Herr Abg. Krauß, meinen Sie, dass die 80 Euro, die ein Hartz-IVBetroffener – also ein Empfänger von Arbeitslosengeld II – pro Jahr zuzahlen müsste, diesem Menschen bei seinem Einkommen, was er durch die Leistung erhält, nicht schwer wehtut und dass er dann möglicherweise entscheidet, dass er das Geld an dem Tag, an dem er unbedingt zum Arzt gehen muss, nicht hat und dass dieser Zustand etwas mit sozialer Benachteiligung zu tun hat?
Herr Pellmann, ich halte es für legitim, dass jemand in der Lage ist, 7 Euro pro Monat für seine Gesundheit in dem Fall aufzubringen.
Entschuldigung, mit 7 Euro ist wohl niemand überfordert! Wir müssen uns doch einmal in Deutschland fragen, wieso wir mehr Geld für Leistungen ausgeben, die der
Gesundheit schaden – ich erinnere nur ans Rauchen –, als dass wir auf der anderen Seite etwas dafür ausgeben, was der Gesundheit insgesamt dient. Wir geben mehr dafür aus, damit sich der Gesundheitszustand verschlechtert, als dafür, dass wir den Gesundheitszustand verbessern. Dann, sage ich, sind 7 Euro wohl legitim.
Ich will noch einmal kurz auf diese Vorsorgeuntersuchungen eingehen, die zuzahlungsbefreit sind und wo wir die Möglichkeit haben, dass die Zahl derjenigen, die diese Untersuchungen in Anspruch nimmt, sinkt. Dazu haben wir Rückmeldungen, dass das passiert. Die BARMER hat zum Beispiel gesagt: Wir rechnen damit, dass dort ein leichter Anstieg bei den Vorsorgeuntersuchungen durch die Gesundheitsreform von 2004 erfolgt ist. Wir sehen es an den Ausgaben für die Früherkennungsuntersuchungen, dass diese stärker in Anspruch genommen werden. Mit dem GMG und seiner Einführung 2004 ist eine positive Funktion festzustellen. Wieso ist die Praxisgebühr sinnvoll?
Das will ich Ihnen, Herr Pellmann, nicht vorenthalten. Die Praxisgebühr hat eine steuernde Wirkung, die sogenannte Nutzensfunktion. Mehr Patienten gehen zuerst zum Hausarzt und lassen sich von dort zu einem Facharzt schicken. Während die Zahl der Facharztbesuche rückgängig ist, stieg die Zahl der Hausarztbesuche seit der Einführung der Praxisgebühr leicht an. Es ist also nicht so, dass die Häufigkeit der Arztbesuche generell gesunken ist. Gerade im Bereich der Hausärzte ist sie gestiegen, und das war auch gewollt, weil der Hausarzt eben eine Lotsenfunktion hat. Mehr als die Hälfte der Facharztbesucher kam vom Hausarzt. Diese Zahl soll natürlich steigen. Das ist eine sinnvolle Geschichte. Nach der Einführung der Praxisgebühr haben wir das schon feststellen können. Der Anteil der Überweisungen vom Hausarzt hat sich bei den Fachärzten deutlich bei einzelnen Facharztgruppen erhöht, bei den Augenärzten sogar verzwölffacht. Dort sehen wir eine sehr positive Entwicklung. Der Hausarzt entscheidet, was eine sinnvolle Behandlung ist. Wenn jeder selbst überlegt, zu welchem Arzt er geht, entstehen damit zusätzliche Kosten. Der Arzt kann es im Regelfall besser einschätzen als der eine oder andere Patient, was das Krankheitsproblem ist.
Herr Präsident, ich werde mich selbstverständlich nur auf eine Frage konzentrieren. – Herr Krauß, wie erklären Sie sich angesichts Ihrer Statistik, die ich in Zweifel ziehe, dass sich die Wartezeiten auf einen Termin bei Fachärzten in Sachsen von Jahr zu Jahr, insbesondere nach Einführung der sogenannten Gesundheitsreform von 2004, verlängern?
Herr Pellmann, Sie dürfen verschiedene Dinge nicht durcheinanderbringen. Bei den Ärzten haben wir eine demografische Entwicklung, die Ihnen übrigens bekannt ist. Es gibt eine Entwicklung, dass weniger junge Fachärzte nachkommen und mehr ältere in Ruhestand gehen. Das ist der Effekt, über den Sie gesprochen haben.
Wenn sinnlose Arztbesuche verhindert werden, dann nützt das nicht nur der Gemeinschaft der Beitragszahler, sondern auch jedem Patienten individuell; denn es ist nicht nur teurer, wenn man zwei- bis dreimal geröntgt wird, sondern es ist auch schädlich. Herr Pellmann, Sie haben es gesagt, dass der Patient mitunter warten muss. Wenn nur jene zum Arzt gehen, die wirklich eine Behandlung nötig haben, dann führt das dazu, dass diejenigen wirklich eher drankommen.
Herr Pellmann, ich will Ihnen etwas sagen, was mir ein Rettungssanitäter erzählt hat. Er sagte: Bei bestimmten Anrufen wissen wir schon, dass ein Missbrauch vorliegt, dass jemand zu faul ist, zum Arzt zu gehen und dass er deshalb den Notarzt anruft, um hingefahren zu werden, keinen Termin vereinbaren zu müssen usw. Ich denke, dass es deswegen angebracht ist, durch eine solche Gebühr diese steuernde Wirkung aufzunehmen.
Wie gesagt, es ist unumstritten, dass die Praxisgebühr zu einer Kostendämpfung geführt hat. Die Zahl der Arztbesuche ist gesunken. Die Inanspruchnahme ist effizienter. Es gab Mehreinnahmen. Man schätzt 1,6 Milliarden Euro, die dem System zufließen, die beim Arzt verbleiben und die damit zu einer besseren finanziellen Ausstattung geführt haben. Dies hat auch dazu geführt, dass die Ärzte praktisch mehr Zeit für den Patienten haben; denn für das gleiche Geld können sie mehr Patienten bzw. den Patienten längere Zeit behandeln. Das war eine positive Entwicklung.
Wir müssen uns fragen: Wie kommt es, dass die Zahl der Arztbesuche in Deutschland besonders hoch ist? Warum gehen die Deutschen doppelt so häufig zum Arzt wie die Franzosen oder dreimal so häufig wie die Schweden oder doppelt so häufig wie die Schweizer? Dieser Frage muss man sich stellen.
Deswegen gehen die so häufig hin, Herr Pellmann. – Bekanntermaßen sind die Schweizer oder die Franzosen nicht weniger krank, sondern es geht ihnen genau wie uns. Bei uns geht man häufiger hin, weil offensichtlich der Arztbesuch als etwas wahrgenommen wird, was
sozusagen nichts kostet. Der Eindruck ist falsch. Ich denke, dass deshalb der Hinweis auf die 10 Euro Praxisgebühr ganz hilfreich ist, dass man eine Leistung in Anspruch nimmt, für die man eine Gegenleistung erwarten kann – eine kleine Leistung von 10 Euro im Quartal. Herr Pellmann, beim besten Willen: 10 Euro im Quartal kann ich nicht als etwas Adäquates gegenüber einer ärztlichen Behandlung innerhalb von drei Monaten ansehen.
Ja, natürlich, die Krankenkassen haben wir auch. Wir wollen den Anreiz setzen, dass derjenige zum Arzt geht, der es wirklich notwendig hat, und dass man es sich wirklich überlegt, ob man mit jedem kleinen Schnupfen zum Arzt gehen muss oder man nicht gleich in die Apotheke gehen kann, um sich ein Mittelchen zu holen. Ich denke, diesen Aspekt hat die Praxisgebühr erfüllt und sie hat es geschafft.
„Die Zeit“ hat Anfang 2004 getitelt: „Wir sind die Arztbesuchseuropameister“. Sie schreibt: Niemand in Europa geht so häufig und so gern zum Arzt wie die Bundesbürger. Das war nicht falsch. Ich denke, wenn man jetzt von diesem Trend etwas wegkommt und den Arzt nicht so häufig aufsucht, sondern nur hingeht, wenn es wirklich nötig ist, ist das eine positive Entwicklung.
Es gab ja wenige Länder, die in der Statistik genauso schlecht dastanden wie Deutschland. Ein Land war Tschechien. Wenn Sie die tschechische Politik einmal verfolgen, werden Sie feststellen, dass die Tschechen das Gleiche gemacht haben wie die Deutschen. Sie haben die Praxisgebühr eingeführt, weil sie festgestellt haben, dass es ein sinnvolles Steuerungsinstrument ist, das man hat. Wir haben damit die Missbrauchsanfälligkeit vermindert.
Ich hatte in diesem Haus schon einmal, als wir über die Praxisgebühr gesprochen hatten, ein Beispiel aus dem persönlichen Bekanntenkreis vor Einführung der Praxisgebühr gebracht. Das ältere Ehepaar ist immer gemeinsam zum Arzt gegangen, und beide haben jedes Mal ihre Karte hineingesteckt, obwohl sich nur einer hat behandeln lassen. So lange das nichts kostet, bekommt es der Patient nicht mit. Er gibt einfach seine Karte hin. Das ist durch die Praxisgebühr nicht mehr der Fall. Da überlegt man schon, ob man die Karte abgibt. Das ist ja nichts anderes als ein Missbrauch des Gesundheitssystems, der damit eingedämmt wird.
Die Praxisgebühr ist sozial gerecht. Sie hat sich bewährt. Die Kosten für die Versicherungsgemeinschaft sind durch die Einführung der Praxisgebühr gesunken, denn die Versicherten bezahlen ja das Ganze des Systems insgesamt. Sinnlose Doppelbehandlungen können damit verhindert werden, Doppeluntersuchungen ebenfalls. Ich hatte das am Röntgenbeispiel gezeigt. Wir haben Anreize gesetzt, dass die Behandlungsqualität besser wird. Wir haben schon über die DMPs, über die besonderen Hausarztmodelle gesprochen, die die Krankenkassen einge
führt haben. Man will dazu kommen, dass der Hausarzt noch viel stärker steuert. Dann wird ja auch keine Praxisgebühr fällig. Wenn Sie jemanden haben, der sich darüber beschwert – heute höre ich übrigens keine Kritik mehr, ich höre jetzt keinen mehr, der sagt, dass die Praxisgebühr schlecht wäre –, dann empfehlen Sie einmal die Hausarztprogramme der verschiedenen Kassen, denn wenn Sie sich in die Hausarztprogramme einschreiben, dann müssen Sie keine Kassenprogramme zahlen. Das kann man jederzeit tun und es auch jedem empfehlen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Erinnerung noch einmal die Geschichte. Die Praxisgebühr wurde im November 2000 vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im Jahresgutachten vorgeschlagen, tauchte 2002 im Jahresgutachten der Wirtschaftsweisen im Sinne des Hausarztmodells wieder auf und wurde 2003 von der Regierungskoalition übernommen und von der CDU wieder auf alle Ärzte im Kompromisspapier ausgeweitet.
Im August 2003 sagte der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, also der Vertreter der Ärzteschaft in Deutschland, der Einzug der Praxisgebühr durch die Ärzte sei die – wörtlich – praktikabelste Lösung. Dann kamen die Unterschriftenlisten in den Praxen, auch in sächsischen Praxen, und dann kam die Eingewöhnung – eine Eingewöhnung, wie sie in vielen europäischen Ländern schon vor uns erfolgte.
Die SPD ist der Meinung, dass der Steuerungseffekt der Praxisgebühr durchaus existiert. Aber er existiert im Wesentlichen nur am Anfang des Quartals, dann bekommen die Patienten – so ist meine Beobachtung – eigentlich alle Überweisungen, die sie, die Patienten, wollen. Die weiteren Arztbesuche sind in der Regel kostenfrei, und dort habe ich meine Zweifel, was den Steuerungseffekt betrifft.
Diese Zweifel teilen übrigens auch die Autoren der von Ihnen zitierten DIW-Studie. Hier müssen wir unbedingt weiter am Thema arbeiten, aber nicht wie Sie nach dem Motto „rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“. So ein pauschaler Antrag ist für uns nicht zustimmungsfähig. Immerhin halte ich Ihnen zugute, Herr Dr. Pellmann, auch Ihnen persönlich, dass Sie schon immer gegen die Praxisgebühr waren. Insoweit sind Sie hier konsequent.
Ja, wir als SPD diskutieren deutschlandweit innerhalb der SPD verschiedene Modelle, wie dieses System verbessert werden könnte.
Verehrter Herr Gerlach, würden Sie mir dann wenigstens zustimmen, wenn wir schon immer konsequent dagegen waren, dass eigentlich Ihre Partei die Praxisgebühr auch nicht wollte, sondern dass sie dann über den Bundesrat usw. hineingedrückt wurde?
Herr Dr. Pellmann, ich zitiere noch einmal, was ich dazu gesagt habe: „…wurde dann von der CDU auf alle Ärzte im Kompromisspapier ausgeweitet“.
So war die Geschichte. Das heißt nicht, dass ich mich als SPD-Vertreter jetzt zurückziehe und sage, weil es die böse CDU gab, musste die gute SPD die Praxisgebühr einführen. So weit gehe ich nicht. Das werden Sie auch von mir nicht hören.
(Dr. Dietmar Pellmann, Linksfraktion: Das war im Konkreten Herr Seehofer in Zusammenarbeit mit Frau Schmidt!)
Ich hatte versucht, deutschlandweit innerhalb der SPD verschiedene Modelle zu diskutieren, wie dieses System verbessert werden könnte. Beispielsweise fordert die Landes-SPD Baden-Württemberg, die finanzielle Belastung von Menschen mit geringen Einkommen zu reduzieren und die Lenkungsfunktion – das ist wichtig, Herr Dr. Pellmann – bei den Zuzahlungen zu stärken. Um unerwünschten sozialen Härten entgegenzuwirken, will sie sämtliche Zuzahlungen für Personen ohne ständigen Wohnsitz entfallen lassen. Das Gleiche gilt für Pflegebedürftige, die ergänzend Sozialhilfe beziehen. Darüber hinaus sollen nach dem Willen der dortigen SPD die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet werden, allen Versicherten – das Beispiel Barmer kam vorhin hier in den hinteren Reihen – ein Versorgungsmodell anzubieten, das sie bei Einschreibung in dasselbe von jeglicher Praxisgebühr freistellt.
Jetzt noch einige wenige Argumente zu der DIW-Studie, mit der Sie Ihren Antrag begründen. Das macht ja immerhin die Hälfte Ihres Begründungsantrages aus. Die Autoren nehmen einen Zeitreihenvergleich vorher/nachher, vor und nach der Einführung der Praxisgebühr, vor – einmal 2000 bis 2003 und einmal 2005 bis 2006. Insbesondere vergleichen Sie Daten von GKV, also gesetzlich versicherten Mitgliedern, auf die sich die Einführung der Praxisgebühr beschränkte, mit PKV, also privat Versicherten, die davon gar nicht betroffen sind. Zusätzlich vergleichen Sie die Zahl der Arztbesuche zwischen chronisch
kranken und armen GKV-Mitgliedern – wer das arm auch immer definiert –, insbesondere von Sozialhilfeempfängern, mit denen von PKV-Versicherten. Jetzt kommt etwas sehr Wichtiges. Die Autoren kontrollieren die verschiedenen Indikatoren unter anderem anhand der subjektiven Einschätzung des Gesundheitszustandes. Die Autoren räumen mögliche Ungenauigkeiten bei der Erfassung der Personen mit chronischen Erkrankungen anhand des sogenannten sozioökonomischen Panels ein, beschreiben aber nicht die Beobachtung, dass Angehörige unterer sozioökonomischer Schichten ihre Gesundheit tendenziell schlechter einschätzen als Bessergestellte.