Protokoll der Sitzung vom 24.04.2008

aber mathematisch-räumliches Denken völlig abgeht.

Anmerkung fünf: Leistung und Begabung sind etwas sehr Verschiedenes. Die Begriffe Begabung und Intelligenz sagen deshalb nur begrenzt etwas darüber aus, zu welchen Leistungen Menschen fähig sind. So wurde festgestellt, dass Schülerinnen und Schüler, die in der Schule Spitzenleistungen bringen, nur zu 15 % hochbegabt sind. 15 % der Spitzenschüler haben sogar einen IQ, der gerade beim Durchschnitt liegt. Begabung ist also nicht der einzige Faktor, der für gute Leistungen entscheidend ist. Dazu gehören auch Eigenschaften wie Durchsetzungsvermögen, Ausdauer, Selbstbewusstsein und so weiter.

Anmerkung sechs: Eines der häufigsten Vorurteile besteht darin, dass man glaubt - das ist hier mehrfach vonseiten der FDP und CDU gesagt worden -, hochbegabte Kinder hätten mehr Probleme mit Ausgrenzung und Mobbing als weniger Begabte. Immer wieder liest man, dass Hochbegabte häufig Probleme haben, mit anderen Kindern zurechtzukommen. Ich habe selbst solche Fälle in meinem Bekanntenkreis gehabt. Dies ist aber nicht die Regel, sondern das Gegenteil ist der Fall. Studien besagen, hochbegabte Kinder leiden seltener an psychischen Störungen, haben weniger Probleme mit der Schule, sind gesünder und in der Regel sozial besser integriert als andere Kinder. Die Intelligenz hilft ihnen in der Regel. Es gibt auch hochbegabte Kinder mit Verhaltensstörungen. Diese können dazu führen, dass diese Kinder für dumm gehalten werden; darüber gibt es die berühmten Pressemeldungen. Das gilt besonders für Kinder mit dem Asperger-Syndrom, einer Variante des Autismus, das bei Hochbegabten häufiger vorkommt als normalerweise.

Natürlich kommt es auch vor, dass hochbegabte Kinder unterfordert sind und dadurch auffällig werden. Das ist aber - so sagt es die Literatur - sehr selten, da sich hochbegabte Kinder in der Regel ihr Futter selbst suchen und zum Beispiel extrem viel lesen.

Einseitig mathematisch begabte Schülerinnen und Schüler haben dagegen große Probleme und scheitern häufig, weil sie in zwei Sprachen und möglicherweise Deutsch auf Note 5 stehen. Umgekehrt ist es mit einer 5 in Mathe und einer 4- in Physik eher möglich, durch die Schule zu kommen, wenn man sprachlich hochbegabt ist, da man an der Oberstufe als Naturwissenschaft Biologie wählen kann.

So weit meine Anmerkungen, die ich der Literatur zum Thema Hochbegabungen entnommen habe. Ich möchte daraus einige Konsequenzen ziehen. Erstens. Wir müssen unbedingt die Fähigkeiten der Lehrerinnen und Lehrer in Fragen der Diagnostik verbessern.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Bericht teilt uns mit, dass in Bayern und Thüringen an jeder Grundschule ein Lehrer beziehungsweise ein Ansprechpartner für Diagnostik ist und eine entsprechende Weiterbildung absolviert hat. Das sollte auch in Schleswig-Holstein möglich sein.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Dieses Problem der Diagnostik gilt nicht nur für Hochbegabte, sondern natürlich für alle Schüler. Wir müssen in der Lage sein, die unterschiedlichen Fähigkeiten und Begabungen der Schüler besser zu erkennen. Dies ist eine Aufgabe der Schule.

Zweitens: Wir müssen mehr als bisher zur Kenntnis nehmen, dass die Schulartenempfehlung im Wesentlichen eine Selffulfilling Prophecy ist. Sie sagt mehr über das Elternhaus aus als über die Potenziale von Schülerinnen und Schülern. Sie sollte deshalb abgeschafft werden.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, vereinzelt bei der SPD und beim SSW)

Das Hauptproblem sind Schüler, die einseitig begabt oder hochbegabt sind. Vorgestern wurde in der Zeitung wieder einmal berichtet, dass uns 100.000 Ingenieure fehlen. Unsere Lehrer müssen wissen, dass ein Schüler, der sich kaum meldet und große Probleme in der Rechtschreibung und mit der Ausdrucksweise hat, später ein hervorragender Physiker oder Ingenieur werden kann, wenn man ihm die Chance dazu gibt.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie vereinzelt bei SPD und SSW)

Angesichts der Vielzahl von Begabungen und der ganz unterschiedlichen Problemstellungen macht es - und das ist das, was ich der Literatur entnommen habe, Herr Klug und Herr Wadephul - relativ wenig Sinn, Klassen für Hochbegabte einzurichten, weil die Probleme sehr unterschiedlich sind. Gerade Hochbegabte - Sankt Afra ist ja explizit darauf eingestellt - sind eher Kinder, die relativ gut damit zurechtkommen. Es sind die Kinder mit Sonderproblemen, zum Kinder mit Asperger-Syndrom, die auch massive Probleme in der Schule haben. Es geht also darum, dass ihnen geholfen wird und die

(Karl-Martin Hentschel)

Lehrer in der Lage sind, solche Probleme zu diagnostizieren und darauf einzugehen. Es darf nicht auf mangelnde Begabung oder Dummheit geschoben werden, wenn diese Kinder nicht genügend Kontakt aufnehmen können oder sich beim Lernen nicht normal verhalten.

Viertens: Die wichtigste Lehre ist: Wir müssen die Schülerinnen und Schüler als Individuen wahrnehmen. Wir müssen die Schule so weit entwickeln, dass die Schülerinnen und Schüler individuell nach ihren jeweiligen Fähigkeiten in der unterschiedlichen Kompetenzbereichen gefördert werden. Hochbegabte, die in die Lage versetzt werden, in der Schule frühzeitig selbst auch ihre Klassenkameraden oder andere Kinder zu unterrichten und zu fördern, lernen dabei enorm viel und werden dadurch geradezu beflügelt. Das heißt, es ist nicht das Problem der Isolation oder des Auseinanderdividierens der Schulen, sondern es ist das Problem, jedem einzelnen Kind entsprechend seinem Niveau gerecht zu werden.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie vereinzelt bei SPD und SSW)

Es reicht nicht aus, dass an einigen ausgesuchten und sehr gut ausgestatteten Sondereinrichtungen wie in Sachsen oder Baden-Württemberg entsprechend unterrichtet wird. Es muss der normale Anspruch der Pädagogik der Schulen werden, allen gerecht zu werden. Wenn es stimmt, dass sich die Intelligenz während der Schulzeit noch erheblich entwickeln kann, dann muss es unser Ziel sein, nicht nur jeden Schüler und jede Schülerin nach der Begabung und Intelligenz zu entwickeln, sondern auch, die Intelligenz der Schüler in der Schule zu fördern.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Herr Hentschel, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Nur eine Schule, die individuell fördert, kann möglichst vielen Hochbegabten und Spezialbegabten gerecht werden. Daran sollten wir arbeiten.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie vereinzelt bei SPD und SSW)

Für die Gruppe des SSW erhält die Vorsitzende, die Frau Abgeordnete Anke Spoorendonk, das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Schulpolitik gibt es ausgesprochene Dauerbrenner, Themen, denen sich der Landtag in fast berechenbarer Regelmäßigkeit widmet. Die Hochbegabtenförderung gehört unbestritten dazu. Darum ist es gut, einmal ganz genau nachzufragen, wie weit der Stand der Hochbegabtenförderung in Schleswig-Holstein gediehen ist. Die Antworten zur Großen Anfrage zeigen dabei einen bunten Angebotskatalog mit vielen Projekten und Initiativen.

Hochbegabung ist zweifelsohne ein ideologisch besetztes Thema. Doch bei allem Engagement sollten wir nicht vergessen, dass es letztlich um Kinder geht, die sich in ihrer Schule oftmals nicht zurechtfinden. Internationale Untersuchungen gehen davon aus, dass ungefähr 40 % der hochbegabten Kinder, die über einen Intelligenzquotienten von 130 und mehr verfügen, sozial auffällig werden. Ihre Begabungen verkümmern, und sie fühlen sich abgelehnt.

Mir ist bewusst, dass eine solche Statistik auch kritisch zu hinterfragen ist. Man könnte vielleicht als Konklusion einfach nur sagen, dass unter den sozial auffälligen Kindern auch hochbegabte Kinder sind und dass diese Kinder dann auch identifiziert werden müssen.

In der Diskussion um Hochbegabung sollte man also alle Aspekte der Hochbegabung berücksichtigen. Die Antworten zur Großen Anfrage deuten das bereits an. Ich erinnere mich noch gut an viele - auch ungeeignete - Versuche, hochbegabte Kinder zu unterstützen. So hatten wir Mitte der 90er-Jahre in Schleswig-Holstein eine zentrale Anlaufstelle für Eltern hochbegabter Kinder, die allerdings nach kurzer Zeit mangels Nachfrage eingestellt wurde. Danach hat die CDU das Überspringen von Klassen für Hochbegabte gefordert, was auch im Schulgesetz umgesetzt wurde. Seit zehn Jahren besteht für hochbegabte Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, Klassen zu überspringen. Zehnjährigen, die mehrere Klassen überspringen und sich dann mit pubertierenden Mitschülern herumschlagen müssen, tut man allerdings keinen Gefallen.

(Beifall beim SSW und des Abgeordneten Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

(Karl-Martin Hentschel)

Sie finden keine Freunde und bleiben ausgegrenzt. Das kann Minderwertigkeitsgefühle eher verstärken als sie auszugleichen. Das ist also keine Lösung.

Die Schulen sollten Hochbegabten Arbeits- und Projektgruppen anbieten, wo sie sich individuell entwickeln können. So bleibt dann auch noch Zeit für altersgemäße Hobbys und Leidenschaften. Und die sehen bei Zehnjährigen nun einmal anders aus als bei Jugendlichen.

Inzwischen wissen wir, dass sich Hochbegabte in sich selbst zurückziehen und Desinteresse zeigen, wenn sie unterfordert werden. Das ist ein eindeutiges Zeichen dafür, dass besonders begabte Schülerinnen und Schüler ein erhöhtes Bedürfnis nach individueller Zuwendung haben. Eine solche Zuwendung erhalten sie aber weder durch frühere Einschulung noch durch das Überspringen von Klassen.

Individuelle Zuwendung ist grundsätzlich das A und O einer erfolgreichen Pädagogik. Die Schülerinnen und Schüler in ihrer Verschiedenheit zu akzeptieren, ist ein zentraler Grundsatz der Gemeinschaftsschulen. Ich hebe hier noch einmal die Gemeinschaftsschulen hervor.

(Beifall beim SSW sowie vereinzelt bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denn mit der Einführung der Gemeinschaftsschulen haben wir auch für hochbegabte Kinderinnen und Kinder -

(Heiterkeit und Beifall)

- Entschuldigung, das musste ja einmal gesagt werden.

(Heiterkeit)

Das bringt mich jetzt ganz aus dem Konzept. - Also, individuelle Zuwendung ist - das möchte ich dann doch wiederholen - wirklich das A und O einer erfolgreichen Pädagogik. Schülerinnen und Schüler in ihrer Verschiedenheit zu akzeptieren, ist auch ein zentraler Grundsatz - auch der zentrale Grundsatz - der Gemeinschaftsschulen. Deshalb begrüßt der SSW die Einführung der Gemeinschaftsschule, denn sie ist auch für die hochbegabten Schüler von Bedeutung. Davon profitieren alle. Kinder mit einer musikalischen Hochbegabung tun sich vielleicht schwer im Erlernen von Sprachen und umgekehrt. Darum ist die individuelle Unterstützung der Kinder so wichtig.

Das haben wir immer gefordert. Dabei bleiben wir. In solchen Debatten - und das möchte ich auch jetzt gern tun - spielen wir immer gern die dänische Kar

te aus. Nördlich der Grenze findet auch zu diesem Thema -

(Zuruf)

- Nein, ich werde das anders machen. Natürlich findet auch nördlich der Grenze eine Diskussion dazu statt, sie findet ja auch in anderen Ländern statt. Zentraler Ansatz dieser Diskussion ist, wie solchen Kindern in den allgemeinbildenden Schulen geholfen werden kann, wie sie also besser in die öffentliche Schule integriert werden können. Denn die Alternative ist, dass sie alle in eine Privatschule gehen. Im dänischen Rungsted auf Seeland gibt es das kann man alles nachlesen - seit diesem Schuljahr ein Projekt oder den Ansatz, in besonderen Projektklassen den Kindern zu helfen. Die Lehrer verstehen sich dabei nicht als Wissensvermittler, sondern Organisatoren des Wissenserwerbs. Die Schüler besuchen Museen und erarbeiten sich dort je nach Interessenlage - neue Sachgebiete. Und das - liebe Kolleginnen und Kollegen, das war meine eigentliche Pointe - geschieht eingebettet in den Schulalltag.

In Schleswig-Holstein geht man in dieser Hinsicht immer noch einen anderen Weg. In Ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU-Fraktion weist die Landesregierung darauf hin, dass es bei uns eine Vielzahl von Projekten gibt, die dann von Stiftungen, Organisationen oder Verbänden - also privat organisiert werden.

Im Ausschuss möchte ich gern geklärt haben, ob wir nicht diese Ansätze besser in den Alltag der öffentlichen Schulen integrieren können und inwieweit ein Austausch der Schulen insgesamt untereinander organisiert werden kann. Denn die Vernetzung ist ein Garant dafür, dass solche Projekte weiterentwickelt werden können und dass von solchen Erfahrungen auch möglichst viele profitieren.

Der Besuch des Bildungssauschusses in Meißen, als wir in der Schule St. Afra über die Begabtenförderung in Sachsen informiert wurden, hat gezeigt, dass hochbegabte Kinder eben auch und gerade Kinder sind. Sie wollen intellektuellen Zuspruch und suchen gerade auch nach neuen Herausforderungen, wollen aber keineswegs so behandelt werden, als ob sie Computer auf zwei Beinen wären. Viele Kinder - das wurde uns erklärt - hatten einen richtigen Leidensweg hinter sich, bis ihre besondere Begabung entdeckt wurde und ihr nun in diesem Internat entsprochen wird. Uns als Bildungspolitikern muss es aus Sicht des SSW zu allererst darum gehen, eine gemeinsame Beschulung so zu gestalten, dass alle Kinder optimal und individuell angespro

(Anke Spoorendonk)

chen werden, dass sie gar nicht erst unterfordert und zu Klassenclowns werden. In der Gemeinschaftsschule gehen wir diesen Weg: Besondere Begabungen werden gefördert, besondere Schwächen ausgeglichen.

Der individuelle Unterricht für alle ist also ein wichtiger Weg und eine anspruchsvolle Aufgabe sowie eine pädagogische Herausforderung. Sie dient letztlich aber allen Kindern. Je besser Lehrer auf den einzelnen Schüler eingehen können, desto mehr profitieren alle Schüler davon. Das habe ich schon versucht zu sagen, das ist die eigentlich Pointe der neuen Gemeinschaftsschule, der Nutzen für alle. Natürlich müssen dann auch die Ressourcen stimmen. Ich kann nicht einfach auf einer Schule das Schild Gemeinschaftsschule anbringen, sondern muss auch für eine vernünftige Personal- und Sachausstattung sorgen. Dazu gehört auch die Qualifikation der Lehrkräfte. Sie darf sich keineswegs bezüglich der Hochbegabung auf Module während des Studiums beschränken. Um den unterschiedlichen Neigungen und Voraussetzungen der Kinder gerecht zu werden, ist eine didaktische Weiterbildung berufsbegleitend unabdingbar. Unabdingbar ist auch, dass diese besonderen Begabungen erkannt werden.