Protokoll der Sitzung vom 26.01.2011

Der häufig geäußerte Vorwurf: Die Kinder haben keine Zeit mehr für außerschulische Aktivitäten, sind gestresst und werden in ihrer Persönlichkeitsentwicklung eingeschränkt. - Dieses Problem ist vor allem in ländlichen Regionen zu finden, wo viele Fahrschüler bis zu zehn Stunden von zu Haus weg sind.

In Niedersachsen haben mittlerweile viele Schüler darauf reagiert, indem sie wegen G 8 freiwillig ein Jahr länger zur Schule gehen. In der „Frankfurter Rundschau“ vom 11. Januar heißt es:

„Von Ausstieg ist die Rede, sogar von gezielter Flucht: In Niedersachsen schrumpft der doppelte Abiturjahrgang, viele Schüler kapitulieren offenbar vor der auf acht Jahre verkürzten Gymnasialzeit. Lieber eine freiwilli

(Wolfgang Kubicki)

ge Ehrenrunde als Lernstress und schlechte Noten, lautet vielerorts das Motto.“

Ist das das, was Sie wollen?

Massive Widerstände gegen G 8 kommen ferner aus Bayern, Bremen, Baden-Württemberg und so weiter, oftmals, wie in Nordrhein-Westfalen, mit Unterstützung der GEW.

Wie können Sie diese Entwicklungen guten Gewissens ignorieren? Wie können Sie behaupten, Schleswig-Holstein fährt in dieser Frage einen Sonderweg? Haben Sie als Bildungspolitiker nicht auch eine gesellschaftliche und soziale Verpflichtung?

Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Thoroe?

Herr Präsident, auf Zwischenfragen der LINKEN möchte ich heute nicht antworten, nachdem ich ein wunderschönes Plakat vor dem Landeshaus gesehen habe, das ein Verleumdung darstellt und den Ministerpräsidenten betrifft. Mit Menschen, die zulassen, dass so etwas geschieht, möchte ich heute nicht argumentieren.

(Beifall bei FDP und CDU)

Auch das vielerorts geäußerte Argument, G 8 könne an den Gymnasien, G 9 an den Gemeinschaftsschulen angeboten werden, verfängt nicht. Es gibt Regionen in Schleswig-Holstein, in denen es schlichtweg keine Gemeinschaftsschulen mit gymnasialer Oberstufe in erreichbarer Nähe gibt.

(Zuruf von der SPD: Warum?)

- Warum? Weil die Bildungsministerin Erdsiek-Rave - lesen Sie ihre Bildungsrichtlinie von 2007 nach - genau dies verhindert hat. Das ganze Konzept der Sozialdemokraten hat keine realistische Grundlage gehabt.

(Beifall bei FDP und CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden den massiven Druck gegen G 8 kanalisieren und mit dem neuen Schulgesetz dem vielfach geäußerten Elternwillen Raum geben und auch wieder G 9 an Gymnasien zulassen - dort, wo es gewünscht wird, und zwar nur dort, wo es gewünscht wird. Denn wir wollen nicht, dass wegen der Besserwisserei in Kiel viele Schulkinder in ganz Schleswig-Holstein zu leiden haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben noch das Hamburger Beispiel vom vergangenen Jahr vor Augen, was passiert - daran sollten sich die Grünen vielleicht ein Beispiel nehmen -, wenn die Bildungspolitik über die Elternwünsche hinweg geht. Wir haben im Gegensatz zur Opposition keine Angst vor den Wünschen der Eltern.

(Beifall bei FDP und CDU)

Das Wort für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erteile ich der Frau Kollegin Anke Erdmann.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Selbständige Schule, das ist ein Konzept, das nicht der Rosinenpickerei dient, und es ist schon gar kein Lückenfüllerargument für eine zerstrittene Koalition.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Elf Monate Zank und Gezicke in der Koalition in Sachen Schulgesetz, seitdem der erste Entwurf aus dem Haus von Minister Klug öffentlich wurde. Koalitionsausschüsse, Kabinettsvertagung und eine offen gerittene Attacke des CDU-Fraktionsvorsitzenden auf den liberalen Bildungsminister. Einigkeit sieht anders aus.

Herr von Boetticher, hätten Sie sich bei den Koalitionsverhandlungen nicht über den Tisch ziehen lassen, dann müssten wir heute diese Debatte gar nicht führen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Aber Herr Stegner, Sie haben, glaube ich, die Berufswünsche von Herrn von Boetticher nicht ganz genau verfolgt. Da hat es nämlich einen Wechsel gegeben. Herr von Boetticher hat gelernt. Er möchte jetzt nicht mehr Ministerpräsident werden, sondern Bildungsminister, wie wir gelesen haben. Ob es hilft, weiß ich nicht.

Dieses Gesetz, das wir heute beraten, ist das Gesetz der FDP. Es ist nicht das Gesetz der Koalition. Hier geht es um die Wahrung des Koalitionsfriedens, und es geht nicht um den Schulfrieden in diesem Land.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

(Wolfgang Kubicki)

Es ist eine Meisterleistung der Autosuggestion, wenn Sie sagen, Sie würden für Ruhe an den Schulen sorgen. Ich muss sagen, es ist eine ziemlich laute Ruhe, die wir seit einem Jahr vernehmen können. Bürgermeister laufen Sturm, es gibt es eine Volks-Ini, es gibt Demos, Unterschriften und einen Lehrerstreik mit Nachspiel.

(Zuruf: Was ist Volks-Ini?)

- Volksinitiative; ich bin damit etwas mehr vertraut als Sie.

(Zuruf der FDP: Aha! - Zuruf des Abgeord- neten Christopher Vogt [FDP])

- Herr Vogt, davon können Sie noch was lernen.

Wir nehmen den Elternwillen ernst. Das hört man als Mantra aus der Koalition. Aber was der Elternwille ist, das haben wir gerade bei Herrn Kubicki wieder mitbekommen. Was Elternwille ist, das bestimmt hier immer noch die FDP.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

Der Elternwille ist eben nicht eindeutig, Herr Kubicki. Es gibt unbestritten die vielen Unterschriften aus der „G 9-jetzt!“-Initiative. Es gibt genauso viele Unterschriften, die von der Volksinitiative gesammelt worden sind. Es gibt den Landeselternbeirat Grundschule, der G 9 an Gymnasien unterstützt. Es gibt zwei Landeselternbeiräte, nämlich Gymnasien und Gemeinschaftsschulen, die sagen, dieses Schulgesetz gehört in die Tonne. Da können Sie sich doch nicht hinstellen und sagen: Wir allein haben den Elternwillen auf unserer Seite. Das ist doch Quatsch.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Uns stört, dass Sie das Herzstück der letzten Schulreform anpacken. Glauben Sie, die Volksinitiative hätte sich gegründet, wenn Sie die zuständige Schule einführen, die prophylaktischen Prüfungen abschaffen? -Quatsch, es geht um die Regelungen für Regionalschulen, Gemeinschaftsschulen und Gymnasien!

Sie schlagen in Ihrem Gesetz eine Angleichung der Regional- und Gemeinschaftsschulen vor, und Sie wollen den Schutzschirm für gemeinsames Lernen zuklappen. Mit dem Elternwillen können Sie das an dieser Stelle eben nicht begründen, Herr Kubicki; denn der Landeselternbeirat lehnt genau diese Regelungen ab. Der Landeselternbeirat für Gemeinschaftsschulen ist ja wohl für den § 43 zuständig.

Also, wann der Elternwille berücksichtigt wird, das entscheidet hier immer noch die FDP. In dem vorliegenden Regierungsentwurf von Herrn Klug ist in den Vorbemerkungen, wo es um die großen Probleme und Lösungen geht, nicht einmal auf die §§ 42 und 43 eingegangen worden. Die tauchen nicht auf; das können Sie noch einmal nachlesen. Diese Änderungen machen aktuell gar keinen Sinn, sondern nur dann, wenn man schon die nächste Schulgesetzänderung vor Augen hat. Herr Klug hat es ja deutlich gemacht: Die nächste Schulgesetzänderung ist sozusagen schon in der Pipe.

(Zuruf: Was?)

- Wir haben gehört, es soll an die Richtzeiten gehen. Das geht ja wohl nicht ohne Schulgesetzänderung.

Die nächste zentrale Änderung dieses Gesetzentwurfs betrifft die Gymnasien. G 8 - das sehen wir alle - ist vielfach schlecht gemacht. Aber es gibt auch Schulen, die das gut umsetzen. Wir sagen, der Gesetzentwurf hilft den Kindern in den jetzigen G8-Klassen nicht weiter.

Wir Grünen haben im letzten April pragmatische und kostenneutrale Änderungen vorgeschlagen, für die es keine Gesetzesänderung gebraucht hätte. Ich nenne jetzt nur ein Beispiel: Man hätte für die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen fünf und sechs pro Woche zwei bis drei Wochenstunden reduzieren können. Wenn Sie das den G-9-Eltern sagen, dann kriegen die große Augen, weil das eine Entlastung wäre, mit der sie ziemlich gut leben könnten. Aber der Minister hat sich entschieden, diese 50 Stunden Entlastung, die KMK-kompatibel sind, in die Oberstufe zu geben und dort die Stundenzahl zu verkürzen. Ich finde, das ist eine falsche Entscheidung.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kubicki, noch einmal zu der Frage: Wer entscheidet, ob letztendlich G 9 an eine Schule kommt oder nicht? - Ja, das ist der § 63: die Schulkonferenz. Sie wissen aber genauso gut wie ich, dass es dort einen Bereich gibt - die Punkte 1 bis 13 -, in denen es im Prinzip um die pädagogische Ausrichtung einer Schule geht, und da ist das Votum von Eltern und von der SV unerheblich. Da geht es um die Mehrheit der Lehrer. Das wissen Sie auch. Sie haben den § 63 nicht geändert. Das heißt, letztlich entscheiden die Lehrkräfte, es entscheiden auch die Schulträger und das Ministerium, aber die Eltern tauchen darin nicht auf. Sie hätten den § 63 in dieser Hinsicht ändern müssen.

(Anke Erdmann)

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gucken wir uns mal die Praxis an!

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ja, gern.