Protokoll der Sitzung vom 18.03.2010

(Beifall bei CDU und FDP)

(Vizepräsidentin Herlich Marie Todsen-Reese)

Ich nenne diese Fortschritte gerade deshalb, weil der Blick auf die bestehenden Herausforderungen, insbesondere die weitestmögliche Überwindung der Kinderarmut, den Blick auf das Erreichte manchmal verstellt. Es ist gleichfalls klar, dass es ausreichend Verbesserungspotenzial gibt.

Die hier geforderten Kinderrechte sind nicht neu, sie gelten, zum Beispiel über die von Deutschland ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention. Auf Bundesebene streitet aktuell ebenfalls eine Initiative für Kinderrechte im Grundgesetz.

Wenn wir uns nun inhaltlich wahrscheinlich einig sind über diese Kinderrechte, warum sagen wir heute nicht einfach, dass wir den Text der Volksinitiative eins zu eins in die Verfassung übernehmen?

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, LINKEN und SSW)

Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, lohnt ein Blick in die bisherigen Staatsziele unserer Landesverfassung. Bisher ist nämlich mit der Benennung weiterer Staatsziele sehr restriktiv umgegangen worden, sodass der von der Volksinitiative vorgelegte Entwurf schon rein quantitativ aus dem Rahmen der bisherigen Staatsziele fällt. Deswegen lohnt sich meines Erachtens die Diskussion darüber, ob und wenn ja in welchem Umfang die unbestrittenen Rechte von Kindern in die Landesverfassung einfließen sollten.

Ein Blick in andere Landesverfassungen zeigt, dass Umfang und Art der Verankerung von Kinderrechten nicht unmittelbar praktische Auswirkungen auf die Lebenssituation von Kindern hat. Katastrophal sähe es dann in Hamburg und Berlin aus, wo Kinderschutz und Kinderrechte in der Verfassung vollständig fehlen, während Brandenburg und Nordrhein-Westfalen ob ihrer ausführlichen Ausführungen zu diesem Thema das Paradies wären. Dass dies die Lebenswirklichkeit nicht abbildet, scheint mir offensichtlich zu sein.

(Beifall bei CDU und FDP)

Dabei lohnt sich der Blick auf diese Landesverfassungen durchaus. In Artikel 27 Abs. 2 der brandenburgischen Landesverfassung steht zum Beispiel:

„Eltern haben das Recht und die Pflicht zur Erziehung ihrer Kinder.“

(Beifall bei der CDU)

Das ist natürlich kein Staatsziel, aber die konsequente Umsetzung dieses Prinzips würde nicht nur in Brandenburg helfen.

Uns als CDU ist es ein ernstes Anliegen, die Lebenssituation und Zukunftschancen für Kinder und Jugendliche in Schleswig-Holstein zu verbessern. Damit hier kein Missverständnis entsteht: Es kann durchaus sein, dass diese Verbesserung zukünftig mit weniger Landesmitteln erreicht werden muss.

(Zuruf von der SPD: Aha!)

Die CDU wünscht sich in den nächsten Wochen und Monaten eine konstruktive und fruchtbare Debatte um Kinderschutz und Kinderrechte. Wir wünschen uns ein Ergebnis, das möglichst viele hier im Hause und auch die Initiatoren der Volksinitiative am Ende unterstützen, auch wenn das Ergebnis vielleicht anders aussieht als der hier vorliegende Gesetzentwurf. Ob die Verfassungsänderung dabei der richtige Weg ist, werden wir kritisch hinterfragen und diskutieren. Nicht zuletzt wünschen wir uns vor allen Dingen ein Ergebnis, das nicht folgelos bleibt, das Kindern und Jugendlichen konkret nützt und unser Land kinderfreundlicher macht. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten.

(Beifall bei CDU und FDP)

Für die SPD-Fraktion erteile ich der Frau Abgeordneten Serpil Midyatli das Wort.

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Circa 74.000 Kinder und Jugendliche, das bedeutet jedes siebte Kind in Schleswig-Holstein und jedes vierte Kind in Kiel und sogar jedes zweite Kind in den sozial benachteiligten Stadtteilen, leben in Kinderarmut. Diese Zahlen machen deutlich, dass hier unbedingt Handlungsbedarf besteht.

Ja, wir haben ein bundesweit anerkanntes und vorbildliches Kinder- und Jugendschutzgesetz, das unter Leitung der ehemaligen Sozialministerin Dr. Gitta Trauernicht auf den Weg gebracht wurde, in dem es um die Pflege, Erziehung und das Wohl unserer Kinder und Jugendlichen geht. Wir haben auch durch das Landesprogramm „Offensive gegen Kinderarmut“ zum Beispiel mit „Kein Kind ohne Mahlzeit“ dieses wichtige Thema in den Fokus unserer Regierungsarbeit in den letzten Jahren gerückt.

Ein weiterer Schritt ist nun, neben der Forderung eines eigenständigen Kinderregelsatzes, die Rechte der Kinder und Jugendlichen weiter zu stärken. Dies alles hat die ehemalige Jugendministerin mit

(Mark-Oliver Potzahr)

der breiten Unterstützung des Landtags und in Kooperation mit den Sozialverbänden unseres Landes vorangetrieben.

(Beifall bei der SPD)

Die SPD-Fraktion ist konsequent an der Seite der Initiatoren.

(Beifall bei der SPD)

Mit diesem Entwurf des Gesetzes zur Änderung der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein soll erreicht werden, dass sämtliche Rechte der Kinder und Jugendlichen in ein kindgerechtes soziales Umfeld in der Verfassung verankert werden. Und dies zu Recht, meine Kolleginnen und Kollegen. Damit würden wir deutlich machen, dass arm zu sein in Schleswig-Holstein nicht gleichbedeutend ist mit verminderten Chancen für einen guten Schulabschluss, dass arm zu sein in Schleswig-Holstein nicht bedeutet, weniger gesund zu sein, dass arm zu sein in Schleswig-Holstein nicht bedeutet, keine kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe zu haben.

Die AWO, der Kinderschutzbund und der Sozialverband Deutschland haben keinen Scheck mit vielen Nullen mitgebracht, um ihrem Anliegen größeren Druck zu verleihen. Nein, sie sind mit etwas viel wichtigerem gekommen, und zwar mit 30.000 Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes. Durch ihre geleistete Unterschrift fordern diese Bürgerinnen und Bürger uns auf zu handeln.

Die Verankerung von Grundrechten in der Landesverfassung führt langfristig zu einem Wandel der Gesetzgebung und damit zu einer konkreten Verbesserung der Lebenssituation von Kindern.

(Beifall bei der SPD)

Aus konservativen Kreisen ist oft von reiner Symbolpolitik zu hören, ohne konkrete gesellschaftliche und rechtliche Auswirkungen. Gleiches hätte man auch über die Aufnahme der Gleichberechtigung von Frauen und Männern in das Grundgesetz sagen können. Doch gerade dieses Beispiel zeigt, dass eine Veränderung des Rechtsbewusstseins bewirkt werden kann.

Ich möchte meine Rede mit den Worten der Vorsitzenden des Kinderschutzbundes, Irene Johns, beenden:

„Das ist ein unhaltbarer Zustand, den wir weder im Sinne der Kinder noch als Gesellschaft dulden können.“

Andere Bundesländer sind diesen Schritt schon gegangen, und wir sollten ihnen folgen und die Volksinitiative in ihrem Anliegen unterstützen. Ich bin mir sicher, dass alle hier im Hause vertretenen Fraktionen einen gemeinsamen Weg finden werden, den 74.000 Kindern und Jugendlichen eine wirkliche Chance zu geben und sie nicht ihrem Kismet zu überlassen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, LINKEN und SSW)

Bevor wir in der Rednerliste fortfahren, ist es mir ein Anliegen, stellvertretend für die Initiative, die Auslöser für unsere heutige Debatte ist, den Vorsitzenden des Sozialverbands Deutschland, Landesverband Schleswig-Holstein, Herrn Sven Picker, und alle Mitstreiterinnen und Mitstreiter herzlich zu begrüßen.

(Beifall)

Ich begrüße auch unseren ehemaligen Abgeordneten-Kollegen Jürgen Feddersen von der Insel Pellworm. - Herzlich willkommen hier bei uns im Landtag!

(Beifall)

Für die FDP-Fraktion erteile ich jetzt der Frau Abgeordneten Anita Klahn das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Nach über fünfjähriger Diskussion wurde im Juli 2007 der Artikel 6 a in die Verfassung des Landes Schleswig-Holstein eingefügt. Das war ein großer Erfolg für die damalige kleine Opposition, aber es war ein noch größerer Erfolg für die Kinder und Jugendlichen in Schleswig-Holstein. Unsere Fraktion hat das damalige Gesetz mit eingebracht, weil Kinder und Jugendliche Schutz und Hilfe brauchen. Kinder und Jugendliche haben ein Recht darauf, dass sie von ihren Eltern versorgt, gefördert, gepflegt und betreut werden. Sie haben aber auch ein Recht auf Schutz und Hilfe durch die öffentliche Gemeinschaft, und zwar immer dann, wenn Eltern - aus welchem Grund auch immer - dazu nicht in der Lage sind. Rechte sind aber nur dann erfolgreich, wenn auch die Kontrolle funktioniert. Hier sind in den letzten Jahren erfolgversprechende Strukturen geschaffen worden.

Kinder sind es wert, dass ihnen nur das Beste für das Leben mitgegeben wird. Das gilt heute genauso

(Serpil Midyatli)

wie damals. Aus diesem Grund unterstützen wir Liberale die Initiatoren in ihrem Anliegen, mehr für die Kinder erreichen zu wollen. Ich denke, das ist auch Konsens hier im Haus.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Es muss aber auch Konsens sein, dass es nicht darum geht, Eltern in ihren Rechten willkürlich zu beschneiden oder durch staatliches Handeln in intakte Strukturen einzugreifen. Der bisherige Artikel 6 a LVerf ist ein Beitrag zu einer umfassenden Familienpolitik, die die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt. Wir sehen die Volksinitiative als starken Impuls, die bestehenden Ansätze weiterzuentwickeln.

Für den Begriff „Armut“ gibt es zwei grundsätzliche Unterscheidungen: Absolute Armut liegt vor, wenn lebensnotwendige Dinge wie Wohnung, Nahrungsmittel, Bekleidung oder medizinische Versorgung auf Dauer nicht gegeben oder nicht in ausreichendem Maß vorhanden sind. Relative Armut liegt vor, wenn die Versorgung eines Menschen unter das durchschnittliche Maß unserer Gesellschaft sinkt. In Schleswig-Holstein geht es bei dem Thema Kinderarmut in der Regel nicht um eine Form der die Existenz bedrohenden Armut, sondern um stark eingeschränkte Einkommens- und Lebensbedingungen von Kindern, also um eine Form der relativen Armut.

Wenn Kinder arm sind, dann fehlt es ihnen nicht nur an Geld. Soziale Ungleichheit bedeutet oft auch soziale Ausgrenzung. Arme Kinder leben häufig in beengten Wohnverhältnissen und in stigmatisierten Wohnquartieren. Sie riskieren gesundheitliche Beeinträchtigungen durch ein ungesundes Wohnumfeld, durch falsche Ernährung oder Bewegungsmangel. Sie erleben Benachteiligungen im Bereich Bildung und Ausbildung und verlassen die Schule vielfach ohne Abschluss und ohne Perspektive auf einen Ausbildungsplatz. Aber auch eine familiäre Vernachlässigung hindert die betroffenen Kinder daran, sich ihren persönlichen Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln und selbstbestimmt am gesellschaftlichen, kulturellen oder politischen Leben teilzunehmen.

Meine Damen und Herren, Sie sehen: Armut ist vielschichtig und nicht einfach zu definieren. Eine stärkere öffentliche Diskussion anzustoßen, ist richtig, und in diesem Bereich sind weitere Sensibilisierungen wichtig. In dieser Hinsicht verstehen wir Liberale das Anliegen der Volksinitiative und unterstützen es entschieden.

(Beifall bei der FDP und des Abgeordneten Wolfgang Baasch [SPD])

In unserer Gesellschaft muss die Sensibilität geweckt werden, verstärkt hinzuschauen und verstärkt auch darauf zu achten, dass niemand ausgegrenzt wird. Inwieweit das durch eine weitere Verfassungsänderung nachhaltig geschafft wird, muss neben dem Innen- und Rechtsausschuss auch im Sozialausschuss ausführlich beraten werden.