Protokoll der Sitzung vom 27.01.2010

(Beifall und Lachen bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Minister Klaus Schlie: Lesen Sie den Bericht noch einmal nach!)

In dem Fall, der Anlass für die damalige öffentliche und heutige parlamentarische Diskussion ist, nämlich ein tragischer Unfall auf der A 1 bei Reinfeld, hätte man Gaffer wegen unterlassener Hilfeleistung vermutlich belangen können. Ich weiß nicht, ob dies geschehen ist.

Gaffen ist ein gesellschaftspolitisches Problem. Es gehört in die Rubrik „Wegschaugesellschaft“, nichts hören, nichts sehen. Das Abwenden von persönlicher Verantwortung ist Ausdruck eines allgemeinen Werteverlustes in unserer Gesellschaft. Es bleibt eigentlich nur, a) in Medien, Schulen, Vereinen, Verbänden - ich kann hier wiederholen, was alle gesagt haben - und allen anderen geeigneten Orten die Verantwortung jedes Einzelnen deutlich zu machen und ihn persönlich anzusprechen und b) an die Bürger und Teilnehmer am Straßenverkehr zu appellieren, in sich zu gehen.

Wer sich dabei auch Unfallfotos anschauen will, sofern ihm dadurch Einsicht vermittelt werden kann, mag dies tun, wenn die Persönlichkeitsrechte der abgebildeten Opfer gewahrt sind. Staatlich verordnen dürfen wir dies aber nicht. Ich bin sicher, dass wir uns darin in diesem Haus einig sind.

(Thorsten Fürter)

(Beifall bei CDU und FDP - Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war der Vorschlag Ihres Ministers!)

Für die SPD hat Herr Abgeordneter Dr. Kai Dolgner das Wort.

(Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ich habe dem Minister zugehört! Die Rede von Herrn Kalinka passt nicht dazu! Er hat nicht mehr auf dem Plan, dass der Minis- ter die Schocktherapie vorgeschlagen hat! - Weitere Zurufe)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin froh, dass obwohl sich offensichtlich inzwischen der Gegenstand als bedeutungslos herausgestellt hat, meine Debütrede zu einem Thema erfolgt, das trotzdem hier bei den Fraktionsvorsitzenden Emotionen auslöst. Da habe ich die Hoffnung, dass ich einen gewissen Aufmerksamkeitsgrad erreichen werde.

Meine Damen und Herren, so ganz neu ist das Gaffer-Problem nicht. Ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin:

„Die zum Auflauf Versammelten sind meist innerlich uninteressiert am Schicksal der Opfer; der Vorgang ist Futter für ihr Sensationsbedürfnis.“

Das stellte der Soziologe Theodor Geiger - übrigens ein Sozialdemokrat - bereits 1926 fest.

Trotzdem kommt natürlich die Diskussion darüber mit schöner Regelmäßigkeit wieder. Das ist auch richtig, weil es auch wirklich ein Problem darstellt.

Es gibt mit schöner Regelmäßigkeit sinnvolle und weniger sinnvolle Lösungsvorschläge. Häufig werden hier auch Dinge verwechselt. Bei Schocktherapien von Rauchern und Rasern, die hier zumindest in der Beratung im November noch als Vorbild dienten, sollen die Betroffenen mit den verdrängten schwerwiegenden Folgen ihres Handelns konfrontiert werden. Ganz anders verhält es sich bei den sogenannten Gaffern. Die Unfall- und Katastrophenorte werden geradezu aktiv aufgesucht, um genau diese Bilder - und zwar live, in Farbe und 3D zu sehen. Allein deshalb kann das nur ein untaugliches Instrument sein.

Wer einmal eine Suchmaschine im Internet bedient hat, wird wissen, dass das Internet voll ist - leider!

von voyeuristischen Videos, die genau das zum Inhalt haben. Deshalb bin ich mir mit meinen Vorrednern darüber einig, dass es sich um ein gesellschaftliches Problem und nicht in erster Linie um ein ordnungsstaatliches Problem handelt.

(Beifall des Abgeordneten Werner Kalinka [CDU])

Die Frage, wie denn überhaupt die Angesprochenen von einer solchen Schocktherapie erfasst werden sollen, ist hier ausreichend diskutiert worden. Es sind sich heute alle einig, dass dafür weder das Personal zur Verfügung steht, noch dass es sinnvoll wäre, weil das Personal ganz andere Sachen im Kopf haben sollte, nämlich Menschenleben zu retten und nicht, Personalien von Dritten aufzunehmen.

Um dem Ganzen vielleicht noch eine konstruktive Wendung zu geben, ist es hilfreich, zwischen den Schaulustigen zu differenzieren. Eine solche Differenzierung beinhaltet das Wort Gaffer erst einmal nicht. Es gibt solche, die abseits stehen und ihre Neugierde befriedigen. Das mag ärgerlich und verwerflich sein, ein besonderes Problem stellen sie aber nicht dar. Insofern haben wir da auch keinen besonderen Handlungsanlass. Dann gibt es diejenigen, die trotz Aufforderung eine Hilfeleistung verweigern. Auch das ist bereits gesagt worden: Dazu gibt es bereits den § 323 c StGB. Das wird als unterlassene Hilfeleistung mit bis zu einem Jahr Haft bestraft. Auch wer das ohne Aufforderung tut auch das wurde bereits gesagt -, kann bestraft werden.

Ich bin sehr froh, dass der Innenminister die Zeit genutzt hat, sich mit den entsprechenden Studien zu beschäftigen. Die Gründe für so ein Verhalten sind darin aufgezählt worden. Handlungsbereitschaft und Handlungsfähigkeit zu erzeugen, sind hier sicherlich die richtigen Stichworte. In meiner alten Abteilung waren alle - meine Wenigkeit eingeschlossen - ausgebildete Ersthelfer mit alle zwei Jahre absolvierten Auffrischungskursen. Ich glaube, es wäre schön, wenn die Kolleginnen und Kollegen des Landtages auch da mit gutem Beispiel vorangehen könnten. Vielleicht lässt sich Entsprechendes organisieren. Auch ich hätte daran ein Interesse, weil bei mir die Auffrischung wieder ansteht. Sonst muss ich mich an meine alte Dienststelle wenden.

Es bleibt die Gruppe derjenigen Schaulustigen über, die Hilfsmaßnahmen behindern - sei es aktiv oder passiv. Hier ist zu diskutieren, ob die Einsatzkräfte vor Ort nicht mehr Rechtssicherheit und eine Präzisierung ihrer Möglichkeiten im Umgang mit den

(Werner Kalinka)

Umstehenden benötigen. Im Brandschutzgesetz beispielsweise sind die Rechte auf der Einsatzstelle in § 20 und die damit zusammenhängenden Ordnungswidrigkeiten in § 40 nur sehr allgemein geregelt. Das haben andere Bundesländer, die die Diskussion bereits vor uns geführt haben, anders und eventuell auch besser gelöst.

Denkbar wäre zum Beispiel ein Platzverweis, wenn die Polizei nicht vor Ort ist, der durch die Rettungskräfte ausgesprochen werden kann; die Möglichkeit der Verpflichtung von weiteren Helfern aus der Menge der Umstehenden oder der Inanspruchnahme benötigter Rettungsmittel von Dritten. Das würde übrigens auch die Diskussion über den Feuerlöscher bei dem schon angesprochenen Vorfall erledigen. Dann hätten sich die Rettungskräfte den Feuerlöscher ganz legal verschaffen können. Hierüber wollen wir mit den Vertretern der Einsatzkräfte in einen Dialog treten und klären, ob und wo Änderungen sinnvoll und notwendig sind.

Bei aller Empörung über den entsetzlichen Anlass, gerade für den von den Medien geschilderten Fall der Nichtherausgabe eines Feuerlöschers gibt es bereits den schon vorhin erwähnten Straftatbestand. Insofern haben wir auch nicht ganz verstanden, warum das der Anlass für eine Diskussion über eine Schocktherapie war.

Es haben schon viele gesagt: Menschliche Solidarität und Hilfsbereitschaft lässt sich nun einmal nicht verordnen. Der „galoppierende Voyeurismus“ ist sicherlich ein gesamtgesellschaftliches Problem. Ich habe heute gute Ansätze gehört, wie man dem begegnen kann. Nun hoffe ich, dass diesen Worten auch Taten folgen.

Wir sollten uns darauf konzentrieren, die Einsatzkräfte vor Ort zu stärken, anstatt sie mit unnötigen Ermittlungs- und fragwürdigen Erziehungsmaßnahmen zu belasten.

Abschließend hätte ich noch eine Anregung für einen Selbstversuch, falls immer noch jemand an die Wirksamkeit von Schocktherapie glauben sollte: Lassen Sie uns doch ein paar Bilder zu den entsprechenden gesundheitsschädlichen Folgen durch das Rauchen in der „Havanna Lounge“ aufhängen.

(Vereinzelter Beifall und Heiterkeit)

Es würde mich interessieren, wie viele Kolleginnen und Kollegen dann aufhören zu rauchen. Darüber sollten wir einmal nachdenken.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die FDP-Fraktion hat Herr Abgeordneter JensUwe Dankert das Wort.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir vorweg die Bemerkung, dass ich aus langjähriger Berufserfahrung die Gaffer-Problematik sehr gut kenne. Es steht dem Hohen Hause gut an, dass wir uns damit beschäftigen. Mit der heutigen Debatte bekunden wir auch all denjenigen unseren Respekt, die sich amtlich oder ehrenamtlich für die Not anderer Menschen einsetzen.

(Beifall)

Zum Antrag der Grünen: Der Minister hat bereits öffentlich - und das schon vor vielen Wochen und auch heute - wiederholt klargestellt, dass sein Vorstoß nur ein Vorschlag für eine vertiefte Diskussion zum Thema Gaffer sein sollte. Herr Kollege Fürter, ich hätte mir gewünscht, Sie hätten das heute in Ihrem Redebeitrag berücksichtigt. Das wäre ein bisschen fairer gewesen.

(Beifall bei der FDP und der Abgeordneten Herlich Marie Todsen-Reese [CDU])

Es gibt daher kein konkretes Konzept und auch keine konkreten Pläne für eine rechtliche Implementierung einer sogenannten Schocktherapie für Gaffer.

Die Grünen wollen unter anderem über die Häufigkeit und die Bedeutung des Phänomens der Behinderung von Rettungsmaßnahmen oder der unterlassenen Hilfeleistung berichtet wissen. Dazu möchte ich nur eines sagen: Die Bedeutung einer Behinderung von Rettungsmaßnahmen oder einer unterlassenen Hilfeleistung hängt nicht nur von der Häufigkeit ihres Auftretens ab, sondern im Wesentlichen auch von dem entstandenen Schaden. Welche Bedeutung es haben kann, wenn man wegsieht oder - noch schlimmer - hinsieht und nicht eingreift, will ich an folgenden Beispielen einmal deutlich machen:

Erstens. Auch wenn es schon ein bisschen länger her ist, beeindruckt es doch. Im Jahre 1989 brachen in München drei Kinder im Olympiasee ein und ertranken. 20 Schaulustige trauten sich nicht ins Wasser, obwohl der See nur 1,10 m tief ist.

Zweitens. Sie alle erinnern sich sicher an den Vorfall vor einigen Wochen auf der A 1, der auch Ursa

(Dr. Kai Dolgner)

che für unsere Debatte ist. Ein wohl betrunkener Autofahrer war frontal in das Auto einer jungen Frau gerast. Sie war im Auto eingeklemmt und konnte sich nicht befreien. Ein zufällig anwesender Berufsfeuerwehrmann aus Lübeck und sein Bekannter waren in dem Versuch auf sich allein gestellt, die junge Frau aus dem Auto zu befreien. Keiner der Umstehenden half. Es ist auch müßig zu betrachten, ob diese Schaulustigen den Unfallort dabei mit dem Handy filmten oder nicht. Viel schlimmer ist die Tatsache, dass sie nicht versuchten, Hilfe zu leisten und dass möglicherweise auch Rettungskräfte in ihrer Arbeit behindert wurden. Vielleicht hätte sonst die junge Frau diesen Unfall nicht mit ihrem Leben bezahlt.

Viele weitere Beispiele für Nichtstun oder Behindern durch Gaffen ließen sich anfügen, wobei der wohl krasseste Fall einer Behinderung von Rettungskräften in Berlin geschah, als ein Schaulustiger den Schlauch der Feuerwehr durchtrennte und damit dafür sorgte, dass ein Gebäude komplett abbrannte.

Man mag den Äußerungen des Innenministers letztlich nicht zustimmen, als er in einer seiner ersten Reaktionen auf den tragischen Unfall auf der A 1 die Forderungen nach einer Schocktherapie stellte. Er hat aber sehr wohl recht damit, dass wir hier ein neues Phänomen haben, das zumindest einer genaueren Betrachtung bedarf. Der Dank meiner Fraktion geht deshalb an den Innenminister, dass er mit seiner Initiative die Öffentlichkeit für das Gaffer-Problem - und ich sage bewusst: endlich - sensibilisiert hat.

(Beifall bei FDP und CDU)

Es gibt ein wachsendes Problem damit, dass Personen in einem Notfall anscheinend immer weniger geneigt sind zu helfen. Dabei sind die Gründe unterschiedlich. Zumeist wird die Notlage falsch eingeschätzt, oder die potenziellen Helfer sind in einer Schockstarre. Manchmal fehlen auch die Opfersignale, oder bei den Beteiligten besteht die Angst, das Falsche zu tun. Dabei ist vielen potenziellen Helfern, die doch nicht helfen, oftmals ein Gedanke fremd: Sie können selbst jederzeit auch unverschuldet Opfer werden. Wenn allein dieser Gedanke in der Bevölkerung mehr verfangen würde, würde die Bereitschaft selbst zu helfen deutlich steigen.

Gaffer, Schaulustige und sonstige Personen, die einfach nur hinschauen anstatt zu helfen, gibt es aber nicht nur im Rahmen von Unfällen, sondern auch bei Straftaten, wie zum Beispiel bei Überfällen. Passivität hilft dabei nur den Tätern. Sie ge

fährdet die Opfer zusätzlich. Untersuchungen der Ruhr-Universität - der Minister hat es eben angesprochen - haben ergeben, dass Täter mittlerweile immer mehr bewusst die Passivität der Mitmenschen bei der Begehung von Straftaten einkalkulieren. Sie rechnen schlicht nicht mehr damit, dass jemand dem Opfer zu Hilfe kommt. Das, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ist eine Entwicklung, die uns alle alarmieren muss.

(Beifall bei FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, CDU und FDP)

Um diesem Problem zu begegnen, bedarf es nach Auffassung der FDP- Fraktion grundsätzlich keiner Änderung geltender Rechtsnormen. Auch die Forderung nach einer Schocktherapie durch das Anschauen von Unfallbildern ist nach unserer Auffassung nicht der geeignete Weg.