Protokoll der Sitzung vom 12.02.2020

Woran erkennt man die Anfänge? - Damit junge Menschen eine Vorstellung davon erhalten, was Krieg, Diktatur und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bedeuten, ist es notwendig, solche Orte der Erinnerung zu bewahren.

Auch hier im Saarland, gerade hier an der deutschfranzösischen Grenze, ist das Gestapo-Lager Neue Bremm der zentrale Erinnerungsort. Der Umgang mit dem Lager nach dem Zweiten Weltkrieg war im Saarland ein schwieriger. Nachdem die Franzosen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine Gedenkstatte errichtet haben, geriet das Lager später leider in Vergessenheit und zerfiel.

Wir haben es der privaten Initiative Neue Bremm zu verdanken, dass an dieser Stelle ein Erinnerungsort errichtet werden konnte. Bürgerinnen und Bürgern haben mit besonderem Engagement rund 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dafür gesorgt, dass an dieser Stelle wieder an das dort geschehene Unrecht - an die „Hölle von Saarbrücken“, wie es in einer Schriftenreihe der saarländischen Landeszentrale für politische Bildung heißt - erinnert werden konnte. Deswegen gilt mein Dank auch ganz besonders Herrn Dr. Kurt Bohr und Herrn Dr. Burckhard Jellonnek sowie allen Mitstreiterinnen und Mitstreitern für die wertvolle Arbeit, die sie alle an diesem Ort für die Erinnerungsarbeit im Saarland leisten.

(Beifall von den Regierungsfraktionen und der LINKEN.)

Die Gedenkstätte Neue Bremm ist ein eindrucksvoller Ort, an dem wir sehen, dass Verfolgung, Unterdrückung und Mord nicht nur weit weg von uns stattgefunden haben, sondern vor unserer Haustür und damit auch vor unseren Augen. Wir wissen, dass Bewohner in der Nachbarschaft sogar die Schreie der Gefolterten hören konnten. Der Löschwasserteich inmitten des Lagers war der grausame Mittelpunkt inhumaner Misshandlung, systematischer Folter und auch gezielten Mordens. Jeden Abend mussten die Gefangenen um den Teich hüpfen oder

kriechen. Und jeden Abend wurde einer davon willkürlich ausgesucht und im Teich ertränkt. Heute sind dort die Namen der Ermordeten in Stein gemeißelt.

Viele mussten also tatsächlich gewusst haben, was dort passiert. Es war also nicht nur die unsägliche Verrohung von Aufsehern, es war auch die Gleichgültigkeit von Teilen der Bevölkerung, die es geschehen ließ.

Woran erkennt man die Anfänge? - Das ist das schreckliche Muster: Zuerst werden Menschen ausgegrenzt, bevor ihnen auf grausame Art und Weise ihre Würde genommen wird, weil sie politisch anders denken, weil sie anders aussehen, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion haben. Es beginnt immer mit der Ausgrenzung.

Am 27. Oktober 2019 haben 23,4 Prozent der Thüringer Wählerinnen und Wähler die AfD und damit den Vorsitzenden Björn Höcke in den Landtag gewählt. Ich habe Zitate von ihm und anderen AfD-Politikern: „Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“ - Björn Höcke, Januar 2017, Rede in Dresden. Ein weiteres Zitat: „Das große Problem ist, dass Hitler als absolut böse dargestellt wird, aber wir alle wissen natürlich, dass es in der Geschichte kein Schwarz und kein Weiß gibt.“ - Björn Höcke, März 2017, Interview mit dem Wall Street Journal.

Ein weiteres Zitat: „Dem Flüchtling ist es doch egal, an welcher Grenze, an der griechischen oder an der deutschen, er stirbt.“ - Günter Lenhardt, AfD-Landtagswahlkandidat in Baden-Württemberg. Weiteres Zitat: „Die Merkelnutte lässt jeden rein, sie schafft das. Dumm nur, dass es UNSER Volkskörper ist, der hier gewaltsam penetriert wird. Es handelt sich um einen Genozid, der in weniger als zehn Jahren erfolgreich beendet sein wird, wenn wir die Kriminelle nicht stoppen.“ - Peter Boehringer, MdB. „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.“ - Alexander Gauland, MdB. „Wir werden so lange durchhalten, bis wir 51 Prozent erreicht haben. Dieses Land braucht einen vollständigen Sieg der AfD.“ Björn Höcke, MdL.

Woran erkennt man die Anfänge? - Für mich steht fest, dass es bereits begonnen hat, da 75 Jahre nach Kriegsende eine politische Partei in deutschen Parlamenten sitzt, die andere Menschen ausgrenzt, diffamiert und beleidigt, weil sie politisch anders denken, anders aussehen, eine andere Hautfarbe oder eine andere Religion haben. Es beginnt immer mit Ausgrenzung. Deshalb ist es für mich so unerträglich, was vergangene Woche in Thüringen passiert

(Abg. Funk (CDU) )

ist, nämlich dass die dortigen Landtagsfraktionen von CDU und FDP es zugelassen haben, einen Ministerpräsidenten von Höckes Gnaden zu wählen. Für uns Christdemokraten steht fest: Es darf und wird keinerlei Zusammenarbeit mit Extremisten geben - weder mit Extremisten von links noch von rechts.

(Beifall von den Regierungsfraktionen. - Abg. Schramm (DIE LINKE) : Das ist lächerlich! Abg. Lander (DIE LINKE): Nichts verstanden! Zuruf von der CDU: Das ist überhaupt nicht lächerlich! - Abg. Schramm (DIE LINKE): Das ist schlimm!)

Denn auch Folgendes ist eine Dimension der Erinnerungskultur. 40 Jahre DDR-Geschichte, 40 Jahre Unfreiheit, Unterdrückung, Bespitzelungen und Verhaftungen. Mehrere Hunderte Mauertode, unzählige zerrissene Familiengeschichten aufgrund der sozialistischen Diktatur der SED. Ich bezeichne das wahrlich nicht als lächerlich.

(Zuruf des Abgeordneten Lander (DIE LINKE).)

Mit meinen Berlin-Besuchern fuhr ich auch in das Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Zeitzeugen haben berichtet, wegen welchen Lappalien sie dorthin gebracht wurden. Manchmal reichte das Hören der falschen Musik schon aus, um verhaftet zu werden. Der Aufenthalt in diesem Gefängnis zerstörte oft Leben oder zumindest zerbrach die Familie daran. In der Thüringer CDU sind etliche ehemalige Gefangene, noch der letzten Landtagsfraktion gehörten zwei von ihnen dem Parlament an. Und in der Linksfraktion saßen ehemalige Stasi-Mitarbeiter oder Menschen, die in der DDR für das undemokratische System standen. Wer will von den Opfern verlangen, dass sie ihre Peiniger von damals wählen?

Es gibt aber auch noch eine dritte Dimension der Erinnerungskultur, eine positive. So gehört nämlich auch die Entstehung und Entwicklung unserer Demokratie zu einer Erinnerungskultur: Die Aussöhnung mit unseren Nachbarn, das Zusammenwachsen Europas und die Entstehung der Europäischen Union, all das sind keine Selbstverständlichkeiten. Es ist der Verdienst unserer Vorgängerinnen und Vorgänger, die mit Mut und Weitsicht die Grundlagen unseres Friedens und Wohlstands in Europa gelegt haben. Auch dafür gibt es einen Ort der Erinnerung, nämlich das Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel.

Wie aber kann man die Erinnerung auch an unsere Kinder und Kindeskinder, an die besagte Generation, die wir oft nur noch im Netz erreichen können, weitergeben? Wäre es deshalb nicht eine gute Mög

lichkeit oder sogar Notwendigkeit, wie etwa beim Zeitzeugenprojekt der Völklinger Hütte die Aussagen der Zeitzeugen, die über die Jahre gesammelt worden sind, audiovisuell zu dokumentieren und multimedial zu publizieren? Das wäre eine lohnenswerte Aufgabe, die man in einer konzertierten Aktion mit den saarländischen Medien angehen könnte. Das wäre ein großes, aber zugleich nachhaltig wirkendes Projekt, in das auch die saarländischen Schülerinnen und Schüler integriert werden können. Erinnerungsorte erhalten und besuchen, das wäre eine weitere Möglichkeit, die drei Dimensionen der Erinnerung wachzuhalten.

Unter anderem unser Ministerpräsident hat vorgeschlagen, dass alle saarländischen Schülerinnen und Schüler mindestens einmal in ihrem Schulleben eine Gedenkstätte besuchen sollten. Auch das ist ein wichtiger Beitrag gegen das Vergessen. Wir als Haushaltsgesetzgeber sollten bei den nächsten Haushaltsberatungen darüber diskutieren, ob wir nicht auch Budgets für solche Klassenfahrten - egal ob zum Gestapo-Lager Neue Bremm, nach Brüssel zum Haus der Europäischen Geschichte oder nach Berlin Hohenschönhausen - zur Verfügung stellen können. Schulprojekte, bei denen Schüler die NaziGeschichte ihres Ortes aufarbeiten, sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte beschäftigen oder Stolpersteine pflastern, es gibt schon viele gute Beispiele, wie man junge Menschen für Geschichte begeistern kann.

Auch der Landesjugendring ist sehr aktiv in diesem Bereich. Am 20. März dieses Jahres wird es den Startschuss für ein dreijähriges Projekt geben, in dem Jugendliche mitarbeiten sollen. Das Projekt heißt: „Damit kein Gras drüber wächst“. Alle Jugendorganisationen sind eingeladen, sich über das Projekt zu informieren und daran teilzuhaben. Auch das ist ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungsarbeit im Saarland. Deswegen darf ich Georg Vogel vom Landesjugendring, der heute auch da ist, für dieses Engagement sehr herzlich danken.

(Beifall.)

Auch das ist ein Beitrag zu unserer Demokratie. Auch Demokratie leben ist ein wichtiger Punkt. Das beginnt hier bei uns im Haus. Es geht um die Art und Weise, wie wir mit Argumenten umgehen, wie wir uns austauschen, wie wir andere Meinungen zulassen und darauf reagieren.

Zur Demokratie gehört, dass man mitmacht. Wir erleben, dass die Volksparteien unter Druck geraten, an Mitgliedern verlieren. Wir sehen eine Entwicklung, bei der immer mehr Menschen ihr Singularinteresse, ihr persönliches Anliegen, in den Mittel

(Abg. Funk (CDU) )

punkt stellen und erwarten, dass die Politik dieses Anliegen umsetzt. Es widerspricht natürlich gerade dem Geist einer Volkspartei - egal ob SPD oder CDU -, nur für Singularinteressen einzutreten. Weil wir das Ganze im Blick haben, ist es immer ein mühsames Ringen um den richtigen Weg. Es geht immer um einen Kompromiss. Auch wenn das langweilig und schmerzhaft ist, ist das die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb gehören zu einer lebendigen Demokratie Menschen, die mitmachen. Alle, die diese Rede jetzt hören, alle, die sich damit befassen, lade ich ein, sich darüber Gedanken zu machen, auch Mitglied einer politischen demokratischen Partei zu werden.

(Beifall von der CDU und des Abgeordneten Roth (SPD).)

Ich eröffne die Aussprache. - Erster Redner in der Aussprache ist der Fraktionsvorsitzende der DIE LINKE-Landtagsfraktion Oskar Lafontaine.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist immer wieder notwendig, dass wir uns die Frage stellen, wie wir schreckliches Leid, das sich vor Jahrzehnten in unserer Gesellschaft in Deutschland ereignet hat, heute verhindern können. Voraussetzung dafür ist, dass man sich das Mitempfinden mit dem Leid anderer erhält. Voraussetzung ist auch, dass man sich selbst die Frage stellt, inwieweit man durch eigenes Handeln an dem Leid anderer beteiligt ist - ob bewusst oder unbewusst. Voraussetzung - auch dies haben wir in den Diskussionen früherer Jahre gelernt - ist, dass man nicht mit dem Finger auf andere zeigt, weil man - wie es der ehemalige Präsident Gustav Heinemann einmal gesagt hat - immer weiß, dass dann drei Finger auf einen selbst zurück zeigen.

Wenn man sich also mit diesen Fragen auseinandersetzt, muss man sich selbst kritisch betrachten und sich die Frage stellen, ob man auch heute gegenüber dem Leid ausreichend mitempfinden und Empathie zeigen kann. Deshalb meine ich, dass auch die Ereignisse von Thüringen nicht geeignet sind, die Schlachten der Vergangenheit in der jetzigen Situation zu führen, wie auch Sie, Herr Funk, es teilweise getan haben.

(Beifall bei der LINKEN.)

Wenn ich davon rede, dass wir überlegen müssen, inwieweit wir selbst beteiligt sind oder mit dieser Geschichte konfrontiert sind, will ich daran erinnern,

dass - das war das Anliegen unserer Fraktion - nach dem Krieg viele ehemalige Nationalsozialisten im saarländischen Landtag tätig waren. Vorher war das nicht aufgearbeitet worden. Ich will nur eine Erinnerung erwähnen: Bei der Aufarbeitung ist auch herausgekommen - das war mir nicht bekannt -, dass ein ehemaliger CDU-Fraktionsvorsitzender in Prag 31 Jüdinnen und Juden zum Tode verurteilt hat. Insofern brauchen wir nicht weit zu gehen, wenn wir die Geschichte aufarbeiten wollen. Wir müssen wissen, dass Schuld in unserem Land verteilt ist und insbesondere selbstkritische Betrachtung notwendig ist, wenn man diese große Aufgabe, die sich uns stellt, wirklich bewältigen will. - Dabei möchte ich es erst einmal belassen.

Ich möchte nun zu dem kommen, was ich eigentlich vortragen wollte. Was müssen wir als Saarländerinnen und Saarländer beachten, wenn wir uns mit dieser Zeit auseinandersetzen? - Was die Erinnerungskultur angeht, brauchen wir nicht weit zu gehen. Unmittelbar in unserer Nähe ist die Gestapo-Zelle im Saarbrücker Schloss und der Platz des Unsichtbaren Mahnmals, bei dem ich mir immer wieder die Frage gestellt habe, was der Künstler eigentlich sagen wollte, indem er dieses unsichtbare Mahnmal in die Nähe des Landtages und des Zentrums der Stadt Saarbrücken verpflanzt hat. Vielleicht wollte er sagen, dass die Strukturen, die zu diesen Ereignissen geführt haben, immer noch unsichtbar sind oder nicht genügend gesehen werden.

In der Tat müssen wir uns doch jeden Tag fragen, warum dieses Morden in der Welt in diesem großen Umfang immer noch zu unserem Alltag gehört. Wenn wir doch wissen, in welch großem Umfang Menschen jetzt gerade in dem Moment, in dem wir reden, sterben und leiden, müssen wir uns die Frage stellen: Was ist die Ursache? Woran erkennt man die Anfänge? - Es fängt ja nicht jetzt erst an. Das schreckliche Leid, das Menschen zugefügt wurde und wird, ist unser Alltag, wir können es gar nicht bewältigen. Wenn wir wirklich mit diesen Menschen jeden Tag und jede Stunde mitempfinden würden, kämen wir gar nicht aus der Trauer und der Betroffenheit heraus. Deshalb müssen wir versuchen zu erkennen, was die Grundlage ist, warum sich die Dinge so entwickelt haben. Wir müssen erkennen, dass das Betrachten der Erinnerungsstätten - das haben Sie, Herr Funk, angedeutet - nicht ausreicht.

Mir ist es selbst so gegangen. Ich bin selbst als junger Mann an dem Obelisken vorbeigefahren, der auf das Lager an der Goldenen Bremm hinweist, ohne zu erkennen, was der Obelisk sagen will. Irgendwann ist mir die Erkenntnis gekommen, dass dieser Obelisk vielleicht an einen Schornstein und an das

(Abg. Funk (CDU) )

Verbrennen der Jüdinnen und Juden in den Konzentrationslagern erinnert, unabhängig davon, dass auf der Goldenen Bremm eine solche Anlage nicht vorhanden war.

Eine Passage aus dem Buch „Das Ohr des Malchus“ von Gustav Regler hat mich mit dem konfrontiert, was bei uns passiert ist. Die Passage möchte ich Ihnen kurz vortragen, weil sie die ganze Problematik zeigt, mit der wir immer noch konfrontiert sind. Mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich: „Da war ein Bursche von 21 Jahren aus dem Ruhrgebiet nach der Saar gekommen, ein Kommunist, den die Sturmtruppen der Nazis im März 1933 gefangen und in ihrem Keller gequält hatten. Sie hatten ihm seine Zähne ausgeboxt, hatten ihm Rizinusöl eingeflößt, hatten ihn gepeitscht, während sich sein gepeinigter Körper im Krampf entleerte. Er erzählte dies alles nun den Arbeitern der Saar. Er war einer von ihnen. Er roch nach dem Hunger, der auch sie quälte. Er hatte die gierigen Augen, die ihre Kinder hatten. Er hatte um die dünnen Lippen den Zug des Hasses. Sie konnten in dem Mann auf der Tribüne den Bruder sehen, der wie sie gelitten hatte. Er riss sich auch einmal in einem Versuch verzweifelter Werbung das Hemd von der Schulter und drehte sich um, sodass jeder im Saal das riesengroße Hakenkreuz sehen konnte, das ihm die Sturmtruppen der Nazis mit glühenden Zigaretten ins Fleisch gebrannt hatten. Sie ertrugen das Ecce homo nicht. Sie nahmen ihm übel, dass er so viel gelitten hatte. Sie sprachen ihn schuldig, weil er ein Besiegter war: ‚Nicht diesen, den Barabbas gebt frei!‘ Ich war in einer Versammlung, in der der junge Mann sprach. Da kam von unten eine Stimme, die ich nie vergessen werde: ‚Was zahlen dir denn die Franzosen für den Schwindel?‘ Mir schien als glühten die Wunden des Burschen noch einmal auf, aber aus dem Saal kam ein Lachen, das mir jede Illusion nahm.“

Diese Schilderung von Gustav Regler hat mich tief beeindruckt und war eines der Motive, warum ich immer wieder versucht habe, mich in den Kampf gegen diejenigen einzubringen, von denen man vermuten konnte, dass sie vielleicht wieder zu Strukturen führen würden, die solche Verbrechen möglich machen. Die große Problematik, die wir nicht so ohne Weiteres auflösen können, ist, warum Menschen immer wieder bis zum heutigen Tag so wenig mit dem täglichen Leid in der Welt, mit dem Verhungern, mit dem Verbrennen, mit dem Gequältwerden, mit dem Zerfetztwerden von Bomben mitempfunden haben. Ich glaube, dass das eigentliche Problem darin besteht, dass wir zu Strukturen kommen müssen, die das Mitempfinden und die Anteilnahme an dem

Schicksal anderer stärken. Das scheint mir die große Aufgabe unserer Zeit zu sein.

Ich habe in der letzten oder vorletzten Landtagsdebatte schon darauf hingewiesen, dass die Soziologen immer wieder untersuchen, was sich in unserer Gesellschaft verändert hat. Ich habe darauf hingewiesen, dass im Gegensatz zu früher nicht mehr der Grundwert der Solidarität im Mittelpunkt gesellschaftlichen Handelns steht, sondern eher der Grundwert der Selbstverwirklichung, der leicht in blanken Egoismus abgleiten kann und einen dazu verleitet, am Schicksal anderer immer weniger teilzunehmen. Ich sehe wie viele andere in der Welt unsere Wirtschaftsordnung als Grundlage dafür, dass sich das Miteinander in den Gesellschaften so entwickelt hat. Es ist kein einzelnes Urteil von mir, wenn ich darauf hinweise, dass die Empathie und die Anteilnahme am Schicksal des anderen in dieser Wirtschaftsordnung nicht gefördert werden, sondern abnehmen.

Ich will noch einen weiteren Gedanken hinzufügen. Ich glaube auch, dass der Verlust der Religion eine Grundlage dafür ist, warum sich die Dinge so entwickelt haben. André Malraux hat einmal gesagt: „Das 21. Jahrhundert wird religiös sein, oder es wird nicht sein.“ - Ich glaube nicht, dass er damit direkt ansprechen wollte, dass dieses Jahrhundert nicht sein würde, wenn der eine oder andere nicht diesen oder jeden Glauben hätte. Ich glaube, dass er mit dieser Bemerkung auf das Zentrum der christlich-jüdischen Kultur zielte. Dieses Zentrum ist die Nächstenliebe. Die Nächstenliebe ist eigentlich die größte Herausforderung, der wir Menschen uns stellen müssen. Wenn wir die Nächstenliebe mit der Verpflichtung zur Anteilnahme an dem Schicksal anderer dem gegenüberstellen, was in der Welt passiert, dann ist uns die Größe der Herausforderung, der wir uns stellen müssen, bewusst.

Woran erkennt man die Anfänge? Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Anderen ist einer der Gründe dafür, dass sich unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahren so entwickelt hat. Sie ist vielleicht auch einer der Gründe dafür, dass wir nun häufiger an das berühmte Brecht-Wort erinnert werden, „der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“.

Ich will hier keine große kontroverse Debatte beginnen, vieles wäre dazu zu sagen. Wir werden aber, so glaube ich, nur weiterkommen in dieser Frage, wenn wir uns zunächst mit dem auseinandersetzen, bei dem wir versagt haben, bei dem diejenigen versagt haben, die uns nahestanden, und wenn wir uns mit der Frage beschäftigen, was wir dazu beitragen

(Abg. Lafontaine (DIE LINKE) )

können, dass unsere Gesellschaft Strukturen und Grundlagen entwickelt, die ein Morden, die die Grausamkeit vergangener Jahrzehnte verhindern können.

(Beifall von der LINKEN und der SPD und bei der CDU.)

Ich erteile dem Fraktionsvorsitzenden der SPDLandtagsfraktion Ulrich Commerçon das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anlass für den heutigen Antrag und die heutige Debatte bot ursprünglich der Jahrestag des 27. Januar, in diesem Jahr der 75. Jahrestag der Befreiung der Menschen des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, übrigens durch die Rote Armee, das will ich an dieser Stelle einmal sagen. An diesem Tag sind die Menschen von der Roten Armee befreit worden. Sie sind befreit worden vom schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte.