ein großer Schritt für die Große Koalition, denn das Recht, Verfassungsklagen zu führen und Verstöße gegen Grundgesetze zu prüfen, ist originär ein Recht für die Opposition. Das stärkt die Opposition.

(Dr. Johann Wadephul [CDU]: Das gab es doch auch vorher!)

- Natürlich. Ich gehe davon aus, dass die Regierungsfraktionen ihre eigenen Gesetze, die sie mit Mehrheit verabschieden, für verfassungskonform halten. Das ist meine Einschätzung. Wie in der Vergangenheit gesehen, existieren in dieser Frage bei der Opposition häufig Zweifel. Wenn dies geprüft werden soll, dann ist das eine Stärkung der Opposition, wenn dies möglich wird. Dafür bedanke ich mich bei den beiden großen Fraktionen. Ich glaube, Sie sollten es ertragen können, dass ich mich bei Ihnen bedanke.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)

(Wolfgang Kubicki)

Für die Abgeordneten des SSW erteile ich der Vorsitzenden, Frau Anke Spoorendonk, das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung unserer Landesverfassung ist keine juristische Lappalie, sondern berührt ein zentrales demokratisches Recht. Darum freue ich mich ausdrücklich über die Einhelligkeit in diesem Punkt. Das ist ein wichtiges Signal nach außen dahin gehend, dass wir es im Landtag mit den Bürgerrechten ernst meinen. Grundrechte werden nun einmal auch in unserer demokratisch verfassten Gesellschaft - und eben auch in Schleswig-Holstein - verletzt. Dahinter stehen in der Regel keine bösen Motive, sondern oftmals Nachlässigkeit oder gar Schlamperei.

Die Verletzung der Grundrechte kommt zum Glück nicht häufig vor. Dazu könnte es aber kommen, wenn wir uns bei einem eigenen Landesverfassungsgericht weiter mit den langen Verfahrenszeiten in Karlsruhe abfinden. Grundrechte gehören zum demokratischen Fundament unserer Gesellschaft. Sie verkümmern, wenn sie nicht immer wieder aufs Neue gelebt werden.

Der estnische Staatspräsident Lennart Meri hat vor ein paar Jahren in Kiel erzählt, dass er noch zu Zeiten des Kalten Krieges ein Exemplar des Deutschen Grundgesetzes nach Hause schmuggelte. Damals war das für ihn eine unerhörte Lektüre und gleichzeitig ein starker Ansporn, die undemokratischen Verhältnisse in seinem Land zu verändern. Genau darum geht es. Wir müssen das Grundgesetz ernst nehmen und die Grundrechte leben. Dazu gehört, dass die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ihre Grundrechte mittels eines kurzen und übersichtlichen Verfahrens hier in Schleswig schützen können. Professor von Mutius hat in seinem Gutachten auf die guten Erfahrungen anderer Bundesländer hingewiesen, bei denen ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Bekanntheit und der Akzeptanz des Landesverfassungsgerichts und der Möglichkeit der Bürgerklage besteht. Die Bürgerinnen und Bürger begreifen, dass die Verfassung nicht nur die Beziehungen der Verwaltungen untereinander regelt, sondern dass sie auch für sie da ist.

Das Grundgesetz ist nach dem Krieg nach Jahren der Unterdrückung und Unfreiheit als Akt der demokratischen Selbstbestimmung entstanden. Ich sage dies auch vor dem Hintergrund des Gedenktages anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Kon

zentrationslagers Auschwitz am 27. Januar. Wichtig ist also, dass die Grundrechte nicht auf Sonntagsreden beschränkt bleiben, sondern das demokratische Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger stärken.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vor allem für die Jüngeren sind der demokratische Willensbildungsprozess und die ungeheuerlichen Anstrengungen, die dem Grundgesetz 1949 vorausgingen, nur noch Gegenstand verstaubter Papiere. Diese zunehmende Distanz ist - so denke ich - besorgniserregend. Ich hoffe, dass das Landesverfassungsgericht als ein unabhängiges und streitbares neues Verfassungsorgan hilft, diese Distanz zu verringern.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Rahmen der verbliebenen Redezeit erteile ich Herrn Abgeordneten Wolfgang Kubicki das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tag begann so harmonisch. Trotzdem müssen wir jetzt einige Unrichtigkeiten klarstellen. Frau Kollegin Spoorendonk, es gibt in Schleswig-Holstein kein Individualklagerecht, auch künftig nicht, und zwar trotz der Rezeption der Grundrechte bei Grundrechtsverletzungen. Dafür ist nach wie vor Karlsruhe zuständig. Wir dürfen also nicht den Eindruck erwecken, als könnten Bürgerinnen und Bürger des Landes Schleswig-Holstein morgen zum Landesverfassungsgericht laufen und eine Individualklage erheben.

Herr Kollege Hentschel, nicht Ihre Frage hat das Problem auf den Tisch gebracht. Ihre Frage haben Sie überhaupt nur stellen können, weil Ihnen vorher klar geworden ist, worum es geht. Anlässlich der Prüfung des neuen Polizeirechtes haben sowohl der Wissenschaftliche Dienst des Landtages als auch der Kollege Burkhard Hirsch, den wir gebeten haben, das zu begutachten, festgestellt, dass auch das Bundesverfassungsgericht das Polizeirecht an der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein deshalb nicht auf Grundrechtsrelevanz messen kann, weil die Rezeptionsklausel fehlt. Dies war, was die Einrichtung eines Landesverfassungsgerichts angeht, völlig egal. Die Tatsache, dass wir eine andere Gerichtszuständigkeit geschaffen haben, hat an dem

grundlegenden Problem nichts geändert. Das sollten wir auch so bekennen.

Ich sage es nicht nur in die Richtung des Kollegen Puls, sondern ich sage dies auch in die Richtung des nicht mehr anwesenden Kollegen Wadephul, der jetzt da oben mit dem ehemaligen Innenminister sitzt. Ich bin wirklich dankbar, dass die beiden großen Fraktionen dieses Problem gesehen haben und sich ihm gestellt haben. Wir kommen jetzt zu einer Regelung, die außer in Hamburg - dies sage ich ausdrücklich - in allen anderen Ländern in Deutschland gilt. Dafür sollten wir wirklich dankbar sein und nicht einfach nur Wasser ins Feuer schütten und ein bisschen Rauch aufsteigen lassen. Dies wollte ich noch einmal klarstellen.

(Beifall bei der FDP)

Nach § 56 Abs. 4 der Geschäftsordnung erteile ich Herrn Abgeordneten Klaus-Peter Puls das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte noch ganz kurz etwas sagen, weil ich persönlich vom Kollegen Hentschel angesprochen worden bin. Er sagte, ich wollte es nicht in die Tüte lassen, dass hier und heute diese Grundgesetzänderung erfolgt. Herr Kollege Hentschel, dieser Eindruck konnte bei Ihrer Wortmeldung entstehen. Ich habe Sie in den Ausschussberatungen nur vehement darauf hingewiesen, dass nach geltendem schleswig-holsteinischen Landesverfassungsrecht eine Überprüfung von Gesetzen auf Ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten hin durch das Landesverfassungsgericht nicht möglich ist. Dann ist es zu der Frage gekommen, wie wir das möglich machen. Heute haben wir das möglich gemacht. Insofern müssten wir uns eigentlich alle einig sein.

(Beifall bei der SPD)

Für die Landesregierung hat Herr Innenminister Lothar Hay das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist zu Recht schon darauf hingewiesen worden, dass die Verfassungen der Länder Schleswig-Holstein und Hamburg bisher die einzigen sind, die weder einen eigenen Grundrechtskata

log noch einen Verweis auf die Grundrechte des Grundgesetzes enthalten. Diese fast 60-jährige Tradition gründet auf der Entscheidung des schleswigholsteinischen Landesverfassungsgebers vom Dezember 1949, der damals eine Verfassung, die damals als Landessatzung bezeichnet wurde, schaffen wollte, die mehr den Charakter eines Organisationsstatuts aufweisen sollte. Damit sollte auch die Stellung Schleswig-Holsteins im Gesamtstaat verdeutlicht werden, wobei natürlich unstreitig war, dass die im Grundgesetz verankerten Grundrechte auch in Schleswig-Holstein unmittelbar geltendes Recht waren und bis heute sind.

Unsere Landesverfassung beschränkt sich allerdings nicht auf Regelungen der Staatsorganisation, sondern sie beinhaltet bereits einige darüber hinausgehende Staatszielbestimmungen und auch grundrechtsähnliche Rechte wie zum Beispiel das freie Bekenntnis zu nationalen Minderheiten und Volksgruppen in Artikel 5, was unsere Landesverfassung besonders im positiven Sinne von anderen Bundesländern abhebt.

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen in Artikel 6 a ist eine Ergänzung der jüngsten Vergangenheit. Der Schutz der natürlichen Grundlagen des Lebens nach Artikel 7 oder die Regelung des Schulwesens nach Artikel 8 der Landesverfassung sind ebenfalls zu nennen. Nach dem bisher Gesagten besteht somit aus meiner Sicht kein zwingendes verfassungsrechtliches Bedürfnis nach einem Verweis auf die Grundrechte des Grundgesetzes, wie das im Gesetzentwurf aller Fraktionen vorgesehen ist.

Trotzdem ist der Entwurf zu begrüßen, wenn auch aus anderen Gründen. Es erfolgt nämlich eine Ausweitung des Kompetenzbereiches unseres neuen Landesverfassungsgerichts. Darauf ist hinzuweisen. Allerdings sind dort ehrenamtliche Richter und Richterinnen tätig, die dort Recht sprechen sollen. Wenn diese Überlegungen im Gesetzgebungsprozess zum Landesverfassungsgericht auch noch nicht die entscheidende Rolle gespielt haben, so ist zu konstatieren, dass das Landesverfassungsgericht in bestimmten Fallkonstellationen nach bestehender Rechtslage gehindert wird, schleswig-holsteinisches Landesrecht am Maßstab der Grundrechte zu prüfen.

Herr Kubicki hat beispielsweise auf die Novellierung des Landesverwaltungsgesetzes - kurz ausgedrückt: Polizeirecht - hingewiesen. Das wäre nicht möglich gewesen.

(Wolfgang Kubicki)

Dies wäre durch den vorgelegten Gesetzentwurf im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle möglich. Da kann das auf seine Vereinbarkeit mit den Grundrechten hin überprüft werden.

Wenn auch eine Rechtsschutzlücke für die Bürgerinnen und Bürger hierdurch nicht besteht, Herr Kollege Hentschel, weil der notwendige Rechtsschutz gegen staatliche Grundrechtseingriffe nach Ausschöpfung des ordentlichen Rechtsweges durch die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht gesichert ist, so verstärkt die Hinzufügung des Artikels 2 a des Gesetzentwurfs den Grundrechtsschutz doch erheblich. Rechtsverstöße können dann sowohl vor dem Bundesverfassungsgericht im Namen der Verfassungsbeschwerde als auch vor dem Landesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren gerügt werden.

Lassen Sie mich schließen mit einem Zitat, nicht von Hermann Hesse, sondern mit einem Wort des englischen Philosophen und sozialen Reformers John Stuart Mill:

„Die Verfassung ist ein Mittel, das sicherstellen soll, dass die Herrschenden ihre Macht nicht missbrauchen.“

(Beifall bei SPD, CDU, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung.

Ich schlage dem Hohen Haus vor, den Gesetzentwurf Drucksache 16/1817 an den Innen- und Rechtsausschuss zu überweisen. Wer so beschließen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist einstimmig so beschlossen worden.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:

Wahl der Präsidentin oder des Präsidenten bei dem Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht in Schleswig

Wahlvorschlag des Innen- und Rechtsausschusses Drucksache 16/1813

Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Ich lasse über den Wahlvorschlag des Innen- und Rechtsausschusses abstimmen und schlage Ihnen offene Abstimmung vor. - Widerspruch höre ich nicht. Dann werden wir so verfahren.

Ich weise das Hohe Haus nochmals darauf hin, dass für die Wahl die Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, das heißt 46 Stimmen, erforderlich ist. Wer dem Wahlvorschlag Drucksache 16/1813 seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltung? - Dann ist einstimmig so beschlossen worden.

Ich stelle fest, dass damit die erforderliche Zweidrittelmehrheit für die Annahme erreicht und der Wahlvorschlag angenommen ist. Damit ist Frau Uta Fölster zur Präsidentin bei dem Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht in Schleswig gewählt. Frau Präsidentin, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zur Wahl. Die guten Wünsche des Hohen Hauses und die Glückwünsche begleiten Sie. Mögen Sie für unser Land in Ihrer Amtsführung immer eine glückliche Hand haben. Herzlichen Glückwunsch!

(Beifall)

Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 5 auf: