Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Der Ministerpräsident hat es eben gerade dargestellt: Die Zahlen steigen. Sie steigen so rasant, dass das nicht nur bei uns in Schleswig-Holstein, sondern in der gesamten Bundesrepublik und in der Europäischen Union erneut
Das Stimmungsbild in den Bund-Länder-Runden ist zum Teil dramatisch: Turnhallen werden zu Notunterkünften ausgebaut, Leichtbauhallen und Zelte werden errichtet, Hotels und Jugendherbergen angemietet, weil es vielerorts nur noch darum geht, die Obdachlosigkeit zu vermeiden.
Hier in Schleswig-Holstein sind wir noch nicht an diesem Punkt angekommen, aber natürlich sind auch unsere Kommunen massiv gefordert.
Auch, weil das mit Blick auf die Berichterstattung der letzten Tage missverstanden werden könnte, möchte ich noch einmal Folgendes darstellen: Wir fragen im Einvernehmen mit den Kommunen die Kapazitäten vor Ort ab. Trotz der zuletzt gemeldeten rund 3.000 freien Plätze möchte ich sehr deutlich sagen: Es bleibt eine Herausforderung für die Kommunen. Als Landesregierung unterstützen wir die Kommunen, wo wir nur können. Zu den Details komme ich gleich.
Aber ich glaube, der Blick über die Ländergrenze ist wichtig, um uns vor Augen zu führen, in welcher Situation wir uns gerade befinden. Auch deshalb habe ich Verständnis dafür, wenn ich bei den unzähligen Besuchen vor Ort und in den Erstaufnahmeeinrichtungen von Gemeindevertreter_innen, Bürger_innen, politisch Verantwortlichen und vielen anderen Menschen höre, dass man sich Sorgen macht. Bei diesen Terminen – in letzter Zeit oftmals gemeinsam mit der Innenministerin – wird deutlich, dass die Probleme von Unterbringung über Kita, Schule, Wohnraum bis zur Arbeitsmarktintegration reichen und all das uns als Landesregierung fordert.
Schafft man es, die hohen Zuzugszahlen zu bewerkstelligen? Ist die Integrationsfähigkeit unseres Landes an ihre Grenzen gekommen? Werden wir der Verantwortung den Menschen und wiederum den Kommunen vor Ort gegenüber gerecht? Ängste entstehen und Ängste werden auf der anderen Seite auch geschürt. Deshalb ist es unsere Aufgabe als Landesregierung, konkrete Lösungen zu liefern. Die aktuelle Situation erfordert ein stetiges Nachschärfen von politischen Entscheidungen, um den gesellschaftlichen Frieden beizubehalten.
Zur aktuellen Situation: Rund 35.000 Menschen sind seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine zu uns gekommen und haben hier Schutz gefunden. Zeitgleich kamen rund 10.000 Personen, die Asylsuchende sind. Ganz konkret sind 5.600 Asylsuchende im Jahr 2022 und rund 6.700 Asylsuchende im Jahr 2023 nach Schleswig-Holstein gekommen.
In unseren Erstaufnahmeeinrichtungen haben wir 7.200 Plätze, von denen ganz aktuell, heute, 6.415 belegt sind. Im Schnitt kommen mehr als 100 Menschen täglich zu uns. Um Ihnen ein Gefühl dafür zu geben, wie das im letzten Jahr aussah: Zum damaligen Zeitpunkt waren lediglich die Hälfte der Plätze belegt.
Was hat das Land deshalb für Maßnahmen ergriffen? – Seit Ausbruch des Krieges haben wir drei Vereinbarungen mit den Kommunen im Millionenbereich getroffen: Das betrifft Mittel für die Notunterkünfte, für die Übernahme von Heizkosten in Höhe von 17 Millionen Euro, und die Zusage, dass bei all dem, was darüber hinaus anfällt, das Land 90 Prozent übernimmt.
Das sind Mittel für die Erstattung von Leistungen des Landes nach dem Asylbewerberleistungsgesetz für ukrainische Schutzsuchende mit dem Ergebnis einer Verteilung von 90 Prozent für das Land und 10 Prozent für die Kommunen. Es sind Mittel für die Herrichtung und den Betrieb von temporären Gemeinschaftsunterkünften und eine Aufnahmepauschale von 500 Euro pro Person für Flücht linge aus der Ukraine wie auch für Asylsuchende. Von diesen Mitteln sollen Integrationsmaßnahmen vor Ort in den Kommunen gestaltet werden. Für das letzte Jahr bedeutet das ganz konkret 13,86 Millio nen Euro für Schutzsuchende aus der Ukraine und 2,1 Millionen Euro für Asylsuchende; für dieses Jahr 4,3 Millionen Euro für Schutzsuchende aus der Ukraine und 2,5 Millionen Euro für Asylsuchende.
Am Dienstag haben wir mit den Kommunen weitere Unterbringungs- und Integrationsmaßnahmen vereinbart, und zwar im Rahmen der 34 Millionen Euro, die wir vom Bund bekommen.
Wer trägt welche Verantwortung? – Aus dem Asyl- und aus dem Landesaufnahmegesetz ergibt sich Folgendes: Land und Kommunen tragen eine gemeinsame Verantwortung, was die Unterbringung angeht – das Land für die Erstaufnahme, die Kommunen für die dauerhafte Unterbringung. Die Erstaufnahmeeinrichtungen, von denen wir in Schleswig-Holstein fünf, ab nächster Woche höchstwahrscheinlich sechs, haben, sind für den Übergang. Es kann immer nur darum gehen, die Zugänge dazu zeitlich zu puffern. Die Erstaufnahmeeinrichtungen sind nicht für das dauerhafte Wohnen gedacht und konzipiert – das ist nichts, was wir uns ausgedacht haben, sondern das ist im Asylgesetz so festgeschrieben.
ist im Übrigen die dreifache Kapazität des bisherigen Standortkonzepts von 2017. Wir schaffen neue Erstaufnahmeeinrichtungen, und zwar in Glückstadt, mit weiteren 600 Plätzen. Zusätzlich haben wir die Ankündigungsfrist wieder von vier auf drei Wochen reduziert – der Ministerpräsident hat es angesprochen: andere Bundesländer haben diese Frist zum Teil nicht, und davor hatten wir eine Ankündigungsfrist von teilweise zwei Wochen.
Wir als Land bleiben bei der Zusage, die Kapazitäten hochzufahren, wenn es notwendig ist. Ich weiß, dass es im letzten Jahr immer wieder Forderungen gab, schon viel früher zusätzliche Kapazitäten zu schaffen. Wir hatten eine Kapazität von 7.200 Plät zen, und bis vor wenigen Wochen hatten wir immer mindestens 2.000 Plätze, die einfach frei waren. Wir haben immer gesagt, dass wir genau dann mehr Kapazitäten schaffen müssen, wenn die Situation intensiver wird und mehr Menschen kommen.
Ich möchte außerdem die Lanze für die fünf, bald sechs, Standortkommunen brechen, die Erstaufnahmeeinrichtungen haben. Wir diskutieren manchmal über die Landesunterkünfte und Erstaufnahmeeinrichtungen, als würden sie im luftleeren Raum stehen.
Es sind die Städte Boostedt, Neumünster, Bad Segeberg, Rendsburg, Seeth und bald Glückstadt. Sie tragen die Verantwortung, Ankommende direkt unterzubringen und zu versorgen. Das bedeutet einen gewaltigen Kraftakt. Allein in Boostedt sind das 2.000 Personen. Ministerin Sütterlin-Waack und ich waren erst am Montag oder Dienstag – ich erinnere mich nicht mehr – da, und in der Woche davor waren wir in Seeth unterwegs. Wir sind mit allen Bürgermeistern der Standortgemeinden im Austausch.
Was diese immer wieder betonen, ist: Ihr müsst unsere Situationen sehen: Wir bringen teilweise 500, 1.000, 1.200 oder 2.000 Menschen unter! – Natür lich leben in diesen Kommunen auch Menschen, und ich glaube, es ist absolut berechtigt, Kapazitäten hochzufahren. Aber es geht hier nicht darum, die Kommunen gegen das Land auszuspielen – auch die Kommunen tragen eine Verantwortung, die wir nicht vergessen dürfen.
Deshalb ist es mir ein Anliegen, die Verteilung in die anderen über 1.000 Kommunen rechtzeitig und verantwortungsbewusst zu gestalten.
Neben den Kommunen und dem Land – das hat der Ministerpräsident eben auch angesprochen – ist natürlich auch der Bund in der Verantwortungskette. Es geht nicht – und das meine ich wirklich total ernst – um eine Verantwortungsdiffusion. Es geht darum, dass wir diese Fragen nicht losgelöst voneinander diskutieren können: Jeder muss sich seiner Verantwortung bewusst sein – natürlich auch der Bund. Wir haben von der letzten MPK lediglich eine weitere Milliarde Euro erhalten; seitdem habe ich vom Bund wenig gehört.
Ich meine das komplett ernst. Wir Integrationsminister_innen und Innenminister_innen waren Anfang des Jahres zu Runden mit Nancy Faeser eingeladen, um darüber zu sprechen, dass die Situation in den Kommunen herausfordernd ist. Danach hat es die MPK gegeben, eine Milliarde Euro wurden zugesagt, aber die Forderungen, die alle Länder gestellt haben – und zwar egal, in welcher Farbkonstellation sie regiert werden –, waren dauerhafte Finanzierung und Strukturen für Integration. Dieses Versprechen ist noch nicht umgesetzt worden, und ich hoffe, dass diese Situation im November 2023, wenn man sich noch einmal zusammensetzen wird, anders aussehen und man dann einen Fahrplan für die nächsten Jahre vereinbaren wird. Denn Länder und Kommunen brauchen eine stärkere Steuerung vom Bund.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir reden über Zahlen, über Kapazitäten und über Finanzen. All das ist notwendig, um eine vernünftige Unterbringung zu organisieren. Aber ich möchte auch deutlich machen, dass selbst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, die gesellschaftliche Stimmung für ein Gelingen maßgebend ist.
In Schleswig-Holstein sind wir noch in einer Situation, in der wir einen großen gesellschaftlichen Zusammenhalt verspüren. Das liegt an der Zusammenarbeit der Kommunen und an der Arbeit, die vor Ort geleistet wird. Vor allem liegt es an den Menschen vor Ort. Wenn ich unterwegs bin, erzählen mir die meisten Menschen von den Erfahrungen ihrer Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Flucht nach Schleswig-Holstein oder von der eigenen Flucht vor 10, 20 oder 30 Jahren. Unsere Ver antwortung liegt darin, diese Stimmung und dieses Verantwortungsgefühl, das die Schleswig-Holsteiner_innen haben, nicht als selbstverständlich hinzunehmen. Das sollte wirklich niemand von uns. Den Hilferuf der Kreise und kreisfreien Städte und die
Probleme vor Ort nehmen wir als Landesregierung nicht auf die leichte Schulter. Ich sehe es als meine Aufgabe, und wir als Landesregierung sehen es als unsere Aufgabe, diese Situation mit den Kommunen zu bewältigen.
Erlauben sie mir noch einen letzten Gedanken: Oft wird die Frage gestellt, ob oder wie es sein kann, dass wir in diesem Bundesland eine so liberale und humanitäre Politik machen und die gesellschaftliche Stimmung so ist, wie sie ist. Wir Parteien machen uns das gern zu eigen und sagen, dass es an unserer eigenen Politik liegt. Das mag zum Teil natürlich richtig sein. Aber viel mehr als die Parteien sind es die Menschen, die dieses Land und damit wiederum unsere Politik prägen. Darauf bin ich sehr stolz, und deshalb sehe ich es als die Verantwortung der Landesregierung an, dieses Vertrauen nicht zu verspielen. – Vielen Dank.
Die Landesregierung hat die vereinbarte Redezeit um fünf Minuten und 28 Sekunden überschritten. Diese Zeit steht jetzt auch allen anderen Fraktionen zur Verfügung. – Der Erste, der Gelegenheit hat, davon in der Aussprache Gebrauch zu machen, ist der Abgeordnete Dr. Bernd Buchholz für die FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage, was die Flüchtlingsunterbringung in den Kommunen angeht, ist prekär. „In einigen Wochen“, so ein Zitat, „werden alle unsere Unterbringungskapazitäten erschöpft sein.“ Das sage nicht ich, das sagt Ulf Kämpfer, der Oberbürgermeister der Stadt Kiel. Und er ist nicht der Einzige. Auch die sozialdemokratische Landrätin aus Pinneberg sagt schon lange, dass die Kapazitäten erschöpft sind.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, weil Sie gerade gesagt haben, hier sei so vorausschauend geplant und agiert worden: Diese Entwicklung ist mit Ansage passiert, und ich teile Ihre Auffassung, dass vorausschauend geplant wurde, nicht. Bereits im September des letzten Jahres hat der damalige Chef des Landkreistages, Reinhard Sager, gefordert, dass das Land deutlich mehr Erstaufnahmeeinrichtungen schafft. Im Dezember 2022 hat Reinhard Sager diese Aussage deutlich verstärkt: Die Forderung der kommunalen Ebene an das Land sei ganz klar.
Sozialministerin Aminata Touré von den Grünen solle endlich mehr Tempo bei ihren originären Aufgaben machen. Gemeinsam müsse definiert werden, wo im Land Sammelunterkünfte zur Verfügung gestellt und wie diese betrieben und finanziert werden könnten – das alles gehe viel zu langsam. Das war im Dezember des letzten Jahres.
Dann wurden die Einrichtungskapazitäten in der Tat aufgestockt, und wie eine Chimäre trug die Ministerin vor sich her, dass sie ja nun über 7.200 Plätze geschaffen habe. Bei näherem Hinsehen ergibt sich jedoch, dass es gar keine 7.200 Plätze sind. Denn spätestens nach der Antwort auf meine Kleine Anfrage aus dem August 2023, aber auch nach den Integrationsberichten, die die Ministerin selber abgibt, ist klar, dass es einen Unterschied zwischen der maximalen Kapazität dieser Aufnahmeeinrichtungen und der tatsächlichen Kapazität gibt.
Die tatsächliche Kapazität hat nicht nur damit etwas zu tun, dass man die Betten nicht so eng ausrichten will, sondern dass es gesperrte Bereiche gibt, dass es Überlegungen zum Infektionsschutz gibt oder dass man schlicht gar keine Kapazitäten in dieser Größenordnung hat. Die tatsächliche Kapazität ist in diesem Land bis zum August 2023 über 5.674 Plätze nie hinausgekommen. Letzte Woche Mittwoch musste die Ministerin dann im Innen- und Rechtsausschuss erklären, dass auf diesen 5.674 Plätzen im Land inzwischen 5.900 Flüchtlin ge sitzen. Dann hat sie reagiert. Meine Damen und Herren, das ist nicht vorausschauend, das ist hinterherlaufend.
Ich will einmal ganz deutlich sagen, Frau Ministerin: Sie erklären im Innen- und Rechtsausschuss allen Beteiligten, es gebe noch überhaupt keine Überlastanzeige, die die Kommunen gestellt hätten. Und deshalb gebe es – und das ist Ihre Antwort – aktuell noch genügend freie Plätze in den Kommunen. Frau Ministerin, so werden Sie zitiert, und zwar am 21. September 2023. Wenn ich das richtig sehe, dann ist das gestern gewesen – Touré: Es gibt noch genügend freie Plätze für Flüchtlinge.
Das war gestern. Es gibt noch genügend freie Plätze. – Sehr geehrte Frau Ministerin, dann hat man den Eindruck, dass Sie das eben doch nicht ernst nehmen, nicht so ernst, wie Sie es ernst nehmen müssten.
Herr Ministerpräsident, ich bin ganz bei Ihnen: Der Bund muss seine finanziellen Verpflichtungen einlösen, und er muss zu seinem Wort stehen. Keine Frage, da haben Sie unsere volle Unterstützung. Das geht nur in einer solidarischen Aktion zwischen dem Bund und dem Land. Es kann nicht sein, dass sich der Bundeskanzler, der Finanzminister oder wer auch immer aus der Verantwortung nimmt. Aber es geht auch darum, dass hier im Land die Hausaufgaben gemacht werden und dass die kommunalen Vertreter bei der Aussage, die Sozialministerin wird es schon richten, sofort die Augen verdrehen, weil sie sagen: Da darfst du nichts erwarten!
Seien wir einmal an dem Punkt, an dem wir heute sind: Frau Ministerin, heute liegt Ihnen die Überlastungsanzeige von allen Landkreisen und allen kreisfreien Städten vor.
Nehmen Sie das gemeinsame Schreiben bitte als gemeinsame Überlastanzeige der kommunalen Ebene und den eindringlichen Appell, den Krisenmodus auch auf interministerieller Ebene endlich deutlich zu verstärken. Was ist das anderes als ein Hilferuf, jetzt zu handeln? Und was tun Sie hier heute? – Sie sagen: Ich nehme das mit. Wir haben 600 neue Plätze geschaffen oder wollen die jetzt in Glückstadt schaffen.
Seien wir jetzt einmal ernst und zählen wir das einfach einmal zusammen, meine Damen und Herren: 5.900 Plätze hatten Sie in der vorletzten Woche schon in der Belegung. Jetzt kommen 600 Plätze zu den 5.600 dazu, die Sie haben. Das sind 6.200 Plätze. Sie hätten also in den Erstaufnahmeeinrichtungen genau 300 freie Plätze, wenn Sie die 600 Plätze neu schaffen werden. Wie lange hält das? – Das hält die nächsten 14 Tage. Ich sage Ihnen: Wenn Sie nicht dramatisch dazu kommen, mit den Kommunen gemeinsam Sammelunterkünfte und auch zusätzliche Erstaufnahmeeinrichtungen zu schaffen, dann werden Sie dafür verantwortlich sein, Sie persönlich, wenn in Schleswig-Holstein in den Kommunen die Turnhallen und die Aulen von Schulen wieder benutzt werden müssen, um Flüchtlinge unterzubringen. Ich sage Ihnen: Dann zerreißt es diese Gesellschaft in Teile, und das ist zu verhindern!