Protokoll der Sitzung vom 18.09.2015

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die Sitzung und begrüße Sie an diesem Freitagmorgen sehr herzlich. Bevor wir in die Tagesordnung einsteigen, gratuliere ich mit Ihnen gemeinsam der Kollegin Kirsten EickhoffWeber ganz herzlich zum Geburtstag.

(Beifall)

Auf der Tribüne begrüße ich Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Altenholz und der Gesundheits- und Krankenpflegeschule der Segeberger Kliniken sowie fünf ehrenamtliche Flüchtlingshelfer aus Flensburg. - Seien Sie uns alle sehr herzlich willkommen hier im Kieler Landeshaus!

(Beifall)

Ich begrüße auch Herrn Heinz-Werner Jezewski, einen ehemaligen Landtagskollegen der letzten Legislaturperiode. - Ganz herzlich willkommen hier bei uns!

(Beifall)

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1 A, 20, 21, 26, 30 und 49 auf:

Gemeinsame Beratung

a) Regierungserklärung Flüchtlinge in Schleswig-Holstein - zusammenstehen, helfen, gemeinsam Heimat schaffen

b) Für eine neue Flüchtlingspolitik - „unsichere Herkunftsländer“ festlegen

Antrag der Fraktion der PIRATEN Drucksache 18/3342

c) Erstaufnahmeeinrichtungen in SchleswigHolstein

Antrag der Fraktion der FDP Drucksache 18/3343 (neu)

d) Flüchtlingen helfen - Asylmissbrauche bekämpfen

Antrag der Fraktion der CDU Drucksache 18/3349 (neu)

e) Für eine bessere Flüchtlings- und Einwanderungspolitik

Antrag der FDP Drucksache 18/3353

Schleswig-Holsteinischer Landtag (18. WP) - 98. Sitzung - Freitag, 18. September 2015 8271

f) Menschenwürdige Unterbringung sichern! Gemeinsames Konzept von Land und Kommunen zur Unterbringung von Flüchtlingen im Land Schleswig-Holstein Halbjährlicher schriftlicher Sachstandsbericht der Landesregierung über die Umsetzung des Flüchtlingspaktes

Bericht der Landesregierung Drucksache 18/3340

Das Wort zur Begründung wird offenbar nicht gewünscht. Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten Torsten Albig.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir leben in wahrlich außergewöhnlichen Zeiten. Außergewöhnlich sind die Zeiten, weil die Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht planbar waren, nicht vorhersehbar waren. Wir waren auf sie nicht eingestellt; weder mental noch in irgendeinem unserer Haushalte. Wir leben aber auch und gerade in außergewöhnlichen Zeiten, weil wir gerade erleben, dass sich Geschichte verändert. Wir leben in einer Zeit, in der Geschichte einen anderen Lauf nimmt, und wir sind es - das macht dies so besonders außergewöhnlich -, die dazu beitragen können, dass Geschichte die richtige Richtung nimmt. Das sind wir, die Zivilgesellschaft in unserem Land.

Wenn wir auf das schauen, was so viele Tausend Frauen und Männer jetzt gerade zu dieser Stunde überall in unserem Land tun, um dieser außergewöhnlichen Herausforderung gerecht zu werden, dann müssen wir miteinander festhalten: Es macht uns alle sehr stolz und sehr glücklich, für diese Menschen Politik machen zu dürfen.

Wir müssen feststellen, dass die Zivilgesellschaft den in unser Land kommenden Frauen und Männern in unserem Land ein Versprechen gegeben hat. Wir müssen feststellen, dass wir das Versprechen gegeben haben: Wir schauen nicht zu; wir warten nicht ab; wir sind bereit, euch zu helfen; woher auch immer ihr kommt, wer auch immer ihr seid, an wen auch immer ihr glaubt. Wir stehen an eurer Seite.

Dieses Versprechen, das die Menschen in unserem Land gerade geben, sollte bindend für das sein, was wir tun. Wir sollten alles tun, um unsere Gesellschaft und die Menschen in die Lage zu versetzen, dieses Versprechen einzuhalten.

Es ist bewundernswert, wenn Sie in Flensburg sind und dort erleben, dass es dort auf dem Bahnhof heißt: „Moin! Refugees welcome!“ In dieser Situation hätten wir vor Monaten noch erlebt, dass die Bürokratie und die Bahnverwaltung nicht damit umgehen können, dass wir gar nicht so schnell Unterstützung und Hilfe organisieren können. Jetzt sind innerhalb von wenigen Stunden, als auf diesem kleinen Bahnhof Hunderte wahrlich strandeten, viele Menschen zusammengekommen und haben eine Bahnverwaltung vorgefunden, die sagte: Ja, wir machen mit; wir geben euch einen Raum, der leer steht, ihr könnt ihn nutzen. Auf einmal gibt es einen Ort, an dem dieses „Moin“, die norddeutsche Übersetzung von „Refugees welcome“, erlebbar und spürbar wird für jeden, der kommt. Das ist gefühlte Humanität.

Es ist bewegend zu erleben, dass sich die Bundeswehr heute immer stärker als jemanden definiert, der mit helfenden Händen zur Seite steht, dass auch dort möglich ist, was nie möglich war. Als wir die Frage gestellt haben, ob wir Putlos nutzen können, haben wir in Stunden - nicht in Wochen oder Monaten, wie in den normalen Prozessen unserer Zeit eine Antwort mit der Zusage bekommen: Es wird geholfen!

Es ist bewegend zu sehen, wer sich alles auf den Weg macht. Ich war gestern in NeumühlenDietrichsdorf bei der Lesung des Büchereivereins. Alles, was dort passiert, soll helfen, dass die rund 80 jungen Männer, die in der benachbarten Schule Quartier gefunden haben, unterstützt werden. Das Geld von jedem Wasser und von jedem Buch, das verkauft wird, wird unmittelbar weitergegeben. Dort wird gesammelt und unmittelbar weitergegeben. Dort wird darüber nachgedacht, wie man die Bücher zusammenbekommt, um sie diesen jungen Männern zu geben. Es ist bewegend zu sehen. Es ist so greifbar, genau das passiert. Niemand von denen war vorbereitet. Es ist ein Büchereiverein. Dort kümmern sie sich seit Jahren darum, dass in Kiel Bücher gelesen werden können. Alles, was sie tun, ordnen sie diesem Versprechen unter. Sie leben in unserem Land Humanität.

Ich denke, es ist Zeit und Anlass, von dieser Stelle all diesen Menschen, verkörpert in den Menschen, die ich gestern Abend sinnbildlich für alle anderen getroffen habe, ein großes und herzliches Dankeschön zu sagen. Wir sind stolz, dass unsere Gesellschaft heute so aussieht und nicht anders, meine Damen und Herren.

(Beifall SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP, PIRATEN und SSW)

8272 Schleswig-Holsteinischer Landtag (18. WP) - 98. Sitzung - Freitag, 18. September 2015

(Vizepräsidentin Marlies Fritzen)

Wir danken all diesen Menschen. Wir danken ihnen überall dort, wo sie sich mutig auf den Weg machen. Wir danken ihnen besonders intensiv da, wo sie in der Lage waren, ihre Ängste und Sorgen zu überwinden und Humanität vor Angst zu stellen.

Ich erinnere mich genau an die Gespräche mit dem Bürgermeister in Boostedt, der überhaupt keine Scheu hatte, auch zu beschreiben, welche Ängste er hatte, dies mit seiner Gemeindevertretung zu diskutieren, dort bereit und einer der ersten zu sein, der sagt: Wir sind da. - Wie er es geformt hat, wie er seine Gemeindevertretung mitgenommen hat, wie er am Ende überzeugt hat, was Zivilgesellschaft heute sein und was sie leisten kann, das zeigt, dass die wahre und starke Aufgabe, vor der wir stehen neben der Bewältigung dessen, was wir im Augenblick ad hoc zu tun haben -, ist, die lange Linie zu ziehen, damit es gelingen kann, mit diesen Frauen und Männern, mit den Jungen und Alten, gemeinsam in unserem Land Schleswig-Holstein Geschichte neu zu schreiben und zu formen. Dies geschieht immer zentral dort, wo wir leben, in unseren Gemeinden, auf den Marktplätzen, in Dörfern und Städten, überall dort, wo wir zusammenkommen, wo man sich jetzt natürlich die Frage stellt, wie das funktionieren mag, ob wir das gemeinsam leisten können, ob wir dieser Herausforderung gerecht werden können.

Ehrlicherweise können wir heute eine Prognose abgeben, dass es klappen kann, wenn wir alle diesen Weg gemeinsam beschreiten. Wir sind nicht ganz sicher, weil wir natürlich nicht alle Rahmenbedingungen aus Schleswig-Holstein steuern, schon gar nicht aus Boostedt. Wir sind nicht ganz sicher, aber wir sind sicher: Wenn wir diese Kräfte bündeln, verkörpert in solchen Persönlichkeiten wie dem Boostedter Bürgermeister, dann kann das klappen, dann kann das eine Geschichte werden, die in die richtige Richtung geht - auch für unser Land.

Wir wissen, wir haben immer wieder solche Geschichten gehabt. Erinnern Sie sich an die 50er-Jahre.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Damals waren Sie noch gar nicht geboren!)

Dieses Land hat es in großen Mühen versucht und hat es immer geschafft. Wir werden nicht allen Ernstes bestreiten können, dass das etwas ist, was unser Land prägt -, die, die schon geboren waren, und die, die nachgeboren sind. Gerade das zeichnet es aus, dass die Nachgeborenen sehen, was an Tradition in ihrem Land vorhanden ist, und nicht so tun, als hätten sie damit nichts zu tun, Herr Kollege.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Wenn wir die zentrale Herausforderung beschreiben, die wir jetzt zu leisten haben, dann ist es wohl die, unsere Kommunen in den Stand zu versetzen, bei dieser Arbeit erfolgreich zu sein. Der zentrale Faktor, den wir dort miteinander erringen müssen, ist, so denke ich, Zeit: unseren Kommunen Zeit zu geben, Strukturen zu bilden, sich einzurichten und sich vorzubereiten, um nicht von täglich neuen Entwicklungen überrollt zu werden, sondern im besten Sinne vorbereitet zu sein.

Unser Dank gilt an dieser Stelle dem Innenminister und seinem Team. Es war gut - nicht jeder hat das im Frühjahr so gesehen -, dass sich Schleswig-Holstein auch gedanklich, aber vor allem von den Ressourcen her früher auf den Weg gemacht hat, um diese Herausforderungen in ihrer wahren Größe zu sehen. Was waren es für schwere Debatten, die wir Anfang des Jahres geführt haben, als wir gesagt haben: Es werden mindestens doppelt so viele; wir stellen uns auch in der Erstaufnahme darauf ein, dass es doppelt so viele Menschen werden. - In jeder Runde in Berlin wurde man eher ausgelacht und als Prophet von Horrorzahlen beschrieben. Jetzt stellen wir fest, dass diese doppelte Zahl nicht einmal halb so groß ist wie die, die es in diesem Jahr tatsächlich sein wird. Die Zahl 400.000, auf die wir uns eingestellt haben, ist lange vergessen. Eine Million ist jetzt die Zahl der Menschen, auf die wir uns in diesem Jahr einstellen.

Viele haben sich nicht so früh vorbereitet. Wir haben früh gesagt: 4.000 Erstaufnahmeplätze, gerade weil wir unseren Kommunen mehr Raum geben müssen, weil wir es für richtig halten, dass zwischen dem Ankommen in unserem Land und dem Weitergehen in die kommunale Welt möglichst der letzte Koalitionsausschuss hat geschrieben, sechs Monate sollen es sein - sechs Wochen plus x liegen sollen. Das wäre schon ein großes Ziel. Aktuell sind wir bei zehn, elf oder zwölf Tagen - wenn überhaupt.

Hätten wir uns aber nicht vorbereitet, wo wären wir dann? Wir sehen auf Bundesebene wieder die Einstellung: Wir brauchen in Deutschland 150.000 Erstaufnahmeplätze. Das beschreibt ziemlich präzise - Schleswig-Holstein entspricht 3,38 % von Deutschland - eine Größenordnung von 5.000. Mit Stand von gestern sind wir bei 8.500 besetzten Erstaufnahmeplätzen.

Deswegen ist die klare Botschaft: Auch hier werden wir nicht warten, bis uns irgendjemand aus Berlin

Schleswig-Holsteinischer Landtag (18. WP) - 98. Sitzung - Freitag, 18. September 2015 8273

(Ministerpräsident Torsten Albig)

sagt: Jetzt verändern wir die Zahl auf 450.000 Plätze - so hoch müsste sie nämlich sein -, sondern wir beschreiben sie für uns selber und werden alles unternehmen, um die Kapazitäten in Schleswig-Holstein in kürzester Zeit, gerade weil wir es den Kommunen gegenüber leisten müssen, auf 15.000 Erstaufnahmeplätze zu erhöhen, meine Damen und Herren. Das entspricht auf Deutschland hochgerechnet einem Wert von ungefähr 450.000 Plätzen, die wir in Deutschland brauchen. 150.000 Plätze werden nicht reichen, um der Herausforderung gerecht zu werden, zwischen dem Ankommen in unserem Land und dem Weitergehen in die Kommunen einen Puffer zu haben, in dem wir das Kennenlernen ermöglichen, erste Sprachkenntnisse vermitteln, die Gesundheit untersuchen, auch erste Kontakte in die Arbeitswelt vorbereiten und anderes. All das wird nicht in sechs Tagen, nicht in zehn Tagen und auch nicht in zwei Wochen gehen.

Nehmen wir die Zahl einmal, um zu beschreiben, welche Entwicklung wir haben, wenn wir Zeit und auch Struktur gewinnen. In einer Welt, in der wir 30.000 Menschen im Jahr bekommen, die aber planbar mit 2.500 jeden Monat zu uns kommen, erreichen wir mit 15.000 verlässlichen Erstaufnahmeplätzen einen Vorlauf von bis zu sechs Monaten bis zur Weitergabe in die kommunale Welt. Dies funktioniert im Augenblick nicht, weil wir gerade Tage haben, an denen 1.000 Menschen kommen und in nicht einem Monat 2.500. Aber wenn es uns gelänge, dies im Zusammenwirken aller Kräfte wieder zu verändern und vorzubereiten, dann sind wir damit so aufgestellt, dass man, auch auf eine lange Strecke gesehen, in Ruhe ankommen, einmal durchatmen und Kontakt zu dieser Gesellschaft, mit den Frauen und Männern, aufnehmen kann. Sie würden auch wieder Kraft und Zeit gewinnen, sich so einzusetzen, wie wir es von ihnen wünschen und wie sie es gern möchten. Das können wir jetzt noch nicht. Das wissen wir. Dennoch ist das unser Ziel. Zeit ist ein wichtiger Faktor. Natürlich brauchen unsere Kommunen Geld und Unterstützung an allen Ecken und Enden.

Wir haben uns in dieser Woche mit den Kommunen getroffen. Ich habe den Kommunen namens der Landesregierung zugesagt, dass bei allen Fragen, die wir miteinander zu beantworten haben, immer der Haushalt der Realität folgt, und wir nicht davon ausgehen, dass sich die Realität dem Haushalt anpassen wird. Der Haushalt folgt der Realität, meine Damen und Herren.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Wir werden die Kommunen nicht im Stich lassen. Wir werden sie nicht bei dieser großen Veränderung in unserer Zeit im Stich lassen.