- Ich habe gut zugehört, Herr Kubicki. Ich habe vor allem registriert, dass Sie beim Zitat der OECDStudie, als es um den Niedriglohnbereich ging, Abgaben und Steuern verwechselt haben. Das ist allerdings erstaunlich gewesen. Die Bezieher unterer Einkommen zahlen in der Regel ja kaum Steuern. Allerdings zahlen sie sehr hohe Abgaben. Das ist ein Teil des Problems. Darüber hätten wir hier gut reden können. Ich werde darauf noch einmal zurückkommen.
(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD - Dr. Christian von Boetticher [CDU]: Langsamer reden, schneller denken!)
- Ich versuche mich zu mäßigen, aber es fällt manchmal schwer, wenn man die Zeitungen liest und wenn man sich einmal anguckt, warum wir dieses Theater hier abfeiern müssen.
Ich versuche, jetzt zur Sache zu kommen. Ich versuche auch zu begründen, warum das Vorgehen von Westerwelle und die Debatte über die Debatte in treuer Gefolgschaft der FDP Schleswig-Holstein hier im Landtag - nicht funktionieren kann. Probleme kann man doch nicht dadurch lösen, indem man die Betroffenen beschimpft. So kann es doch nicht sein. Wenn gesagt wird, dass alle Hartz-IV-Empfänger faul seien, gar nicht arbeiten wollten und lieber Schnee schippen sollten, bereitet man damit doch vor, dass eine Debatte über die Probleme gar nicht erfolgreich geführt werden kann. Der sachliche Kern des Problems stellt sich anders dar. 1,5 Millionen Menschen arbeiten als Aufstocker, bekommen also Hartz-IV-Bezüge, obwohl sie, wenn die FDP-Rhetorik stimmen würde, viel besser dran wären, wenn sie zu Hause blieben und Dosenbier trinken würden. Dann bekämen sie nämlich das gleiche Geld. Diese Menschen gehen aber arbeiten. Sie sind also nicht faul, obwohl das System es ihnen schwer macht, arbeiten zu gehen und sie sich gewissermaßen selbst überwinden müssen. Das ist das Problem. Dies ist die richtige Angehensweise für eine Debatte. Die permanente Diffamierung, dass die Leute faul sind, ist nicht der richtige Ansatzpunkt.
Ich will noch einmal auf das Kernproblem der hoffentlich nun sachlicher geführten Debatte eingehen. Wenn man das Problem ernst nimmt, muss man fragen: Wie schafft man ein Anreizsystem für Arbeit? Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder man senkt die Beitragssätze und modifiziert die Bedarfsberechnung. Das hat Christian von Boetticher vorgeschlagen; Ursula von der Leyen nennt das passgerecht. Das führt aber zu einem riesigen Bürokratieaufwand. Man schafft damit einen riesigen Kontrollaufwand. Schlimmer noch: Man schafft eine Misstrauenskultur in der Gesellschaft. Man wird dann immer kontrollieren müssen: Ist die Zahnbürste wirklich so abgenutzt, dass sie schon ersetzt werden muss? So kann es wohl nicht sein.
Herr Kollege Habeck, der Begriff „Anreize“ gibt mir Veranlassung, noch einmal folgende Frage zu stellen. Sie haben erklärt, ich hätte Abgaben und Steuern verwechselt. Ist Ihnen aufgefallen, dass ich aus einer Erklärung der OECD zitiert habe, nach der bei geringem Verdienst Anreize geschaffen werden müssen, die relativ hohe Steuer- und Abgabenlast zu senken? Das sagt die OECD. Vielleicht lesen Sie es einfach noch einmal nach.
Ja, daraus haben Sie in Ihren weiteren Ausführungen dann aber gemacht, dass das Steuersystem einfacher und gerechter werden solle. Es ist aber das Abgabensystem, das einfacher und gerechter werden muss.
Es gibt ja schon eine Flattax in Deutschland, nämlich die Abgaben - Krankenkassen, Abgaben und Rentensystem. Das, dachte ich, hätte ich aufgeklärt. Was die OECD schreibt, ist natürlich richtig; aber was Sie daraus gemacht haben, ist leider falsch.
Ich war bei der angeblichen Faulheit der Leute. Jetzt kann die Zeit weiterlaufen. - Ich habe gezeigt, dass die Debatte falsch geführt wird. Die Leute sind
nicht faul. Sie müssen sich im Grunde zwingen, gegen das System zu arbeiten. Das System ist falsch aufgebaut. Das ist der Kern der Debatte: Wie kommen wir zu einem besseren System? Ich halte wenig davon, die Bedarfsprüfung auf alle möglichen Sachen auszuweiten. Ich wundere mich, dass die Entbürokratisierungspartei FDP genau das fordert und sagt: pauschalisierte Sätze runter, aber Bedarfsprüfung hoch.
Das Problem ist: Es gibt kein Konzept von der FDP. In der Zeitung war zu lesen, die Opposition solle begründen, wie sie sich die Debatte um den Sozialstaat weiter vorstellt. Haben Sie bemerkt, dass Sie inzwischen regieren? Sie sollen das begründen.
Ich versuche einmal, Ihre Hausaufgaben zu machen. Festhalten an der Pauschalierung. Ein Problem ist die Individualisierung, die nicht gegeben ist. Wir müssen runter von den Bedarfsgemeinschaften und das Sozialsystem individualisieren.
Wir müssen ein Anreiz schaffen. Es gibt verschiedene Modelle. Der Lohnabstand ist ein Stück weit angekratzt, wenn man sich zwingen muss, Hartz IV nicht zu beziehen und das gleiche Geld zu bekommen, wenn man arbeiten geht. Dafür gibt es eine einfache Lösung. Herr Stegner hat es angesprochen. Das ist der Mindestlohn. Es gibt andere, kompliziertere Lösungen. Über die kann man auch nachdenken. Aber der Mindestlohn ist die einfachste.
Das Letzte, was gegeben sein muss, ist die Armutsfestigkeit. Wenn wir an einer sozialen Demokratie festhalten wollen, hat der Staat die Verpflichtung, den Menschen eine armutsfeste Grundsicherung zuzugestehen.
Wenn man das alles zusammennimmt, hat man folgende Leitkategorien. Das ist Armutsfestigkeit. Das ist Individualisierung. Sie gilt auch für Kinder. Es darf keine Herunterrechnung von allgemeinen Statusannahmen geben, sodass man sagt: Ein Kind ist irgendwie ein bisschen kleiner, die Hälfte eines Erwachsenen und kriegt auch nur die Hälfte. Das
muss aufhören. Man muss sich die Lebenssituation der einzelnen Menschen angucken. Also: individualisiert, armutsfest pauschalisiert und ein Anreizsystem schaffen, am einfachsten durch den Mindestlohn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ähnlich wie Robert Habeck habe ich mich über das Thema unserer heutigen Aktuellen Stunde schon sehr gewundert. In meinen Augen würde es Sinn machen wir haben es teilweise noch vor -, über die Hartz-IV-Gesetzgebung zu diskutieren. Der Bedarf ist sicherlich riesengroß. Nun hat die FDP aber eine Debatte über die Debatte zur Hartz-IV-Gesetzgebung beantragt. Da frage ich mich doch: Ist da nicht der Bezug zur bundesdeutschen Wirklichkeit abhanden gekommen?
Die Äußerungen des Herrn Westerwelle zum Thema Hartz IV und den Empfängern dieser Leistungen sind ebenso empörend wie peinlich. Ich kann nur davon ausgehen, dass es ihm durchaus bewusst war, was er tat, und dass er diese Debatte absichtlich losgetreten hat.
Empörend und peinlich auch deshalb, weil es offensichtlich sein Ziel war, mit diesen diskriminierenden Einlassungen dramatische Verluste in den Umfragewerte wiedergutzumachen, und das auf Kosten der Ärmsten in unserem Land.
Aber dass Herr Westerwelle durch seine Äußerungen nicht nur das Ansehen seiner Person, sondern auch seiner Partei und die Zusammenarbeit in der schwarz-gelben Koalition im Bund beschädigt hat, erfüllt mich mit einem gewissen Maß an Schadenfreude.
In Abwandlung des Sprichworts möchte ich sagen: Wer im Glashaus mit Steinen wirft, darf dann doch bitte nicht weinen, wenn ihn die Scherben treffen.
Aber das Thema Hartz-IV-Gesetzgebung und deren dramatische Folgen ist zu ernst, als dass wir es Demagogen à la Westerwelle überlassen dürften.
(Beifall bei der LINKEN - Zurufe der Abge- ordneten Wolfgang Kubicki [FDP] und Chri- stopher Vogt [FDP])
Die neueste Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung stellt fest, dass 11,5 Millionen Deutsche in Armut oder an der Armutsgrenze leben. Das sind 14 % der Bevölkerung. Das sind rund ein Drittel mehr als vor 10 Jahren. Das sind für mich erschreckende Zahlen.
Erschreckend ist auch, dass die Studie ergibt, dass das Armutsrisiko mit der Anzahl der Kinder wächst und dass das Armutsrisiko bei Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern auf 40 % steigt!
hat im Verlauf der vergangenen fünf Jahre dafür gesorgt, dass Millionen Familien arm sind. Arm im reichen Land Deutschland. Und arm sein bedeutet: keine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, weniger Bildungschancen für die Kinder, schlechtere Ernährung und ein höheres Gesundheitsrisiko dadurch. Und arm sein bedeutet auch, gebrauchte Kleidung und Möbel aus dem Sozialkaufhaus und Anstehen an den Tafeln und in den Suppenküchen. Wer in dieser Situation Hinweise auf „spätrömische Dekadenz“ findet und das auch noch lautstark publiziert, verhöhnt einfach nur Millionen armer Menschen.
Im Zuge der Hartz-IV-Gesetzgebung hat sich aber auch eine große Angst unter allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern breit gemacht und die Frage: „Wie sicher ist mein Arbeitsplatz noch, und muss ich vielleicht auch bald von Hartz IV leben?“ treibt viele um. Auch die sogenannte Mittelschicht und damit Teile der FDP-Wählerschaft sind schon lange nicht mehr frei von dieser Sorge.
Dieses Klima der Angst treibt viele dazu, lieber jeden noch so schlecht bezahlten Job anzunehmen, als von den Hartz-IV-Regelsätzen abhängig zu sein. Genau auf dieser Basis hat in den vergangenen Jahren ein Niedriglohnsektor seinen dramatischen
Aufschwung genommen. Ja, es stimmt leider, dass sich bei uns zum Teil Arbeit nicht lohnt. Aber, bitte schön, nicht deshalb, weil die Hartz-IV-Regelsätze zu hoch sind. Nein, einfach deshalb, weil Arbeit in Deutschland viel zu schlecht bezahlt wird.