Protokoll der Sitzung vom 23.01.2019

Ich erteile das Wort für die Landesregierung der Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Karin Prien.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bildungsgerechtigkeit ist eines der zentralen politischen Ziele, an denen Politik heute zu Recht gemessen wird.

(Beifall CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Die Landesregierung hat nicht zuletzt deshalb im Koalitionsvertrag vereinbart - ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten -:

„Unser gemeinsames Ziel ist es, allen Menschen in Schleswig-Holstein durch beste Bildung und individuelle Förderung größtmögliche Chancen und beste Entwicklungsperspektiven zu eröffnen. Wir wollen gerechte Chancen für jedes Kind …“

Dieses Ziel verbindet uns. Die Realität ist aber auch, dass uns wissenschaftliche Studien Mal um Mal bescheinigen, dass wir in Deutschland - leider trifft das auch für Schleswig-Holstein zu - nicht gut genug bei der Überwindung herkunftsgerechter Ungerechtigkeit im Bildungssystem sind. Deshalb haben wir uns unter dem Arbeitstitel „Bildungsbonus“ auf den Weg gemacht, gezielt Schulen mit besonderen Herausforderungen besser zu unterstützten als bisher.

Wir müssen nach meiner festen Überzeugung dabei vor allem von der Defizitorientierung wegkommen, wir müssen hinkommen zu einem ermutigenden Blick auf die großen Potenziale der Schülerinnen und Schüler an diesen Standorten. Ihnen müssen wir eine Perspektive bieten. Wir müssen die Schülerinnen und Schüler an diesen Schulen besser im Blick haben und ihre Potenziale besser, vor allem

(Minister Hans-Joachim Grote)

wirksamer, fördern. Es gibt also dringenden Handlungsbedarf, und das nicht erst, seitdem Jamaika regiert.

Schleswig-Holstein ist das erste Flächenland, das sich nun auf den Weg macht, ein solches Programm zu konzipieren und umzusetzen. Das ist übrigens ein ehrgeiziger Plan - nicht nur zeitlich. Eine besondere Herausforderung ist, zu einer gerechten Konzeption zu kommen. Es geht nämlich darum, einzelne Schulen besser auszustatten als andere. Hierüber haben wir Rechenschaft abzulegen.

Die Koalition hatte sich vorgenommen, mit diesem Programm zum Schuljahr 2020/21 mit einem zusätzlichen finanziellen Aufwand in Höhe von 2 Millionen € zu starten. Wir haben uns jetzt, weil die Zeit drängt, entschieden, früher zu beginnen, ein Schuljahr früher zu starten und mit mehr Geld, nämlich mit 3,3 Millionen € im ersten Jahr.

Wir haben uns, um dieses Programm gut umzusetzen, national und international nach vergleichbaren Konzeptionen umgeschaut. Wir haben wissenschaftliche Expertise eingeholt. Wir haben sehr intensiv gefragt: Was funktioniert, und wie können wir die zusätzlichen Mittel wirksam und gerecht einsetzen? Unser Anspruch war Best Practice.

Unser „Perspektivschul“-Programm ist ein Handlungskonzept zur Förderung von Schulen, an denen viele, den Bildungserfolg erschwerende Faktoren zusammenkommen. Die Eckpunkte des Berichtes, der Ihnen vorliegt, beschreiben im Kern einen Prozess, bei dem alle Akteure - Schulen, Kommunen und Schulträger sowie Expertinnen und Experten aus der Bildungsforschung - zusammenwirken sollen. Für mich gilt in dem ganzen Prozess folgender Anspruch: nah an der Realität mit passgenauen Lösungen.

Wir alle wissen, dass Schleswig-Holstein - da unterscheiden wir uns von den Stadtstaaten Hamburg und Berlin - dabei sehr unterschiedlich geprägt ist. Wir haben Stadtteile in den kreisfreien Städten, die mit einem schwierigen Image und sozialen Problemen zu kämpfen haben. Es gibt aber auch ländliche Regionen mit besonderen Herausforderungen. Wir dürfen uns keinesfalls damit abfinden, dass der Wohnort, in dem Kinder aufwachsen, darüber entscheidet, ob sie eine erfolgreiche Bildungsbiografie haben werden oder eben nicht.

(Beifall CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Dabei sollten wir uns nicht überheben. Bildungspolitik allein wird dieses Problem natürlich nicht lö

sen können. Stadtentwicklung und Sozialpolitik gehören ebenso dazu, um wirksame Lösungen zu entwickeln. Deshalb müssen alle an dieser Stelle Kommunen, Land und Bund - Hand in Hand arbeiten.

Wir starten dabei auch nicht bei null. Schulsozialarbeit, schulische Assistenzen, offene und gebundene Ganztagsangebote, schulische Erziehungshilfe, Sprachförderungs- und Integrationsvertrag, Fortbildungsmittel für DaZ-Lehrkräfte, „Kein Kind ohne Mahlzeit“, zusätzliche Lehrerstellen, all dies sind Maßnahmen und Projekte, die es in unserem Land bereits heute in differenzierter Weise gibt. Wichtig ist mir: Das Programm soll diese Maßnahmen nicht ersetzen. Mitnahmeeffekte müssen wir dabei vermeiden. Auch das Landesinstitut, unser IQSH, bietet mit seiner Schulentwicklungsberatung und mit seiner Präventionsberatung beispielhalft vielfältige Beratung an.

Unser Konzept greift all dies auf. Daher erfolgt die Einführung in drei Schritten. Aktuell erstellt das IPN einen datengestützten Sozialatlas als Bestandsaufnahme. Er dient als „Landkarte“ und Orientierung für unser Vorgehen und wird im 2. Quartal 2019 vorliegen.

Für die ersten Maßnahmen ab dem Schuljahr 2019/20 stehen insgesamt 3,3 Millionen € zur Verfügung. Diese Mittel wachsen bis 2022 auf 10 Millionen € auf. Das ist eine Menge Geld, die wir zur zusätzlichen Unterstützung in die Hand nehmen. Im ersten Jahr werden wir uns dabei auf die Schulen konzentrieren, an denen der Bedarf am größten ist. Welche das sein werden, dafür wird uns der Sozialatlas wichtige Indizien aufzeigen.

Mein Ministerium steht den Schulen in dem ganzen Prozess stetig zur Seite. Mit der Auswahl der Schulen bieten wir auch den Schulleitungen weitere Unterstützung an. Mit dem Projekt „impakt schulleitung“ der Wübben-Stiftung wird die Professionalisierung von Schulleitungen an Schulen in schwierigen Lagen verbessert, indem Fortbildung, Beratung und Coaching angeboten werden.

Besonders wichtig ist mir in diesem Prozess aber auch die Öffnung der Schulen nach außen. Kultureinrichtungen, Sportvereine, Vereine überhaupt, kommunale Hilfsangebote, Schulträger, ja, auch Unternehmen sollten eingebunden werden. Wir müssen Schule als Netzwerk in der lokalen Umgebung sehen und nicht als Single Player.

(Beifall CDU und FDP)

(Ministerin Karin Prien)

Damit sich unsere Schulen kontinuierlich weiterentwickeln, ist eine Evaluation und eine wissenschaftliche Begleitung Bestandteil des Bildungsbonusprogramms.

Nicht zuletzt ist und bleibt es wichtig, die Eltern mit ins Boot zu holen. Wir müssen sie stark machen, damit sie ihre Kinder besser unterstützen können.

(Beifall CDU, FDP und vereinzelt BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen schließlich, dass nicht nur die Perspektivschulen, sondern möglichst alle Schulen vom Bildungsbonus profitieren. Deshalb sollen weitere Schulen über eine Hospitations- und Netzwerkstruktur eingebunden werden. Mit all diesen Maßnahmen unterstützen wir den Weg zu weiteren multiprofessionellen Teams in den Schulen. Ein multiprofessioneller Mix von gut ausgebildeten und fortgebildeten Lehrkräften, Schulsozialarbeitern, schulischen Assistenzkräften und Schulpsychologen sowie starken Eltern hat sich bisher als erfolgreicher Ansatz erwiesen.

(Vereinzelter Beifall CDU)

Meine Damen und Herren, die bildungspolitische Debatte wird zu oft auf die Formel verkürzt: mehr Geld, mehr Lehrer. Solche Kurzformeln sind keine Patentrezepte. Wir brauchen vor allem Konzepte und eine gut funktionierende Schule im Innern.

(Beifall Barbara Ostmeier [CDU])

Der Schulentwicklungsprozess, den wir mit dem Bildungsbonus anstoßen, bietet vermutlich seit Langem die größte Chance für Bildungsgerechtigkeit in unserem Land. - Ich danke Ihnen.

(Beifall CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Meine Damen und Herren, die Landesregierung hat die vereinbarte Redezeit um 2 Minuten 30 Sekunden überzogen. Die Zeit steht nun auch allen Fraktionen zusätzlich zur Verfügung.

Begrüßen Sie gemeinsam mit mir aus dem Diakonischen Werk Schleswig-Holstein Angehörige des Bundesfreiwilligendienstes, dann Schülerinnen und Schüler der Gemeinschaftsschule Friedrichsort sowie Mitglieder der CDU Wakendorf II. - Herzlich willkommen im Schleswig-Holsteinischen Landtag!

(Beifall)

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die CDUFraktion hat der Abgeordnete Tobias Loose.

(Zuruf)

- Dann ist das hier falsch angekommen, und es hat für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Abgeordnete Ines Strehlau das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank, Frau Bildungsministerin, für den Bericht. - Ja, jetzt wird es konkret: Der Bildungsbonus startet zum kommenden Schuljahr. Durch ihn unterstützen wir Schulen mit besonderen Herausforderungen. Damit machen wir tatsächlich einen großen Schritt hin zur Chancengerechtigkeit. Wir legen uns noch mehr ins Zeug, als wir ursprünglich in den Koalitionsvereinbarungen festgelegt haben; denn wir haben gesehen, dass ein großer Bedarf besteht, den Bildungsbonus früher zu starten und mit mehr Mitteln zu unterfüttern.

(Vereinzelter Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir Grüne haben uns dafür stark gemacht und bedanken uns bei unseren Koalitionspartnern dafür, dass sie mitgegangen sind. Wir bedanken uns bei der Finanzministerin, dass sie das Geld zur Verfügung gestellt hat. Ursprünglich war 1 Million € geplant; wir stocken das jetzt auf 3,3 Millionen € auf. Das bedeutet, dass für den Start im gesamten ersten Schuljahr 8 Millionen € zur Verfügung stehen. Das ist eine Menge Geld. Rechnet man das in Lehrstellen um, entspricht es etwa 160 Stellen. Das ist eine enorme Kraftanstrengung, und es ist ein großer Erfolg für Jamaika.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, CDU und FDP)

Diesen Erfolg lassen wir uns auch von der SPD nicht madig machen.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, CDU und FDP)

Zu spät, zu wenig, schlecht gemacht - es ist ja die Rolle der Opposition, die Regierungsfraktionen und die Landesregierung zu kritisieren. Aber wenn ihr ehrlich seid, liebe SPD, dann müsst ihr zugeben: Wenn wir den Bildungsbonus in einer Neuauflage der Küstenkoalition auf den Weg gebracht hätten das hätten wir wahrscheinlich getan -, dann wären wir auch nicht schneller gewesen und hätten auch nicht mehr Mittel zur Verfügung gestellt. Vielleicht wären es sogar weniger gewesen, wenn nämlich ihr von der SPD dabei geblieben wärt, 120 Millionen €

(Ministerin Karin Prien)

für das Weihnachtsgeld für Beamtinnen und Beamte zur Verfügung zu stellen.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, CDU und FDP - Zuruf Beate Raudies [SPD])

Jamaika setzt stattdessen den Schwerpunkt bei Bildungsgerechtigkeit. Den Bildungsbonus auf den Weg zu bringen, ist ein komplexes Unterfangen. Erst einmal müssen wir wissen, welche Schulen den größten Bedarf haben. Wir haben gehört, dazu wird gerade vom IPN an der Christian-AlbrechtsUniversität in Kiel ein Sozialatlas erarbeitet. Der Sozialindex und die Ermittlung der Schulen sind nicht willkürlich, wie die SPD unterstellt, sondern nach objektiven Kriterien erarbeitet. Das wird immer mit dem Begriff „sozioökonomischer Hintergrund des Elternhauses“ umschrieben. Die Kriterien, die da angewandt werden, sind bei der Erarbeitung eines Sozialatlas üblich und werden auch in anderen Ländern angewandt.

Der Sozialatlas wird - je nach Bedarf der Schulen gestuft sein. Wir wollen die Schulen mit dem höchsten Bedarf als Erstes fördern; denn diese Schulen müssen spürbar entlastet werden. Es hilft nicht, wenn jede Schule eine halbe Lehrerstelle oder vielleicht sogar weniger bekommt. Wir wollen uns auf die Schulen konzentrieren, die die größte Belastung haben. Diese wollen wir spürbar entlasten. Dabei wird es schwierige Entscheidungen geben; denn es wird immer Grenzfälle geben, das heißt, Schulen, die es auch brauchen könnten, die man gerade noch hineinnehmen könnte. Aber wir stehen dazu, dass wir uns diesbezüglich entscheiden müssen, damit wir eine spürbare Entlastung schaffen. Wir wollen nicht das Gießkannenprinzip anwenden.