Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße zunächst unsere Gäste auf der Zuschauertribüne. Das sind Rechtspflegeranwärterinnen und -anwärter des Amtsgerichts Kiel sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Lorenz-vonStein-Instituts. - Seien Sie uns herzlich willkommen im Schleswig-Holsteinischen Landtag!
Erkrankt sind am heutigen Tag der Kollege Buder, der Kollege Heinz-Werner Jezewski und der Kollege Dr. Christian von Boetticher, der einen OP-Termin hat. Beurlaubt für die Landesregierung ist Minister Dr. Garg. - Den drei Abgeordneten Buder, Jezewski und von Boetticher wünschen wir von dieser Stelle aus gute Besserung.
Meine Damen und Herren, bevor wir wieder in die Tagesordnung einsteigen, möchte ich Ihnen mitteilen, dass der Tagesordnungspunkt 5, zweite Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Marktüberwachung bei Bauprodukten - Marktüberwachungsgesetz Bauprodukte, Gesetzentwurf der Landesregierung, Drucksache 17/965, und der Tagesordnungspunkt 6, zweite Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Ausschließung des Vorverfahrens im Verwaltungsverfahren nach anwaltlichem und notariellem Berufsrecht, Gesetzentwurf der Landesregierung, Drucksache 17/975, heute im Anschluss an die gesetzte Grundsatzdebatte zum Landeswahlgesetz aufgerufen werden. Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Danach wird der gestern verschobene Tagesordnungspunkt 9 behandelt.
b) Erste Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein und des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein (Neuwahlge- setz 2011)
c) Erste Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Verfassung des Landes Schleswig-Holsteins und des Wahlgesetzes
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Grundsatzaussprache und erteile dem Vorsitzenden der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Herrn Abgeordneten Dr. Robert Habeck, das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn der Debatte noch einmal in Erinnerung rufen, warum SSW und Grüne vor dem Landesverfassungsgericht überhaupt eine Normenkontrollklage eingereicht haben. Unser Wahlgesetz verstößt gegen die Erfolgswertgleichheit der Stimmen. Diese Regierung ist von rund 30.000 Menschen weniger gewählt worden als die Parteien, die jetzt die Opposition stellen. Es kann nicht richtig sein, dass das so korrekt ist, politisch nicht und juristisch - wie wir jetzt wissen - auch nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in einer Zeit, in der die eingeübten Formen der repräsentativen Demokratie einem massiven Autoritätsverlust unter
worfen sind, ist es ein fataler Fehler - ja, es droht ein kollateraler Schaden zu werden -, wenn der Vorbehalt gegen „die da oben“ - das sind wir alle, auch wenn es sich subjektiv vielleicht anders anfühlen mag; aber genau das ist ja das Problem des Unterschieds zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung - potenziert wird durch den abgebrochenen Ausgleich von Überhangmandaten und so ein demokratisches Ungleichgewicht entsteht. Keine Regierung und keine Fraktion ist gut beraten, vor diesem Problem die Augen zu verschließen. Und ein „Augen-zu-und-durch“ geht schon gar nicht. Deshalb haben wir geklagt.
Aus jedem Satz des Urteils des Verfassungsgerichts springt einem eine Sorge an, die um den Vertrauensverlust von demokratischer Repräsentanz. Vor diesem Hintergrund führen wir heute diese Debatte.
Das Verfassungsgericht diskutiert verschiedene Möglichkeiten, wie man die Erfolgswertgleichheit herstellen kann, ohne den Landtag die vorgesehene Größe überschreiten zu lassen. Der Hauptweg, den das Landesverfassungsgericht nahelegt, ist die Reduzierung der Wahlkreise. Dabei bezieht es sich ausdrücklich und positiv auf den von uns, der Grünen-Fraktion, schon zu Beginn der Legislaturperiode eingebrachten Vorschlag der Reduzierung der Wahlkreise auf 30. Einen Hinweis, dass dies nicht verfassungskonform sein könnte, findet sich im Urteil an keiner einzigen Stelle.
Im Gegenteil, auch die versammelte professorale Fachkompetenz bei der erfolgten Anhörung im Innen- und Rechtsausschuss und bei der Podiumsdiskussion des Vereins „Mehr Demokratie“ hat mehrfach betont - und ich habe nachgefragt, da mein Vorgänger, Karl-Martin Hentschel, damals für den Verein „Mehr Demokratie“ für ein anderes Modell gefochten hat; gerade deshalb haben Karl-Martin Hentschel und ich mehrfach nachgefragt -, dass das in unserer Verfassung beschriebene personalisierte Verhältniswahlrecht keinesfalls so auszulegen sei, dass nur eine Halbierung der Zahl von 69 Abgeordneten verfassungskonform sei.
Drittens oder vielmehr viertens kommt auch ein Gutachten des unabhängigen Wissenschaftlichen Dienstes des Landtags zu dem gleichen Schluss.
Deshalb - was immer gleich in der Debatte passiert -, meine Damen und Herren von CDU und SPD, ersparen Sie uns eines, die Mär, dass eine Festlegung auf weniger als 35 Wahlkreise nicht verfassungskonform sei. Das wollen wir in dieser Debatte nicht hören. Das ist eine unbelegte - ja schlimmer -, widerlegte Behauptung.
Mit keinem einzigen Satz der Landesverfassung lässt sich diese Behauptung begründen. Es ist einfach schlechter Stil, das nicht zur Kenntnis zu nehmen und immer wieder auf diesem Argument, das abgedroschen ist, herumzureiten.
Es ist ein rein politisches Argument. Wenn Sie es benutzen, sollten Sie wenigstens die Traute haben, das auch zuzugeben und sich dazu zu bekennen. Sagen Sie: 35 Wahlkreise - weniger sind unseren Parteien und Fraktionen nicht zuzumuten. Das wäre wenigstens ehrlich.
Ich weiß, dass Herr von Boetticher - von dieser Stelle aus gute Besserung oder gute Heilung - an dieser Stelle gewöhnlich mit rotem Kopf aufspringt und sagt: Herr Habeck, ich bin der einzige, der meiner Fraktion erklären muss, dass fünf Abgeordnete ihren Wahlkreis verlieren. Dazu kann ich nur sagen
- ich habe das ja selbst mehrfach erlebt, Herr Kollege -: Wenn Sie das machen, werden Sie bald weit mehr als fünf Kollegen erklären müssen, dass sie ihren Wahlkreis verlieren werden.
Diesen Gesetzentwurf einzubringen und durchzustimmen bedeutet, dass weit mehr Leute ihren Wahlkreis verlieren werden. Dann, liebe CDU und auch liebe SPD, werden Sie nach der nächsten Wahl das Verhältniswahlrecht so richtig zu schätzen wissen.
Oder einen anderen Weg herum und versöhnlicher: Selbstverständlich weiß oder ahne ich zumindest, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie schwer Ihnen eine solche Debatte fällt. Aber ich möchte eindringlich an Sie appellieren: Führen Sie sie nicht eigennützig. Ich sage Ihnen voraus, der- oder diejenige, der oder die an das große Ganze oder in diesem Fall
vielmehr an das kleine Ganze denkt, wird belohnt werden und seine oder ihre Möglichkeit der Wiederwahl drastisch verbessern.
Wer sich aber weigert, wird verlieren. Nutzen Sie die Chance, die auch in dieser Debatte steckt, doch positiv und offensiv.
Prüfe ich die Zahl 35 mit dem bestehenden Ergebnis von 2009, hätte der Landtag - bei Aufhebung der Deckelung, die löblicherweise auch CDU und SPD vorsehen - 89 Abgeordnete, und zwar bei der Annahme, dass die SPD fünf Wahlkreise gewinnt.
- So viel, das ist eine konservative Rechnung. Damit verfehlt der Vorschlag von CDU, FDP und SPD die Norm der Verfassung erneut deutlich. Aber das macht ja nichts, denn folgerichtig wird vorgesehen, die Verfassung gleich mit zu ändern.
Meine Damen und Herren von CDU und SPD, statt ein Wahlgesetz zu schreiben, das der Verfassung entspricht, schreiben Sie die Verfassung so um, dass sie Ihren - letztlich durch nichts anderes als durch parteipolitische Bangbüxigkeit geprägten Vorstellungen eines Wahlrechts entspricht. Das ist doch skandalös!