Protokoll der Sitzung vom 06.10.2011

Wir müssen deutlich unterscheiden zwischen Roma, die aus den eingangs genannten Verhältnissen in anderen europäischen Staaten nach Deutschland und nach Schleswig-Holstein gekommen sind, und den hier seit Jahrhunderten lebenden Sinti und Roma deutscher Staatsbürgerschaft, unserer kleinsten nationalen Minderheit, die immer noch nicht den Weg in die Verfassung gefunden hat.

Meine Damen und Herren, nicht nur in Europa insgesamt, sondern auch in Deutschland sind die hier bereits seit Langem lebenden Sinti und Roma Diskriminierungen und Benachteiligungen ausgesetzt. Nach der am 24. Mai 2011 vorgestellten Studie zur aktuellen Bildungssituation der deutschen Sinti und Roma haben 81,2 % der Befragten persönliche Diskriminierungserfahrungen. 13 % der Befragten haben keine Schule besucht. 44 % haben keinen Schulabschluss. 53,6 % der Befragten fühlen sich bei Behördenbesuchen diskriminiert. Diese Zahlen belegen, dass bisherige Pläne nicht ausreichend waren, und sie machen deutlich, dass dringender Handlungsbedarf besteht - auch für uns hier in Schleswig Holstein.

Wir begrüßen es deshalb, dass der SSW die Initiative der Europäischen Kommission aufgegriffen hat. Der uns vorliegende Antrag ist unserer Auffassung nach aber noch nicht differenziert genug und wird dem komplexen Sachverhalt nicht ausreichend gerecht. Wir wünschen uns deshalb, dass wir im Ausschuss noch einmal ganz ausführlich darüber diskutieren, um dann zu einer gemeinsamen Formulierung zu gelangen.

(Beifall bei SPD, DIE LINKE und SSW so- wie vereinzelt bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Für die FDP-Fraktion erteile ich Herrn Abgeordneten Carsten-Peter Brodersen das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag ist schon etwas verwirrend. Herr Harms, nach Ihrem Redebeitrag hat sich dieser Eindruck bei mir noch verstärkt. Trotzdem beziehe ich mich auf den vorliegenden Antrag - so gut es halt geht.

Grundsätzlich ist die Zielsetzung des Antrags - die Verbesserung der Integration von Sinti und Roma unterstützenswert. Wir müssen uns jedoch fragen, ob der Antrag, so wie er vorliegt, das richtige Instrument dafür ist und ob es wirklich zielführend ist, einen gesonderten Integrationsplan aufzustellen. Auch ist der Antrag aus meiner Sicht in Teilen unpräzise und unkonkret.

Ich möchte es kurz weiter erläutern. Zuerst frage ich mich, wer eigentlich genau die Zielgruppe ist. In der Begründung sprechen Sie allgemein von Roma, alternativ von Sinti und Roma, dann von Roma und Sinti als anerkannte nationale Minderheit und

(Birte Pauls)

auch davon, dass viele - also nicht alle - Roma Zugereiste seien. Sie unterscheiden nicht zwischen deutschen Sinti und Roma und zugewanderten. Das macht jedoch einen entscheidenden Unterschied aus. Sinti und Roma der nationalen Minderheit sind deutsche Staatsangehörige, also Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Somit haben sie die gleichen Rechte wie jeder andere Staatsbürger auch. Ihr Integrationsstand ist ein ganz anderer als der der ausländischen zugewanderten Sinti und Roma beziehungsweise sind sie schon voll integriert.

Durch den Status als Bürger haben sie Anspruch auf alle bestehenden Bildungs- und Sozialprogramme von Bund, Ländern und Kommunen. Das Land fördert die Kulturarbeit der Minderheiten und vergibt auch Projektförderung, bei der natürlich der Integrationsaspekt eine wichtige Rolle spielt.

(Beifall bei der FDP und des Abgeordneten Johannes Callsen [CDU])

Wenn es um zugewanderte Sinti und Roma geht, frage ich mich, warum es eines gesonderten Plans für Sinti und Roma bedarf. Bedarf es dann auch gesonderter Pläne für alle anderen Zugewanderten, die auch ihren jeweils ganz eigenen Migrationshintergrund haben? Wird nicht andersherum ein Schuh daraus? Muss es nicht einen umfassenden Integrationsplan geben, in dem die selbstverständlich bestehenden, besonderen Aspekte und Probleme, welche bei der Gemeinschaft der Sinti und Roma bestehen, als ein Baustein mit einfließen? - Dieses Vorgehen halte ich für einen vernünftigeren Ansatz als das umgekehrte. Die Landesregierung legt ihren Aktionsplan Integration in den nächsten Monaten vor.

Sprachkenntnisse und Bildungschancen - da stimme ich Ihrem Antrag inhaltlich voll zu - sind dabei die Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Integration. Bei diesem Punkt sind wir uns einig. In den bisherigen Plenardebatten zu Integrationsthemen ist dies auch immer Konsens gewesen. Deswegen liegen klare Schwerpunkte des geplanten Aktionsplans in den Bereichen frühkindliche Bildung und schulische Bildung, Übergang von Schule und Beruf, berufliche Ausbildung, Hochschule und Weiterbildung, Arbeit, Integration vor Ort, Sport und Willkommenskultur.

Es gibt laufende Projekte wie zum Beispiel die vorschulische Sprachförderung und Sprachtests vor Einschulungen - das Programm „Sprint“ -, die erfolgreich arbeiten. Hinzu kommt die schulische Sprachförderung durch die Deutsch-als-Zweitspra

che-Zentren, also die Sprachförderung für nicht deutsche Schülerinnen und Schüler.

Auch die bestehenden Integrationskurse werden sehr gut angenommen, und seit Anfang des Jahres können hier lebende Ausländerinnen und Ausländer wieder ohne Wartezeit Integrationskurse besuchen.

Weiterhin hat das Land seine Mittel auf die Migrationssozialarbeit konzentriert. All diese Punkte die von der Landesregierung vorangetrieben wurden, sind aus meiner Sicht in Ihrem Antrag nicht ausreichend berücksichtigt.

Bei der Integrationspolitik muss das Prinzip des Förderns und Forderns gelten. Integration kann nicht nur auf einem Bein, sondern muss fest auf zwei Beinen stehen, damit sie gelingt. Es muss bei aller Bemühung der Integration auch ein Engagement erkennbar sein - das gilt für alle Zugewanderten -, dass ein Durchbrechen des Teufelskreises der sozialen Ausgrenzung erwünscht ist. Es handelt sich auch in gewissem Umfang um eine Holschuld und nicht nur um eine Bringschuld des Staates und des Landes.

(Beifall bei der FDP)

Noch einmal abschließend: Wir halten einen umfassenden Integrationsansatz für sinnvoller als eine Zersplitterung in einzelne Teilpläne. Integrationspolitik sollte sich über die bestehenden Probleme definieren und zu deren Lösung beitragen und nicht an der Zugehörigkeit zu Gruppen ausgerichtet sein. Wir stimmen einer Ausschussüberweisung zu, um uns dieser wichtigen Thematik in der weiteren Beratung des Ausschusses annehmen zu können.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erteile ich der Frau Abgeordneten Luise Amtsberg das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Punkte, die der SSW in seinem Antrag für einen Integrationsplan für Roma in SchleswigHolstein aufgreift, finden die volle Unterstützung der grünen Landtagsfraktion.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

(Carsten-Peter Brodersen)

Nicht nur die von der Europäischen Union vorgegebene Roma-Rahmenstrategie verpflichtet uns, die Integration von Roma dringend und umfassend zu organisieren und umzusetzen. Diese Vorhaben, mit denen die EU auf die ständige Diskriminierung und Ausgrenzung von Roma in so vielen europäischen Ländern reagiert, ist der Grund, der uns zum Handeln bewegen muss. Der andere - und dieser sollte eigentlich der ausschlaggebendere Grund sein - ist aber unser demokratisches Selbstverständnis, denn die Geschichte der Roma in Europa ist sehr lang und sehr bewegt. Besonders in Deutschland ist die Geschichte der Roma dunkel, denn auch sie blieben nicht von der nationalsozialistischen Willkürherrschaft und dem brutalen Ausmerzen von Menschen verschont, die nicht ins kranke Weltbild der Nationalsozialisten passten.

Grundlage für die Verfolgungspolitik damals und die gezielte Massenvernichtung der Roma war das „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“, aber auch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Während des nationalsozialistischen Terrors wurden Roma diskriminiert, verfolgt, zwangssterilisiert, interniert und ermordet. Die Geschichte zeigt die Brutalität und Bosheit, mit der gegen diese Menschen vorgegangen wurde. Über Jahrhunderte sind die Roma bis zum heutigen Tag Opfer von Diskriminierung und Ausgrenzung, die zu einer Abschottung geführt haben und den Dialog und die Bereitschaft zum Dialog nach wie vor in vielen europäischen Ländern erschweren. Um die Verwirrung in den Fraktionen aufzugreifen, was die Zielgruppe angeht, und um die Frage zu beantworten, ob es gesonderte Pläne für Roma bedarf, sage ich nach meinen Ausführungen ganz klar Ja.

Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem wir feststellen müssen, dass die bisherigen Integrationsbemühungen für die Menschen, die hier leben und durchaus auch eine deutsche Staatsbürgerschaft haben, an vielen Stellen nicht durchgetragen haben, vermutlich, weil sie nicht tief genug gingen. Wir werden im Ausschuss klären, für wen dieser Integrationsplan gedacht ist. Die Tatsache, dass die EU möglicherweise eine andere Zielgruppe vorsieht als wir oder als es die Intention des SSW ist, sollte uns nicht daran hindern, darüber nachzudenken, ob wir vielleicht noch etwas mehr für die Roma tun können, die derzeit hier leben und die deutsche Staatsbürgerschaft haben.

(Zuruf des Abgeordneten Rolf Fischer [SPD])

- Genau das werden wir sicherlich im Ausschuss auch tun. Wir werden sie natürlich fragen. Ich weiß, dass die meisten Fraktionen hier in einen sehr intensiven Dialog mit den Roma in Schleswig-Holstein getreten sind. Ich denke, dass wir das gemeinsam im Ausschuss fortsetzen werden. Das ist in meinen Augen selbstredend. Ich glaube nur, dass wir uns an dieser Stelle nicht an der Zielgruppe festhalten sollten, die wir definieren, sondern einfach die Probleme, die es gibt, klar benennen sollten.

Wenn Integration scheitert, geht das meistens zulasten von Kindern und jungen Roma, die in unserer Gesellschaft leben. Analphabetenraten, die es durchaus gibt, unzureichende Kindergarten- und Schulbesuche, Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsbereichen sind eben nur einige wenige Bereiche, in denen wir fehlende Integration feststellen müssen.

Es ist eine Antwort, auf die Schwierigkeiten bei der Integration zu verweisen und darauf zu verweisen, dass eine Gruppe von Menschen angeblich schwer erreichbar ist und sich dem Dialog nicht hinreichend öffnet. Auch das hatten wir häufiger in den Debatten gehört. Ob das nun stimmt oder nicht: Vor dem Hintergrund unserer Geschichte und der daraus resultierenden Verantwortung darf dieses nicht die einzige Antwort bleiben. Deshalb ist der Antrag des SSW genau richtig. Es ist keine Frage, dass die Aufgabe, der wir uns hier stellen müssen, eine schwierige ist. Das Leben, die Kultur und die Geschichte von Roma sind wahnsinnig komplex. Ich warne an dieser Stelle auch davor, in Stereotypen zu denken, denn natürlich sind nicht alle Roma schlecht integriert, arm und schlecht ausgebildet. Es gibt auch andere Beispiele. Aber Angebote für diejenigen zu schaffen, die bislang nicht gesellschaftlich integriert sind, und dafür zu sorgen, dass diese die Angebote auch annehmen, sollte unsere allererste Aufgabe sein.

Das Schlimmste, was ich immer empfinde, wenn wir über das Thema reden ist, ist, dass wir das eigentliche Ziel, das wir mit unserer Minderheitenpolitik in Deutschland verfolgen, und das, was wir definiert haben, nämlich der Schutz der jeweiligen Minderheit und die Förderung ihrer jeweiligen Kultur und Sprache, deswegen gar nicht in Angriff genommen werden kann. Weil es an vielen Stellen Probleme in der Integration gibt, haben wir das Ziel, beispielsweise die Förderung von Romanes oder andere Sprachen, überhaupt nicht mehr in den Fokus genommen. Allein deswegen ist der Minderheitenschutz eine Aufgabe, die als Fernziel defi

(Luise Amtsberg)

niert werden muss. Der Weg dahin ist Integration. Wir müssen uns auch klar machen, dass die Integration von Roma auch eine asylrechtliche Relevanz hat. Das hat der Kollege Harms schon angesprochen.

Morgen sprechen wir über das Bleiberecht von langjährig geduldeten Menschen, unter denen es auch sehr viele Roma gibt. besonders vor dem Hintergrund, dass Roma in vielen europäischen Ländern völlig entrechtet und ohne jede Zukunftschance leben, sollten wir unseren flüchtlingspolitischen Grundsatz überdenken. Ich werde das nicht weiter ausführen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Rücknahmeabkommen mit Staaten wie das Kosovo, die die Gleichstellung von Roma nicht gewähren, stehen unserer Republik nicht besonders gut zu Gesicht.

Der SSW-Antrag bietet einen Lösungsansatz, spricht wichtige Felder an. Deshalb finde ich ihn richtig und gut. Wir unterstützen ihn selbstverständlich und stimmen einer Ausschussüberweisung zu.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Für die Fraktion DIE LINKE erteile ich dem Herrn Abgeordneten Heinz-Werner Jezewski das Wort.

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen vom SSW, vielen Dank für diesen Antrag. Ich glaube, er war überfällig. Er war notwendig. Wir müssen nicht nachdenken, ob wir einen Integrationsplan brauchen oder ihn überhaupt machen dürfen. Wir können ihn auch anders nennen. Wenn wir ihn Integrationsstrategie nennen, dann - so stellen wir fest - hat uns die EU auferlegt, sie bis zum Ende dieses Jahres zu machen. Die Frage ist nur: Lassen wir uns das aus Berlin auflegen und befolgen einfach, was uns die Berliner vorlegen, ob wirken wir an diesem Prozess selbst mit?

Ich will auch differenzieren zwischen Sinti und Roma, die aus anderen Ländern zu uns kommen. Ich will auf die Fragen eingehen: Wie geht es ihnen überhaupt? Was haben sie erlebt? Frank Brunner schreibt - ich glaube, in der „Welt“ -:

„Selbst eine Spezialeinheit der tschechischen Polizei kann nicht für Ruhe sorgen. Seit Wo

chen kommt es in Nordböhmen zu Krawallen zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und Roma. Rechtsextreme heizen die Stimmung an der Grenze zu Deutschland zusätzlich an.“

Björn Hengst schreibt für den „Spiegel“:

„Sie drohen, prügeln, verbreiten Hasstiraden. Rechtsradikale Milizen jagen Roma in einem ungarischen Dorf Angst und Schrecken ein. Der Ort Gyöngyöspata ist Symbol für gescheiterte Minderheitenpolitik geworden. Jetzt patrouilliert die Polizei - aber die Opfer fürchten neuen Terror.“

Er schreibt weiter über die Leute, die es schaffen, von dort wegzukommen:

„Berlusconi warnt vor ‚islamischer Stadt voller Zigeuner’

Silvio Berlusconi will eine Wahlniederlage in seiner Heimatstadt Mailand verhindern und setzt dabei auf fremdenfeindlichen Parolen: Die Finanzmetropole dürfe kein islamisches ‚Zigeunopolus’ werden, sagt Italiens Regierungschef.“