Protokoll der Sitzung vom 25.02.2010

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was die medizinische Versorgung durch Hausärzte angeht, droht den Menschen in Schleswig-Holstein ein absoluter Notstand. Das wurde hier schon oft erwähnt. Die Kassenärztliche Vereinigung des Landes geht davon aus, dass sich die Zahl der Hausärzte in den kommenden fünf Jahren nahezu halbiert. Demnach wird es im Jahr 2015 landesweit nur noch gut 1.000 niedergelassene Allgemeinmediziner geben. Beinahe ein Viertel dieser Ärzte sind heute bereits über 60 Jahre alt, und die Hälfte hat die 50 bereits überschritten, aber nur 5 % sind jünger als 40. Mit Fug und Recht lässt sich sagen: In SchleswigHolstein sterben die Hausärzte aus.

Die Wege zu den Praxen werden immer länger wie auch die Wartezeiten auf Termine und in den Wartezimmern. Dies gilt insbesondere für die Menschen, denen das am wenigsten zuzumuten ist, für die älteren, die auf dem Land wohnen.

Gleichzeitig steigt der Bedarf an hausärztlicher Versorgung immer weiter an. Während heute der Anteil der Menschen, die 60 Jahre und älter sind, bei gut einem Viertel der Landesbevölkerung liegt, wird bereits in 15 Jahren mehr als jede und jeder Dritte die 60 überschritten haben. Die Nachfrage ist also da. Der herrschenden Logik nach dürfte es also am Angebot nicht mangeln. Doch junge Ärztinnen und Ärzte gehen lieber in die Großstädte, in die Industrie oder lieber gleich ins Ausland.

Diese für die ländliche Bevölkerung verheerende Entwicklung markiert das Versagen einer Gesundheitspolitik, die sich nicht an den Bedürfnissen der

(Dr. Marret Bohn)

Bevölkerung, sondern an privatwirtschaftlichen Interessen orientiert.

Eine bedarfsgerechte und wohnortnahe Versorgung ist unter diesen Paradigmen nicht mehr möglich.

(Beifall des Abgeordneten Ulrich Schippels [DIE LINKE])

Das Gesundheitswesen muss uneingeschränkt der bedarfsgerechten, flächendeckenden und wohnortnahen gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung dienen. Seine Leistungen müssen allen Menschen, unabhängig von ihrer sozialen und finanziellen Situation und natürlich auch unabhängig von ihrem jeweiligen Wohnort zur Verfügung stehen.

(Vereinzelter Beifall bei der LINKEN)

Die Gesundheitspolitik hat deshalb die Verringerung der sozialen und regionalen Ungleichheit in den Mittelpunkt ihres Handelns zu stellen. Den Mangel an Ärztinnen und Ärzten und Pflegerinnen und Pflegern auf dem Land ist nur durch eine planmäßige Nachwuchsförderung, durch gute Bezahlung sowie eine enge Vernetzung ambulanter und stationärer Einrichtungen nach Vorbild der Polikliniken zu begegnen. Zu ergänzen wäre dieses Angebot durch die Schaffung von Gemeindeschwesterstationen und durch gezielte Förderung von Landarztpraxen. Bei der flächendeckenden medizinischen Grundversorgung geht es um die Gesundheit und letztlich oft um das Leben vieler Menschen. Dies ist ein Kerngebiet der Daseinsvorsorge und denkbar ungeeignet, weiterhin als Spielball privatwirtschaftlicher Interessen zu dienen.

DIE LINKE wird sich in diesem Sinne für eine flächendeckende medizinische Grundversorgung einsetzen.

(Beifall bei der LINKEN)

Für die Fraktion des SSW hat jetzt Herr Abgeordneter Flemming Meyer das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Eröffnung einer neuen Praxis durch einen neuen jungen Hausarzt oder eine junge Hausärztin wird immer seltener. Die Kerze brennt von beiden Seiten: Das Durchschnittsalter der Hausärzte steigt, die Versorgungsdichte nimmt ab, viele junge Mediziner wandern aus. Ich habe hier eine kleine Zeitungsnotiz aus der letzten Woche. Aus der geht hervor, dass das Ministerium mitteilt,

dass bis zu 50 % der hier neu ausgebildeten Ärzte entweder auswandern oder in andere Berufe wechseln. Bis zu 50 %! Das ist allerhand. Auf der anderen Seite wächst der Anteil der betagten und hochbetagten Patienten, die sehr viel medizinische Hilfe bedürfen.

Noch ist die Versorgung auch im ländlichen Raum gewährleistet. Zwar brauchst du in abgelegenen Dörfern ein eigenes Fahrzeug, um zum Hausarzt oder zur Apotheke zu gelangen, doch das ist nicht gleichbedeutend mit Versorgungsengpässen. Diese werden wir aber spätestens in drei Jahren haben, und dann massiv. In Nordfriesland wird dann fast jeder zweite Hausarzt in Rente gehen. Nachfolger sind in dieser Größenordnung überhaupt nicht in Sicht. Zwangläufig wird die Zahl stationärer Patienten dann steigen.

Das Gesundheitswesen ist ein sehr komplexes System, das im Laufe der Jahre unglaubliche Fehlanreize produziert hat. Wir wissen inzwischen, dass die Praxisgebühr die Zahl der Arztkontakte nicht gesenkt, sondern dazu geführt hat, dass die Behandlungsfrequenz laut Arztreport der Barmer Ersatzkasse inzwischen doppelt so hoch ist wie im Ausland. Das Honorarsystem bevorzugt Apparatemedizin, was extreme Kostensteigerungen bei der Labormedizin und der Ausstattung mit teuren Hochleistungsgeräten Vorschub geleistet hat.

Das sind nur einige Beispiele für ein komplexes System, das darüber hinaus noch von kompakt organisierten Lobby-Interessen dominiert wird. Die haben auf die Landesregierung Schleswig-Holstein gerade gewartet. Sie ist nicht der Akteur, der die Hausarztversorgung sicherstellen kann. Die Landesregierung kann zwar Modellvorhaben finanzieren und die Anerkennung der Ausbildungsabschlüsse ausländischer Fachkräfte beschleunigen, sie kann auch als Hausherr der Kliniken einiges in Gang setzen, aber Hausärzte einstellen, bezahlen oder deren Praxis finanzieren kann sie nicht.

Da sind andere Akteure gefragt, und die tun bereits einiges. Die Aufstockung der Förderung für Allgemeinmediziner im zweijährigen Ausbildungsabschnitt von 2.040 auf 3.500 € im Monat haben Krankenkassen und Ärztekammer gemeinsam aufgebracht, damit junge Ärzte bei der Stange bleiben. Allerdings werden auch Kammern und Kassen das gewohnte Versorgungsangebot nicht aufrechterhalten können, ohne weiter an der Beitragsschraube zu drehen. Aber bei entsprechender Neuorientierung kann das derzeitige Versorgungsniveau erhalten bleiben, auch bei einer ansteigenden Zahl multimorbider älterer Patienten.

(Björn Thoroe)

Der Arzt als Unternehmer wird aber sicherlich durch den angestellten Arzt in einem Versorgungszentrum abgelöst werden. Die Arbeitsteilung im Gesundheitswesen wird sich verändern, sowohl zwischen dem ambulanten und stationären Sektor wie auch zwischen den Berufsgruppen. Ob allerdings der Einsatz von Arzthelferinnen in der ambulanten Versorgung - wie derzeit im Modellvorhaben HELVER, also Arzthelferinnen in der ambulanten Versorgung geprüft wird - der richtige Weg ist, das möchte ich doch ganz stark bezweifeln.

Was also ist zu tun? - Es ist allerhöchste Zeit, die Situation gründlich zu analysieren und über alle Denkverbote hinweg Lösungen zu benennen. Jetzt sind Regierung und Parlament gefordert, zur Sicherung des Versorgungsniveaus einzugreifen. Dabei kommt die Landesregierung nicht um klare Regelungen herum. Überlässt man Planung und Durchführung ausschließlich den Marktkräften, dann werden wir schon bald erleben, dass es abseits der Ballungsräume zu massiven Engpässen kommen wird.

(Beifall bei SSW und der LINKEN)

Wir können dem Antrag so zustimmen.

(Beifall bei SSW sowie vereinzelt bei CDU und der LINKEN)

Für die Landesregierung erhält nun der Minister für Arbeit, Soziales und Gesundheit, Herr Dr. Garg, das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Meyer, ich kann Sie beruhigen, das freie Spiel der Kräfte, die Marktwirtschaft, organisiert nicht die Niederlassung von Ärzten, das machen die Partner der Selbstverwaltung. Es gibt kaum einen Bereich, der durchregulierter ist als das Gesundheitswesen. Dass es mit der Organisation nicht immer bedarfsgerecht klappt, mögen Sie daran erkennen, dass wir heute darüber diskutieren, wie wir - auch für die Zukunft - sicherstellen, dass die Bevölkerung in Schleswig-Holstein flächendeckend mit ambulanten und stationären medizinischen Leistungen versorgt werden kann. Ich will einmal ein bisschen die Dramatik herausnehmen, die bei dem einen oder anderen Redebeitrag angeklungen ist. Wir haben nach wie vor eine funktionierende Versorgung mit hausärztlichen und fachärztlichen Leistungen in Schleswig-Holstein. Wir

haben erste Indikatoren, nicht besetzte Kassenarztsitze, beispielsweise in den Kreisen Steinburg und Dithmarschen. Das sind erste Indikatoren dafür, dass dringend etwas passieren muss. Das ist gar keine Frage.

Wenn ich hier die Lösungsansätze, die von Wiederbelebung der Polikliniken bis hin zu: „Wir finanzieren in Zukunft mehr Studienplätze oder Medizinstudenten und setzen diese sozusagen zwangsweise auf irgendwelche Sitze“, reichen, dann glaube ich, dass wir anders an die Sache herangehen als in der Vergangenheit. Man kann es relativ einfach machen. Das Problem der bisherigen Bundesgesundheitspolitik war, sie war von Zentralismus geleitet. Sie war von der Annahme geleitet, dass man zentral organisieren könne, zentral Bedarfe ermitteln könne und zentral Bedarfe befriedigen könne. Das heißt, die Lösung der Zukunft muss sein: dezentral statt zentral und Kooperation statt staatlich verordnetem Dirigismus im Gesundheitswesen.

Das Wort Bedarfsplanung ist in dem Zusammenhang ja ganz ulkig. Was aber eben nicht geplant wird, sind die Bedarfe. Was derzeit nicht angeguckt wird und was zu wenig Berücksichtigung findet, sind die Bedarfe.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU)

Wenn also von einer kleinteiligeren Bedarfsplanung gesprochen wird, dann ist das ein Begriff, welcher mir nicht besonders gefällt. Ich würde nicht kleinteiligere Bedarfsplanung sagen, sondern eine neue Bedarfsplanung, die sich am tatsächlichen Bedarf einer Region orientiert, das heißt an demografischen Faktoren und an soziodemografischen Entwicklungen, die sich in einer bestimmten Region abspielen. Wenn diese in Zukunft bei der Bedarfsplanung besser berücksichtigt würden, dann wären wir schon ein ganzes Stück weitergekommen. Dazu bedarf es natürlich auf Bundesebene, dass der Bundesgesetzgeber es in Zukunft zulässt, dass mehr regionale Kompetenzen vor Ort auch genutzt werden können.

(Beifall bei der CDU)

Sehr geehrte Frau Kollegin Bohn, an dieser Stelle war ich doch positiv überrascht. Das ist nämlich so hätte ich beinahe gesagt - gängige Rechtsprechung der FDP. Nach dem derzeitigen § 116 b ist es so, dass ein Kassenarztsitz dann, wenn er einmal aufgegeben worden ist, für immer weg ist. Wir haben immer gefragt, warum das so sein muss. Warum kann man diese Entscheidung nicht irgendwann wieder rückgängig machen und den Kassenarztsitz dann wieder erhalten? Über 60 % der Me

(Flemming Meyer)

dizinstudentinnen - Sie haben es angesprochen sind weiblich.

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Baasch [SPD])

Sie haben bestimmte Vorstellungen über ihre zukünftige Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ich habe absichtlich von über 60 % gesprochen. Die ganz korrekte Form ist diese: Über 60 % der Medizinabsolventen sind weiblich. Ich will mich auch gern an diesen sachlichen Beitrag halten, Herr Kollege Baasch. Ich habe nun gelernt, dass man es korrekt so ausdrückt.

Wenn man den besonderen Bedarfen und der Entscheidung, Beruf, Familie und Kinder unter einen Hut zu bringen, Rechnung tragen will, dann ist bei der Fragestellung genau dieser Ansatz richtig: Im Zweifel wähle ich für einen begrenzten Zeitraum über § 116 b den Weg, den Beruf auf Teilzeitbasis im Angestelltenverhältnis auszuüben. Wenn ich es aber möchte, weil ich sehe, dass es funktioniert, weil die Kinder mittlerweile größer geworden sind und weil es mit meiner Familie vereinbar ist, dann entschließe ich mich dazu, mich niederzulassen und den Kassenarztsitz wieder zu bekommen. Das muss möglich sein. Um genau dies möglich zu machen, brauchen wir in Zukunft mehr Kompetenzen, im Übrigen auch auf Landesebene.

Nun noch eine letzte Anmerkung zu den von mir alles andere als geliebten sogenannten medizinischen Versorgungszentren. Sie wissen, dass das für uns in der Opposition ein Thema war. Es wird für uns auch in der Regierung ein Thema bleiben. Es ist doch völlig klar, dass angesichts der derzeitigen und zukünftig zu erwartenden Versorgungssituation jede Form der Kooperation, jede Form der Zusammenarbeit möglich sein und auch unterstützt werden muss. Mit jeder Form der Kooperation und Zusammenarbeit meine ich sowohl Formen der Kooperation und Zusammenarbeit zwischen den Sektoren, also zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor, als auch innerhalb der Sektoren, also Formen der Zusammenarbeit zwischen den Hausärzten und den sogenannten Fachärzten. Diese Formen der Zusammenarbeit müssen doch aber nicht staatlichem Dirigismus unterliegen. Diese Formen der Zusammenarbeit können - so schlau sind die Ärzte doch selber - auf freiwilligen Kooperationen beruhen. Ein Arzt, der sich dazu entschließt, das Risiko einzugehen, eine Praxis zu eröffnen oder einen Kassenarztsitz zu übernehmen, weiß ganz genau, dass er sparsam mit den knappen Ressourcen umgehen muss. Er braucht keinen zen

tralistischen Gesundheitssozialismus, wie er hier zum Teil wieder gepredigt wurde.

(Beifall bei FDP und CDU)

Vor diesem Hintergrund und auch vor dem Hintergrund der Rede von Frau Kollegin Bohn bin ich sehr zuversichtlich, dass wir eine breite Unterstützung finden, wenn wir uns beim Bund dafür starkmachen, von der bisher sehr zentralistischen Philosophie der Gesundheitspolitik abzukommen und hin zu mehr regionalen Gestaltungsspielräumen und hin zu der Möglichkeit, Kompetenzen vor Ort auch tatsächlich zu nutzen, zu kommen. Ich freue mich auf den Bericht, den die Landesregierung vorlegen wird, um die einzelnen Modellvorhaben hier bewerten zu können. Frau Kollegin Sassen, dann werden wir auch ein Urteil darüber abgeben können, ob sie umsetzbar sind oder nicht.

(Beifall bei FDP und CDU)

Der Minister hat seine Redezeit um 2 Minuten 20 Sekunden überschritten. Wer von den Fraktionen davon Gebrauch machen will, noch einmal das Wort zu ergreifen, möge sich melden. - Von dieser Möglichkeit wird nicht Gebrauch gemacht. Weitere Wortmeldungen liegen somit nicht vor. Ich schließe die Beratung.

Es liegen zwei Anträge der Fraktionen von CDU und FDP vor. In dem einen Fall ist Ausschussüberweisung beantragt. Über den anderen Antrag soll sofort abgestimmt werden.

Es ist beantragt worden, den Antrag Drucksache 17/261 (neu) dem Sozialausschuss zu überweisen. Wer so beschließen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Es ist einstimmig so beschlossen.

Ich lasse dann über den Berichtsantrag Drucksache 17/311 abstimmen. Wer zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Dies ist einstimmig so beschlossen.

Ich unterbreche die Sitzung für eine etwas verkürzte Mittagspause bis 15 Uhr.

(Unterbrechung: 13:26 bis 15:03Uhr)