Protokoll der Sitzung vom 09.03.2016

Wir müssen auch feststellen, dass das SchengenAbkommen, das die Schlagbäume zwischen unseren Ländern beseitigt hat und für uns so selbstverständlich war, nicht mehr funktioniert. Wir haben es seit Jahren versäumt, unsere europäischen Außengrenzen zu sichern. Eine unkontrollierte Einreise in die Europäische Union ist die Folge. Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Ministerin, müssen wir konstatieren: Die Schließung der innereuropäischen Grenzen ist eben auch eine Folge der versäumten Sicherung der Außengrenzen der Europäischen Union.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir müssen vor allem erkennen, dass diese Probleme kein Staat allein, auch Europa nicht allein lösen kann. Dies gilt ganz besonders für die Flüchtlingsfrage. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat schon früh darauf hingewiesen, dass zur Lösung der Flüchtlingsproblematik die Ursachen von Flucht und Vertreibung bekämpft werden müssen. Uns allen muss aber bewusst sein, dass dies einen langen Atem erfordert, hohen finanziellen Einsatz sowie unendlich viele Verhandlungen und diplomatische Arbeit in Europa, mit der Türkei, mit Syrien, dem Irak und vielen weiteren Nationen.

Deshalb müssen wir uns auch einmal die Frage stellen: Sind unsere Erwartungen an schnelle Lösungen möglicherweise zu hoch? Sind wir zu ungeduldig? Wenn wir einmal bedenken, wie lange in unserem eigenen Land Entscheidungen - zu weniger bedeutenden Themen - brauchen, dann verwundert es schon, was ganz selbstverständlich von anderen erwartet wird. Das Europäische Parlament, die Europäische Kommission, 28 nationale Parlamente und Regierungen und allein in Deutschland weitere 16 Landesparlamente und Regierungen sollen sich in nur sechs bis acht Monaten auf Lösungen zu den kompliziertesten Fragen der Aufnahme, Registrierung, Verteilung und Integration von Flüchtlingen aus den Krisengebieten dieser Welt geeinigt haben.

Zudem gilt es dann auch noch, die Interessen anderer Staaten zu berücksichtigen. Wir wissen auch: Die Türkei spielt dabei als Nachbarland zu Syrien als erstes Ziel von Millionen von Flüchtlingen und gleichzeitig auch als Tor nach Europa eine herausragende Rolle, und zwar unabhängig davon, ob uns das gefällt oder nicht.

(Astrid Damerow)

Die Vorschläge der Türkei auf dem EU-Gipfel Anfang dieser Woche sind sicherlich noch nicht die Lösung aller Probleme, aber sie sind ein Durchbruch. Sie bringen Bewegung in eine festgefahrene Situation, und sie dürfen auch nicht kleingeredet werden. Uns allen ist bewusst, dass die Türkei die Lage Europas für ihre Interessen ausnutzt. Dennoch bieten die Angebote die reale Chance, dem menschenverachtenden Treiben von Schleppern Einhalt zu gebieten. Sie bieten die Chance, den SchengenRaum wieder zu sichern, die Chance, dass Europa insgesamt human handelt, und die Chance, den unkontrollierten Zuzug von Flüchtlingen nach Europa in geordnete Bahnen zu lenken.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Union steht vor sehr großen Herausforderungen. Uns allen ist bewusst, dass viel Arbeit vor uns liegt. Gerade wir in Schleswig-Holstein als Grenzregion merken die Auswirkungen der Verunsicherung innerhalb der Europäischen Union immer als erstes.

Deshalb ist es wichtig, dass wir als Politiker an die Geduld und auch an die Sorgfalt aller Beteiligten appellieren, dass wir uns vielleicht auch dabei zurückhalten, die Ergebnisse, die in Brüssel erzielt werden, auch wenn sie noch nicht das erreichen, was wir erwarten, nicht sofort kleinzureden, sondern dass wir Mut machen, dass wir ein Stück weit zusammenhalten und dass wir vor allem unserer Bundesregierung den Rücken stärken; denn sie braucht eine starke Verhandlungsposition, um all die Probleme, die vor uns liegen, lösen zu können. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall CDU)

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt Frau Abgeordnete Regina Poersch zu Ihnen.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was macht eine erfolgreiche Europapolitik aus? Für Schleswig-Holstein würde ich sagen: Drehscheibe im Ostseeraum sein, guter Nachbar sein und vor allem die Chancen nutzen, die uns die EU bietet. Vielen Dank, Frau Ministerin Spoorendonk, für Ihren Bericht.

(Vereinzelter Beifall SPD, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und SSW)

„Eine demokratische und leistungsfähige Europäische Union liegt im ureigensten Interesse des Landes.“

Das können wir im Bericht nachlesen. Unser Beitrag als europäische Region ist vielleicht nur ein kleiner, aber der Bericht zeigt, wo und wie Schleswig-Holstein sich im europäischen Geschehen einbringt, nämlich wohltuend anders als mancher Nationalstaat, dem die aktuelle Situation zu komplex ist und für den die europäische Solidarität nur in eine Richtung funktioniert.

Die europapolitischen Aktivitäten der Landesregierung und des Parlaments gehen Hand in Hand. Unsere Initiativen auf Parlamentsforen im Ostseeraum flankieren die Arbeit der Landesregierung und umgekehrt. Das bestätigt auch der Bericht.

Die beliebte Frage lautet: Europa, was habe ich davon? - Meine Antwort lautet: Eine Menge, und das nicht nur monetär. - Es kommt uns direkt zugute, dass Energie- und Klimaschutzthemen, aber auch Themen wie Datennetze und Verbraucherschutz nicht national oder regional, sondern europäisch angepackt werden.

Für uns behalten die Kooperationen im Ostsee- wie auch im Nordseeraum Priorität, ebenso wie die deutsch-dänische Zusammenarbeit. Ebenso bleibt die Arbeitnehmerfreizügigkeit eine zentrale europäische Errungenschaft, von der wir in SchleswigHolstein profitieren.

Unser Land profitiert aber natürlich auch von den europäischen Strukturfonds. Mit der stolzen Summe von 780 Millionen € für die Förderperiode 2014 bis 2020 nutzen wir die Chance der regionalen Entwicklungsförderung.

(Vereinzelter Beifall SPD, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und SSW)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dabei können wir entgegen vieler Behauptungen sogar noch eigene Schwerpunkte setzen. Beispiel Landwirtschaft: Wir stärken Strukturen im ländlichen Raum, damit viele etwas von den Geldern haben und nicht nur Direktzahlungsempfänger.

Beispiel Wirtschaftsstruktur: Unser wichtiger Wirtschaftsfaktor Tourismus bleibt auch in der aktuellen Förderperiode förderfähig, und das ist gut so.

Um den Tourismus zu stärken, sind aus den zugesagten 271 Millionen € des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung 30 Millionen € für innovative Projekte an der Westküste reserviert. Die Konzepte aus dem Wettbewerb ITI-Westküste des Wirtschaftsministeriums werden nach derzeitigem Stand ein Investitionsvolumen von 170 Millionen € auslö

(Astrid Damerow)

sen. - Das ist Europa konkret, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Vereinzelter Beifall SPD)

Beispiel Europäischer Sozialfonds: Mehr als die Hälfte der 89 Millionen € stecken wir in Bildung, Ausbildung und Berufsbildung. So machen wir vor allem junge Menschen fit für den ersten Arbeitsmarkt, wo deren Potenzial so dringend benötigt wird.

Das operationelle ESF-Programm Schleswig-Holstein ist in seiner Durchführung und Umsetzung eine Erfolgsgeschichte und trägt aktiv zur Sicherung und Gewinnung von Fachkräften bei. Dabei unterstützt das Programm selbstverständlich auch die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt, die Förderung von sozialer Inklusion und die Bekämpfung von Armut und Diskriminierung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist Europa konkret.

(Vereinzelter Beifall SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann heute nicht über Europa sprechen, ohne zu betonen, dass weiterhin und vor allem immer dringlicher ein enormer Handlungsbedarf in der Flüchtlingspolitik besteht. Wie können europäische Mitgliedsstaaten auch nur annehmen, das Elend Geflüchteter ginge sie nichts an, wenn sie nur lange genug wegschauen und sich abschotten? Nein, hier geht es nur europäisch und auf keinen Fall anders. Nur eine Bündelung europäischer Kräfte kann zu einer gelungenen Integration von Flüchtlingen führen, bei der die Menschlichkeit an erster Stelle steht und Halb- und Unwahrheiten von Rechtspopulisten keinen Halt finden.

(Vereinzelter Beifall SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir statt nationalistischer Strömungen ein modernes Europa aufbauen wollen, dann müssen wir verstärkt in die Europabildung investieren.

Viel Gutes passiert hier schon mit inzwischen 40 Europaschulen in Schleswig-Holstein - Tendenz steigend. Schüleraustausche, Planspiele, europäische Debatten, das sind wichtige Erfahrungen, um zu lernen, über den Tellerrand zu schauen und ein Gespür für die Wichtigkeit eines friedlichen Europas zu bekommen, das sich vor allem gemeinsamen Werten wie der Humanität verpflichtet fühlt. Wenn es stimmt, dass der Jugend die Zukunft gehört, dann gehört ihr auch Europa. Achten wir gemeinsam darauf, dass wir unser Europa in ein paar Jahren noch wiedererkennen.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit und beantrage die Überweisung des Berichts in den Europaausschuss. - Vielen Dank.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW und Dr. Heiner Garg [FDP])

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat jetzt Herr Abgeordneter Bernd Voß das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal danke ich der Landesregierung für diesen sehr ausführlichen Europabericht und der Ministerin für Ihre sehr spannende Darstellung des Themas.

Dieser Bericht macht wieder einmal deutlich, wo und wie wir als Schleswig-Holstein in Europa vielfältig eingebunden sind. Er zeigt, dass über 70 Jahre europäische Integration ihre Früchte in einer nie zuvor dagewesenen Situation des Friedens in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und auch in der wirtschaftlichen und kulturellen Stabilität und Prosperität tragen.

Wenn Schleswig-Holstein seine Interessen als Region wahrnimmt, steht es zugleich in einer Verantwortung für Europa als Ganzes. Europa hatte in den vergangenen Jahrzehnten schon viele Krisen. In der Vergangenheit ging Europa meist gestärkt und konsolidiert aus diesen Krisen hervor.

Schauen wir uns aber einmal die jetzige Situation an: Schuldenkrise, Brexit, Kalter Krieg 2.0 und einiges mehr. Dann ist schon fraglich, ob das auch dieses Mal gelingen wird. Vor zwei Wochen sagte der Ratspräsident der EU, Donald Tusk:

„Die vergangene Tagung des Europäischen Rates war eine der schwersten meiner Amtszeit.“

Es ging dabei um Brexit, das mögliche Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU, und es ging um Migration und Flüchtlingskrise. Die Krise ist ernster, sie ist tiefgreifender. Europa braucht den Willen, den Mut, die Zeit und die Kraft sowie Verhandlungsbereitschaft, um sie zu meistern. Dabei sind nicht Zoff, Kleingeist und dummes Geschwätz auch von einem Ministerpräsidenten eines Bundeslandes über einen Unrechtsstaat

(Regina Poersch)

hier in Deutschland hilfreich, sondern das ist zerstörerisch.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Ekkehard Klug [FDP]: Aber Herr Kretschmann hat ihn verteidigt!)

Die gestrigen Berichte vom erneut vertagten Europäischen Rat in Brüssel zeigen, in welche Richtung die Flüchtlingspolitik der EU gehen könnte: Geld im Tausch gegen die Rücknahme von Flüchtlingen. Ja, Europa braucht die Türkei für die Lösung der Flüchtlingskrise. Ja, es muss auch mit anderen europäischen Nachbarn über Zusammenarbeit reden, die auch irgendwann in der Mitgliedschaft enden kann. Aber auch nein: Die Wahrung von Grundrechten muss ein nicht verhandelbarer Wert der EU bleiben. Bei dem, was vorgeschlagen ist, sind die derzeit unterbrochenen Verhandlungen nicht einmal als kleiner Teilerfolg zu werten. Diese Verhandlungen brauchen zusätzlich auch die Beteiligung des Europäischen Parlaments.

Es müssen letztlich die Verfahren eingehalten werden. Sonst werden wir überhaupt keine tragfähigen Beschlüsse bekommen, sondern nur eine Durchnummerierung von Beschlüssen, die immer wieder neu sind und immer wieder nicht durchtragen. Es war eine Leistung, die Deutschland durch den stringenten Kurs der Kanzlerin Merkel 2015 vollbracht hat. Mit dem Offenhalten der Grenzen für 1 Million Flüchtlinge, die zu uns kamen, begann für uns auch ein neues Kapitel der europäischen Entwicklung. Noch bei Beginn des Syrienkrieges 2011 tat Bundesinnenminister Friedrich damals kund, dass die Flüchtlinge von Lampedusa kein europäisches, sondern ein italienisches Problem seien.

Ich sage ganz klar: Es gibt kein Europa à la Carte, nicht für das Vereinigte Königreich, nicht für Dänemark, nicht für Italien und nicht für Deutschland. Die Probleme, vor denen wir stehen, sind keine nationalen, sie sind europäischer Natur und müssen auch auf dieser Ebene gelöst werden.

(Beifall FDP und vereinzelt SPD)

Darum brauchen wir auch eine gemeinsame europäische Grenzagentur zur Sicherung der gemeinsamen europäischen Außengrenzen. Dazu gehört aber auch eine gemeinsam finanzierte und organisierte Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge auf europäischem Boden.

Dazu gehört auch eine grundlegende Reform des Dublin-Systems. Sie wissen alle, das jetzige System ist höchst unsolidarisch, hat ein unhaltbares Ungleichgewicht zwischen den Mitgliedstaaten ge