Protokoll der Sitzung vom 23.03.2011

Abg. J o c h e m (FDP)............................. 1542

Abg. W i l l g e r (B 90/GRÜNE)................ 1542

Minister J a c o b y................................... 1543

Abg. R o t h (SPD)................................... 1545

Namentliche Abstimmung über den Antrag Drucksache 14/426, Ablehnung des Antrages............................................................. 1546

Abstimmung über den Antrag Drucksache 14/432, Ablehnung des Antrages.............. 1546

6. Beschlussfassung über den von der SPD-Landtagsfraktion eingebrachten Antrag betreffend: Armut bekämpfen, Gesundheit sichern, Kindern und Jugendlichen Chancen eröffnen (Druck- sache 14/428)........................................... 1546

11.Beschlussfassung über den von der CDU-Landtagsfraktion, der FDP-Landtagsfraktion und der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN-Landtagsfraktion eingebrachten Antrag betreffend: Armutsbekämpfung und die Sicherstellung der Teilhabe von Kindern sind wichtige Ziele (Drucksache 14/433)................................ 1546

Abg. H o f f m a n n - B e t h s c h e i d e r (SPD) zur Begründung des Antrages Drucksache 14/428................................. 1546

Abg. S c h a r f (CDU) zur Begründung des Antrages Drucksache 14/433.......... 1549

Abg. Prof. Dr. B i e r b a u m (DIE LINKE) 1550

Abg. K ü h n (FDP)................................... 1551

Abg. W i l l g e r (B 90/GRÜNE)................ 1552

Ministerin K r a m p - K a r r e n b a u e r....... 1552

Abstimmung über den Antrag Drucksache 14/428, Ablehnung des Antrages.............. 1555

Abstimmung über den Antrag Drucksache 14/433, Annahme des Antrages................ 1555

Dank an die Abgeordnete Cornelia Hoffmann-Bethscheider................................... 1555

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 19. Landtagssitzung. Meine Damen und Herren, ich darf Sie und auch unsere Gäste auf den Zuschauerrängen ausnahmsweise bitten, sich noch einmal von Ihren Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich von ihren Plät- zen.)

Meine Damen und Herren, wir alle stehen zwölf Tage nach dem verheerenden Erdbeben unter dem Eindruck der schrecklichen Ereignisse in Japan. Deshalb können wir nicht einfach in die Tagesordnung eintreten. Wir wollen vielmehr vorher innehalten und der Opfer und der Toten gedenken.

Die Folgen der Naturkatastrophe in Japan halten die Welt nach wie vor in Atem. Die Schreckensbilder berühren die Menschen überall auf der Welt, so auch hier bei uns im Saarland. Mit anhaltend großer Bestürzung und Anteilnahme verfolgen wir die Entwicklungen in Japan und im ganzen pazifischen Raum. Das Ausmaß der Verwüstungen und die Folgewirkungen erschüttern uns alle. Uns alle treibt vor allem auch die atomare Bedrohungslage um.

Wir gedenken aller Opfer, der Tausenden Toten und ihrer Hinterbliebenen. Wir gedenken der unzähligen Verletzten, der Hunderttausenden, die ihr Hab und Gut, vielleicht auch ihren Lebensmut verloren haben. Wir gedenken aller, die angesichts der weitergehenden Bedrohungen und Folgen um ihr Leben und ihre Gesundheit fürchten. Wir denken an die, die unter Einsatz ihres Lebens versuchen, das Schlimmste zu verhindern.

Meine Damen und Herren, Sie haben sich zum Andenken und zur Würdigung der Opfer von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.

Im Einvernehmen mit dem Erweiterten Präsidium habe ich den Landtag des Saarlandes zu seiner 19. Sitzung für heute, 09.00 Uhr, einberufen und für die Sitzung die uns vorliegende Tagesordnung festgesetzt.

Herr Ministerpräsident Peter Müller hat mit Schreiben vom 16. März 2011 mitgeteilt, dass er beabsichtigt, in der heutigen Landtagssitzung vor Eintritt in die Tagesordnung eine Regierungserklärung mit dem Titel „Aktuelle Entwicklung der Energieversorgungsdebatte vor dem Hintergrund der Ereignisse in Japan“ abzugeben.

Die Mitglieder des Erweiterten Präsidiums sind übereingekommen, die Aussprache zur Regierungserklärung des Herrn Ministerpräsidenten und zu den Punkten 7 und 8 der Tagesordnung, den jeweiligen Anträgen von SPD und DIE LINKE den Atomausstieg betreffend, wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam durchzuführen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann wird so verfahren.

Zu diesem Thema haben die Koalitionsfraktionen mit der Drucksache 14/431 den Antrag „Konsequenzen aus der Atomkatastrophe in Japan: Ausstieg aus der Atomkraft und Vorrang für regenerative Energien“ eingebracht. Wer dafür ist, dass dieser Antrag als Punkt 9 in die Tagesordnung aufgenommen wird, den bitte ich, eine Hand zu erheben. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dann stelle ich fest, dass der Antrag Drucksache 14/431 als Punkt 9 in die Tagesordnung aufgenommen und gemeinsam mit der Regierungserklärung und den Punkten 7 und 8 der Tagesordnung beraten wird.

Die Mitglieder des Erweiterten Präsidiums sind weiterhin übereingekommen, die Aussprache zu den Punkten 1 und 2 der Tagesordnung, die Änderung der saarländischen Verfassung und die Änderung schulrechtlicher Gesetze betreffend, wegen des Sachzusammenhangs ebenfalls zu verbinden. Erhebt sich hiergegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann wird so verfahren.

Zu Punkt 5 der Tagesordnung, dem Antrag der DIE LINKE-Landtagsfraktion „Übertragung der Gehalts

erhöhung für die Angestellten der Länder auf die Beamten des Saarlandes“ hat die SPD-Landtagsfraktion mit der Drucksache 14/432 den Antrag „Keine weiteren Sonderopfer - Übertragung der Tarifergebnisse für die Beschäftigten der Länder auf saarländische Beamtinnen und Beamte“ eingebracht. Wer dafür ist, dass dieser Antrag als Punkt 10 in die Tagesordnung aufgenommen wird, den bitte ich, eine Hand zu erheben. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Ich stelle dann fest, dass der Antrag Drucksache 14/432 als Punkt 10 in die Tagesordnung aufgenommen und gemeinsam mit Punkt 5 beraten wird.

Zu Punkt 6, dem Antrag der SPD-Landtagsfraktion „Armut bekämpfen, Gesundheit sichern, Kindern und Jugendlichen Chancen eröffnen“, haben die Koalitionsfraktionen mit der Drucksache 14/433 den Antrag „Armutsbekämpfung und die Sicherstellung der Teilhabe von Kindern sind wichtige Ziele“ eingebracht. Wer dafür ist, dass der Antrag als Punkt 11 in die Tagesordnung aufgenommen wird, den bitte ich, eine Hand zu erheben. - Wer ist dagegen? Wer enthält sich der Stimme? - Dann stelle ich fest, dass der Antrag als Punkt 11 in die Tagesordnung aufgenommen ist und gemeinsam mit Tagesordnungspunkt 6 beraten wird.

Zur Abgabe der Regierungserklärung zu dem Thema

„Aktuelle Entwicklung der Energieversorgungsdebatte vor dem Hintergrund der Ereignisse in Japan“

erteile ich nun Herrn Ministerpräsident Peter Müller das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Regierungserklärung findet statt vor dem Hintergrund der schrecklichen Ereignisse, die die Menschen in Japan in den vergangenen knapp zwei Wochen heimgesucht haben.

Wir haben ein verheerendes Erdbeben und zahlreiche Nachbeben erlebt. Wir haben eine gewaltige Flutwelle erlebt, die mit ungeheurer Zerstörungskraft über die Küstenregionen im Nordosten Japans hinweggegangen ist. Wir haben die Havarie eines Atomkraftwerkes, des Atomkraftwerkes in Fukushima. All dies stellt eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes dar. Wir haben viele Tausend Tote zu beklagen. Die genaue Zahl wird sicherlich erst in einigen Wochen feststehen. Nach wie vor werden Tausende von Menschen vermisst. Etwa eine halbe Million Menschen haben alles, ihr Zuhause, ihr Hab und Gut, verloren. Sie leben in Notunterkünften ohne Strom, ohne Wasser bei Eiseskälte. Viele sind nach wie vor unzureichend versorgt. Ganze Land

(Präsident Ley)

striche sind vollkommen verwüstet. Das gilt insbesondere für die Region Miyagi und die Stadt Sendai, zu der es auch aus dem Saarland heraus viele Kontakte gibt. Wir haben Sorgen um radioaktive Verseuchungen von Nahrungsmitteln und Wasser.

Alles in allem eine Situation der Not und des Leides, die wir eigentlich aus der Ferne nur erahnen können. Deshalb gehört natürlich auch in einer solchen Regierungserklärung der erste Gedanke den Menschen, die so schwer geprüft worden sind und geprüft werden. Wir stehen in Gedanken und Gefühlen bei diesen Menschen. Wir trauern um die Toten und stehen an der Seite derjenigen, die durch den Tsunami ihre Heimat verloren haben oder die auf der Flucht vor den radioaktiven Strahlen sind.

Niemand von uns weiß, welche Konsequenzen die Havarie des Atomkraftwerkes in Fukushima bereits mit sich gebracht hat. Niemand von uns weiß, was sie noch mit sich bringen wird. Fest steht, es ist in hohem Maße Radioaktivität ausgetreten. Fest steht, dass Meldungen über radioaktive Verseuchungen in Nahrungsmitteln und Grundwasser besorgt machen. Wir sehen, dass es Menschen gibt, die bereit sind, unter Inkaufnahme von Gefahren für ihre Gesundheit und für ihr Leben den Versuch zu unternehmen, die Katastrophe einzudämmen und die Kontrolle über das Kernkraftwerk zurückzugewinnen. Diesen Menschen wünschen wir, dass sie Erfolg haben. Ihre Arbeit erfährt unsere Hochachtung und unsere besondere Anerkennung.

Viele haben in diesen Tagen ihre Solidarität mit Japan in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck gebracht. Dazu zählt beispielsweise der ökumenische Bitt- und Mahngottesdienst, der von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen am vergangenen Freitag durchgeführt worden ist. Kirchenrat Hofmann hat mir gerade eben gesagt, dass bei der Kollekte ein Betrag von 2.211 Euro zusammengekommen ist. Ich glaube, dass dies ein Zeichen der Solidarität ist, wie wir es in dieser Zeit brauchen. Ich möchte mich deshalb auch ganz herzlich bei Ihnen bedanken. Viele Menschen waren bereit, an anderer Stelle Spenden zur Verfügung zu stellen. Auch im Saarland gab es Menschen, die bereit waren, nach Japan zu gehen und dort zu helfen. Die zehn Angehörigen des THW in Nohfelden und in Freisen, die in Japan waren, haben eines der gebotenen Zeichen der Solidarität, der Hilfe und der Unterstützung gesetzt.

Wir haben besondere Beziehungen in die Region Miyagi und in die Region Sendai auf zivilgesellschaftlicher Ebene, auf schulischer Ebene, auf wissenschaftlicher Ebene. Am vergangenen Donnerstag war der japanische Generalkonsul im Saarland zu Besuch. Wir haben unsere Bereitschaft zu helfen zum Ausdruck gebracht und mit ihm vereinbart, dass wir prüfen wollen, ob es besondere Projekte gibt, die

im Zuge des Wiederaufbaus von saarländischer Seite in Angriff genommen werden können. All dies geschieht, weil wir die Menschen nach dieser Katastrophe nicht alleine lassen wollen. Meine Bitte an die Saarländerinnen und Saarländer, an uns alle ist: Lassen Sie uns weitere Zeichen der Solidarität und der Anteilnahme setzen im Interesse der Menschen in Japan, die Solidarität und Anteilnahme verdient haben.

Die Havarie des Kernkraftwerkes in Fukushima wirft neue Fragen auf. Sicherlich ist es so, dass sie für uns in Deutschland keine akute Gefährdung beinhaltet. Die Entfernung von 9.000 Kilometern schützt uns vor der radioaktiven Strahlung, die dort austritt. Dennoch ist diese Havarie, ist dieser GAU eine Zäsur. Sie ist eine Zäsur, weil das für unmöglich Gehaltene eingetreten ist. Sie ist eine Zäsur, weil wir erfahren mussten, dass auch in einem Hochtechnologieland das so genannte Restrisiko nicht nur eine statistische Größe ist, die mit Wahrscheinlichkeiten von 10-6 gerechnet wird, sondern eine Realität sein kann.

Mit dieser Havarie stellt sich die Diskussion um die friedliche Nutzung der Kernenergie in zweifacher Hinsicht in einer neuen Dimension. Erstens. Es sind Ereignisse eingetreten, deren Eintritt nach Auskunft der Experten als absolut unwahrscheinlich, als nahezu ausgeschlossen galt. Die Natur hat unsere Erwartungen widerlegt. Zweitens. Angesichts der Hilflosigkeit im Umgang mit der Katastrophe im Atomkraftwerk steht fest: Auch einem Hochtechnologieland gelingt es nicht, die Auswirkungen einer atomaren Katastrophe in den Griff zu bekommen und die Kontrolle über einen beschädigten Reaktor schnell zurückzugewinnen.

Wenn das scheinbar Unmögliche möglich, das absolut Unwahrscheinliche Realität wird und wenn auch in einem Hochtechnologieland wie Japan die Folgen eingetretener Risiken sich als unbeherrschbar erweisen, dann ändert sich die Lage grundlegend. Deshalb ist vor dem Hintergrund dieser Ereignisse eine Neubestimmung der Position notwendig. Es geht nicht um die Frage, ob wir an bestehenden Konzepten festhalten können. Es geht auch nicht um die Frage, ob wir zu früheren Konzepten zurückkehren können. Die Frage, ob das rot-grüne Ausstiegsszenario oder die Laufzeitverlängerung mehr oder weniger richtig waren, springt zu kurz. Es geht um die grundsätzliche Frage: Ist Kernenergie noch verantwortbar, wenn ja, unter welchen Bedingungen und für welchen Zeitraum? Das ist die grundsätzlich neue Diskussion, die wir in der Bundesrepublik Deutschland zu führen haben.

Dabei gibt es zwei Ausgangspositionen, über die, wenn ich es richtig sehe, in der Bundesrepublik zumindest weitgehend Konsens besteht. Diese Ausgangspositionen sind, erstens: Ein sofortiger Aus

(Ministerpräsident Müller)

stieg, die sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke ist nicht möglich. Wer Energieversorgung in der Bundesrepublik Deutschland aufrecht erhalten will, wer Wachstum und Wohlstand erhalten will, wer nicht Arbeitsplätze kurzfristig in sehr großen Kategorien in Frage stellen will, weiß, dass wir auf dem Weg ins solare Zeitalter einen Übergang brauchen. Deshalb fordert auch von den ernst zu nehmenden politischen Kräften keine die sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland.

Konsens besteht zum Zweiten aber auch in der Bundesrepublik Deutschland, dass wir Energieversorgung nicht dauerhaft mit Kernenergie darstellen wollen. Atomenergie ist Brückentechnologie, auch das war und ist Konsens in der atompolitischen Debatte unseres Landes. Der Streit, den wir geführt haben, ging um die Frage, wie lange wir diese Brücke noch brauchen, wie lange wir auf diese Energieform noch zurückgreifen können und wie schnell wir den Ausstieg aus der Kernenergie umsetzen beziehungsweise darstellen können. Dieser Streit nicht über die Frage des Ob, sondern über die Frage der Dauer der friedlichen Nutzung der Kernenergie war ein Streit, der zurecht intensiv geführt worden ist, in jüngerer Vergangenheit insbesondere im Zusammenhang mit der Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland, soweit über das damalige rot-grüne Ausstiegsszenario hinausgegangen worden ist.

Die saarländische Landesregierung hat die Laufzeitverlängerung abgelehnt. Wir haben die Notwendigkeit unter energiepolitischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht gesehen und haben deshalb auch im Bundesrat konsequent gegen die Laufzeitverlängerung votiert.