Protokoll der Sitzung vom 19.02.2014

(Zuruf)

- Von mir aus; ich bin da groß im Gönnen. Also: Sehr gelehrter Kollege Tietze! Sie haben einen flammenden Appell in Bezug auf die Stabilität der Beitragssätze in den Sozialversicherungssystemen formuliert. Vor dem Hintergrund möchte ich Sie gern daran erinnern, warum die Vorfälligkeit eingeführt worden ist. Sie ist doch von einer rot-grünen Bundesregierung kurz vor der Bundestagswahl 2005 eingeführt worden, weil man die ansonsten unausweichliche Beitragserhöhung in den Sozialversicherungssystemen verhindern wollte. Nichts anderes ist der Grund für die Einführung der Vorfälligkeit gewesen. Dass Sie sich heute hier hinstellen und so tun, als ob das damals nichts mit einem sehr durchschaubaren politischen Manöver zu tun hatte, das finde ich ein bisschen unehrlich, um es einmal freundlich zu formulieren.

(Beifall FDP und Hartmut Hamerich [CDU])

Herr Kollege Winter, da Sie jetzt wieder auf Ihrem Platz sitzen, können Sie mir, da Sie dem letzten Landtag ja nicht angehört haben, mit Sicherheit verraten, in welchem Plenarprotokoll oder in welchem Zeitungsartikel Sie gelesen haben, dass ich mich öffentlich gegen die Rücknahme der Vorfälligkeit ausgesprochen habe, und das auch noch mit den abstrusen Argumenten, die Sie hier vorgetragen haben.

Wo ist denn die Stelle in dem Plenarprotokoll aus der letzten Legislaturperiode, und in welchem Zeitungsartikel haben Sie das gefunden?

(Lars Winter [SPD]: Nicht in einem Plenar- protokoll und auch nicht in einem Zeitungs- artikel!)

- Sondern?

(Zuruf Lars Winter [SPD])

- In Berichten von Verbänden, die mit mir gesprochen haben? - Ich kann Ihnen sagen, mit wem ich gesprochen habe.

(Zurufe)

- Ja, suchen Sie das heraus. Ich habe mich dazu bisher ganz bewusst öffentlich weder ablehnend noch zustimmend geäußert. Wenn Sie behaupten, ich hätte hier irgendetwas mit Bausch und Bogen abgelehnt, mit Ihren Argumenten, dann finde ich das bemerkenswert, wenn nicht sogar bedenklich.

(Zurufe)

Auch Ihre heutige Ablehnung, über die Initiative zumindest im Ausschuss noch einmal reden zu wollen, finde ich schon deswegen bemerkenswert - der Kollege Breyer hat daran erinnert -, weil es das politische Versprechen gegeben hat, bei entsprechender Finanzlage der Sozialversicherungssysteme die Vorfälligkeit wieder zurückzunehmen.

(Unruhe)

Unabhängig davon, wer den größten Anteil daran trägt, dass die Finanzsituation bei den Sozialversicherungssystemen derzeit Gott sei Dank ist, wie sie ist - das wird sich bei der Politik der Großen Koalition im Bund ja sehr schnell ändern -,

(Vereinzelter Beifall FDP und PIRATEN)

wenn nicht jetzt, wann dann ist die Situation der Sozialversicherungssysteme so, dass man über die Umsetzung einer solchen Initiative zumindest im Ausschuss spricht?

(Vereinzelter Beifall FDP und PIRATEN)

Das ist ein Armutszeugnis, was Sie hier argumentativ geliefert haben. Sie wissen das ganz genau. Deswegen schämen Sie sich.

(Zuruf Dr. Andreas Tietze [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])

- Ich weiß, dass ich Minister gewesen bin. Der Kollege Vogt hat auf Ihre Frage genau richtig geantwortet.

(Zuruf Dr. Andreas Tietze [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])

- Der hat genau richtig geantwortet. Sollen wir, weil wir in zweieinhalb Jahren nicht alles das geschafft haben, was wir uns für fünf Jahre vorgenommen haben, keine Initiativen mehr starten? Wenn das Ihr Anspruch ist, dürfen Sie die nächsten 15 Jahre hier keine Initiativen mehr starten.

(Vereinzelter Beifall FDP)

(Flemming Meyer)

Für die Landesregierung erteile ich Frau Ministerin Alheit das Wort.

(Christopher Vogt [FDP]: Wo hat er denn ge- sagt, dass er das nicht will? - Weitere Zurufe)

- Das Wort hat jetzt die Frau Ministerin, und ich bitte um Aufmerksamkeit.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vielleicht kann ich ein bisschen Licht ins Dunkel bringen; ich war ja damals noch nicht hier. Ich möchte am Anfang klarstellen, dass diese Landesregierung nicht beabsichtigt, sich auf Bundesebene für die Rücknahme der Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge einzusetzen.

Ich habe recherchiert, dass das in der vorletzten Wahlperiode tatsächlich Gegenstand einer Kleinen Anfrage war. In der Vorbereitung auf diese Thematik habe ich der Aktenlage entnommen, dass es in der letzten Wahlperiode Thema in meinem Haus war, das zu prüfen, und die Entscheidung war, nichts rückgängig zu machen, keine Initiative zu starten. Ich weiß nicht, wo Sie sich je geäußert haben; ich kenne auch keine Zeitungsartikel. In der letzten Wahlperiode ist jedenfalls nichts passiert. Ich finde das nach wie vor richtig, und ich möchte gern begründen

(Unruhe)

- auch wenn es nicht wahnsinnig viele zu interessieren scheint -, warum das nach wie vor richtig ist.

Zur Jahrtausendwende - das ist hier in verschiedener Form schon gesagt worden - standen die Systeme der Sozialversicherung ziemlich unter dem Druck, dass es sowohl auf der Ausgabeseite als auch auf der Einnahmeseite schwierig war. Deshalb ging es darum, die Beitragssätze zu stabilisieren.

Allein der seit dem 1. Januar 2003 geltende Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung von 19,5 Prozentpunkten drohte zum 1. Januar 2006 auf 20 % zu steigen.

Das Gesetz zur Änderung des SGB IV und SGB VI vom 3. August 2005 verfolgte daher das Ziel, durch Vorverlegung der Fälligkeit des Gesamtsozialversicherungsbeitrags die Kassenlage der gesetzlichen Sozialversicherungsträger zu verbessern. Es ging damals um 20 Milliarden €, davon allein 9,6 Milliarden € für die gesetzliche Rentenversicherung.

Es ist zu dem Zeitpunkt tatsächlich dazu gekommen, dass die Beitragssätze 2006 stabil gehalten werden konnten. Das heißt, die Maßnahme war erfolgreich. Sie mussten dann zwar zum 1. Januar 2007 auf 19,9 % erhöht werden. Da blieben sie dann aber bis 2011 und wurden dann aber schrittweise wieder auf 18,9 % gesenkt. Meiner Ansicht nach ist dadurch ganz klar ersichtlich, dass das, was damals als Stabilisierung geschehen ist, bis heute seine Nachwirkung hat.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, niedrigere Lohnzusatzkosten waren ein Faktor der Gesamtstrategie der damaligen Regierung: für mehr Wachstum, für mehr Beschäftigung und zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts. Gerade Letzteres möchte ich mit Blick auf den vorliegenden Antrag unterstreichen; denn davon haben die Unternehmen ja schließlich profitiert.

Worum geht es hier und heute? Der Effekt der Gesetzesänderung 2006 war - das ist schon einmal gesagt worden -, dass die Sozialversicherungsträger im Januar Beiträge aus Dezember 2005 und auch schon die Beiträge für Januar 2006 erhielten, also in dem Jahr Beiträge für 13 Monate verbuchen konnten. Eine Rücknahme dieser Maßnahme hätte genau den gegenteiligen Effekt. Den Sozialversicherungsträgern würde eine ganze Monatsbeitragseinnahme entfallen. Das sind - das war hier eben strittig nach Auskunft der letzten Landesregierung, die von Union und FDP getragen wurde, 25 Milliarden €, die zu verkraften wären, allein 14 Milliarden € im Bereich der Rentenversicherung. Wenn man das ausgleichen wollte, wären das 1,2 Prozentpunkte beim Beitragssatz.

Hinzu kommt ein Argument, das vorhin als nicht besonders schlagkräftig bezeichnet wurde. Ich finde schon, dass man darüber ehrlicherweise sprechen muss. Denn anders, als der FDP-Antrag suggeriert, halte ich die Vorstellung, wenn man mehr Verwaltungsaufwand, der mittlerweile eingespielt ist -

(Zuruf Christopher Vogt [FDP])

- Ich kann trotzdem sagen, was ich zu sagen habe.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Das ist weitgehend eingespielt, und es ist automatisiert. Das würde natürlich auch zu einem Verwaltungsmehraufwand führen, für den ich keinen Anlass sehe.

Man kann sicherlich darüber streiten, ob die jetzige Situation der Sozialversicherungsträger eine Rücknahme dieser Maßnahme verkraften würde. Aber

die kleinste Konjunkturschwäche würde zu einer Beitragssatzerhöhung führen.

Man darf - das ist schon gesagt worden - zwei weitere Dinge nicht vergessen: zum einen die demografische Entwicklung, die ja das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentenbeziehern weiter verändern wird. Zum anderen können die Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht ernsthaft bedeuten, dass wir soziale Gerechtigkeit und Geschlechtergerechtigkeit nicht mehr umsetzen können und dafür kein Geld haben.

Die Koalition auf Bundesebene hat deshalb vereinbart, die stabilen finanziellen Verhältnisse der gesetzlichen Rentenversicherung für Leistungsverbesserungen zu nutzen. Ich halte diese Verbesserungen für in der Sache berechtigt und sehe deshalb nicht, dass der skizzierte Wegfall von Einnahmen bei dieser Größenordnung in irgendeiner Weise in die Landschaft passt. - Danke.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Vielen Dank, Frau Ministerin. - Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen und komme deshalb zur Abstimmung. Es ist beantragt worden, den Antrag Drucksache 18/1526 (neu) an den Sozialausschuss und Wirtschaftsausschuss zu überweisen. Wer diesem Antrag zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Das sind die Abgeordneten der FDP-Fraktion, der CDU-Fraktion sowie der Piratenfraktion. Wer lehnt die Ausschussüberweisung ab? - Das sind die Kolleginnen und Kollegen von SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD. Enthaltungen sehe ich nicht.

(Zurufe)

Dann kommen wir zur Abstimmung in der Sache, die vom Kollegen Lars Winter beantragt wurde. Wer dem Antrag Drucksache 18/1526 (neu) seine Zustimmung erteilen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Das sind die Abgeordneten der FDP- und der CDU-Fraktion. Wer lehnt diesen Antrag ab? - Das sind die Abgeordneten von SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD. Wer enthält sich? - Das sind die Kolleginnen und Kollegen der Piratenfraktion. - Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW mehrheitlich abgelehnt.