Protokoll der Sitzung vom 05.10.2005

(Beifall bei der FDP)

Ich erteile jetzt das Wort der Fraktion GRÜNE. Frau Hermenau, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Es wird wahrscheinlich an diesem Tag Ihr Geheimnis bleiben, meine lieben Kollegen

von der Linksfraktion.PDS, warum Sie der Meinung sind, wir müssten tagesaktuell parallel zur Tagung des Binnenmarktausschusses der Europäischen Union die Debatte aufstellen.

Der Punkt ist ganz klar. Deutschland ist in Brüssel bestmöglich im mehrheitlichen Sinne dieses Hauses aufgestellt. Es wird aus Sachsen keinen wesentlichen Impuls mehr geben, der irgendetwas an der deutschen Position zu dem verbessern könnte, was wir mehrheitlich in diesem Hause denken. Insofern ist es ziemlich rätselhaft, warum Sie der Meinung sind, wir müssten das noch einmal diskutieren. Die Plenarmehrheit im Europäischen Parlament wird entscheiden, genauso wie der EU-Ministerrat. Die Aufstellungen von deutscher Seite aus sind klar, auch die Mehrheiten im Europäischen Parlament sind meines Wissens klar. Die Dienstleistungsrichtlinie im ursprünglichen Entwurf hat keine Chance auf eine Mehrheit im Europäischen Parlament.

Der Binnenmarktausschuss ist einer von fünf Ausschüssen, die über diese Frage zu entscheiden haben. Es haben dazu bereits vier Ausschüsse im Europäischen Parlament getagt. Das waren die Bereiche Umwelt, Kultur, Soziales und Beschäftigung. Diese vier Ausschüsse haben bereits die ursprüngliche Version der Dienstleistungsrichtlinie abgelehnt. Deswegen ist es ein etwas merkwürdiges Verhalten, dies noch einmal mit einer solchen Angstbehaftung zu thematisieren. Ich muss davon ausgehen, dass man damit etwas bedienen möchte, was sich im Land gern breit macht. Wir haben das im Redebeitrag der NPDFraktion auch gehört: Es ist eine Instrumentalisierung von Vorgängen, die ich ganz und gar nicht richtig finde.

Wir sind hier – außer der FDP-Fraktion, die das gerade deutlich gemacht hat, und der NPD-Fraktion, die aus anderen Gründen dagegen ist – im Prinzip gegen diese Dienstleistungsrichtlinie. Vier Fraktionen sind dagegen. Der Bundestag ist genauso aufgestellt. Wenn ich einmal von der kleinen Petitesse absehe, dass es vielleicht einen Auffassungsunterschied zum Thema Mindestlohn zwischen der SPD und der CDU gibt, gehe ich davon aus, dass die CDU vergleichbar zur Bundesregierung in Brüssel in der Frage aufgestellt ist. Es kann eigentlich nicht mehr viel verbessert oder geändert werden.

Welches sind denn die Kernprobleme? Dabei kann man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen, Herr Morlok. Der Warenverkehr ist das eine – dabei gibt es durchaus vernünftige Erfahrungen, das will gar keiner bestreiten –, aber Dienstleistungen sind etwas anderes, vor allen Dingen dann, wenn Sie in den Bereich der Daseinsvorsorge blicken. Es ist wichtig, dass wir einen starken Staat haben, der in der Lage ist, die Grundversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Sie können sie nicht gnadenlos der Konkurrenz aussetzen, vor allen Dingen, wenn sie sich über Lohnfindung definiert.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Vor diesem Hintergrund kann man sich, und das sind auch die Grünen-Änderungsanträge im Europäischen Parla

ment gewesen, eigentlich nur darauf einlassen, dass man sich auf kommerzielle Dienstleistungen beschränkt, eine Art Positivliste entwickelt und sagt, in diesen Branchen könnte man das zulassen, weil zum Beispiel der Bereich der Daseinsvorsorge nicht berührt ist.

Damit kann man in der Diskussion etwas anfangen. Aber wesentlich ist doch die Frage der Harmonisierung. Was ich bei den gesamten Angstschürern immer höre, ist eigentlich eine Skepsis gegenüber der zivilisatorischen Fähigkeit, dass die europäischen Völker zu einer Harmonisierung ihrer Sozial-, ihrer Steuer- und ihrer Kommunalsysteme in der Lage sind, und das finde ich falsch. Natürlich kommen wir aus einem Zivilisationskreis, natürlich sind wir in der Lage, wenn wir das wirklich wollen, uns zu einigen. Ich erlebe eigentlich immer nur die Scheu davor, sich auf diese Gruppe von Staaten einzulassen, und empfinde es als sehr nachteilig.

Das Ziellandprinzip, um das es eigentlich geht, nämlich die Frage, ob man nach den Standards im Zielland arbeitet, ist ein wichtiger Punkt. Wenn Sie den Bereich der Pflege betrachten, den Bereich der Abfallentsorgung, den Bereich der Abwasserentsorgung, den Bereich der Wasseraufbereitung, so sind das alles Bereiche, in denen es wichtig ist, dass die Standards, die in dem Land, in dem die Dienstleistung angeboten wird, auch wirklich akzeptiert und aufgenommen werden.

Wenn Sie sich diese hohe Ausdifferenzierung der Realitäten in der Europäischen Union einmal vor Augen führen, ist ganz klar, dass zuerst die Harmonisierung kommen muss und erst dann zum Beispiel irgendwelche Richtlinien im Bereich der Dienstleistungen kommen können. Deswegen ist das Pferd sozusagen von hinten aufgezäumt worden, als die Kommission mit der Dienstleistungsrichtlinie vorgeprescht ist. Dies ist eindeutig das Problem, vor dem wir stehen. Ich denke, dass es wichtig ist, sich dieses auch genau vor Augen zu führen, anstatt Angst zu schüren.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich erteile der Linksfraktion.PDS das Wort. Frau Mattern, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Petzold von der CDU hat am 22. April hier im Plenum von einer breiten „Phalanx gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie“ gesprochen und zugleich beschworen, dass „das sächsische Dienstleistungsgewerbe einen fairen Wettbewerb ohne unnötige Einschränkungen nicht zu scheuen“ braucht.

Abgesehen davon, dass ich nicht weiß, wie es einen fairen Wettbewerb in Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge geben soll; wenn künftig Leistungen vom Gesundheitswesen über den Bildungsbereich bis hin zur Post dem ungeschützten Wettbewerb ausgesetzt werden sollen, frage ich mich angesichts der gestern geplatzten Beratung des Binnenmarktausschusses des Europaparlaments, worin die heute aktuelle Position der CDU besteht.

Offensichtlich ist es wie immer, Herr Petzold: Der Wahlkampf ist zu Ende und die deutschlandweite Phalanx beginnt zu bröckeln. Wenn Sie, Frau Hermenau, das nicht mitbekommen, dann tut es mir Leid.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Sie wissen, dass die CDU inzwischen eine Positivliste vorgelegt hat. Mit dieser Positivliste sollen die sensibelsten Bereiche der Daseinsvorsorge ausgeklammert werden. Das heißt, dass hier im Grunde eine Politik eins zu eins umgesetzt werden soll, die nur noch der Wirtschaft und nicht mehr den Menschen verpflichtet ist. Das lehnen wir ab.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Dass gestern die Beratungen im EU-Parlament abgebrochen werden mussten, wurde von der Ausschussvorsitzenden Evelyne Gebhardt von der SPD mit der „erpresserischen Haltung der Konservativen und Liberalen“ begründet.

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Hört, hört!)

Abgesehen davon, dass Ihre Parteikollegen, Herr Petzold, in Brüssel damit einen lange ausgehandelten Kompromiss in Bezug auf das Herkunftslandprinzip auszuhebeln gedachten, finde ich es darüber hinaus schon skandalös, wie Sie hier im Sächsischen Landtag den großen Widerständler geben, sich aber in Brüssel nicht einmal zu schade sind, zusammen mit der nationalistisch orientierten UEN-Fraktion dafür zu votieren, dass die Regeln des Herkunftslandes uneingeschränkt gelten sollen.

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Hört, hört!)

Wer hier im Lande die bisher von der CDU am Richtlinienentwurf geäußerte Kritik für bare Münze genommen hat, der sieht sich radikal getäuscht. Leider, meine Damen und Herren, sieht es so aus, dass diese erpresserische Haltung auch noch Erfolg haben wird. Der Europaabgeordnete Joachim Wuermeling von der CSU sagte gestern – ich zitiere ihn jetzt –: „Unsere Linie ist in einer großen Koalition in Berlin absolut kompromissfähig.“ Wenn man diesen aktuellen Meldungen aus Brüssel Glauben schenken darf, dann hat sich die schwarz-rote Koalition dort schon zusammengefunden.

Deshalb, meine Damen und Herren, kann ich auch die SPD von der Kritik nicht ausnehmen. Während des Wahlkampfes und auch heute haben Sie, Herr Brangs, sehr deutlich dafür plädiert, den Gesundheits- und den Bildungsbereich von der ungezügelten Liberalisierung zu verschonen. Noch weiter ging Ihre Kollegin Gebhardt im EU-Parlament, die umfangreiche Bemühungen unternommen hat, zu einem Kompromiss zu kommen. Wenn man diesen Kompromiss jetzt aufs Spiel setzt, indem man langsam beginnt, unter die Decke der CDU in Berlin zu schlüpfen, und nicht gedenkt, Kompromisse auszuhandeln, sondern sich im Schulterschluss übt, dann, muss ich sagen, ist auch von der SPD hier nichts Gravierendes an

Widerstand mehr zu erwarten. Ich hätte heute von der SPD erwartet, dass sie sich von den Aussagen des Abgeordneten Joachim Wuermeling, der sich wie der neue Sprecher der großen Koalition geäußert hat, distanzieren würde. Da dies nicht erfolgt ist, gehe ich davon aus, dass Sie insgeheim längst einverstanden sind.

(Stefan Brangs, SPD: So ein Quatsch!)

Wir, die Linksfraktion.PDS, werden versuchen, Mehrheiten für positive Änderungen an der Dienstleistungsrichtlinie zu unterstützen. Zugleich befürworten wir die angekündigten außerparlamentarischen Aktionen gegen diese Dienstleistungsrichtlinie. Im Übrigen sind wir dafür, das Kunststück zu vollbringen, sowohl den Interessen der freien und kommunalen Wirtschaft als auch dem Interesse der Menschen nach einem hohen Maß an Daseinsvorsorge gerecht zu werden. Das scheint mir in diesem Fall recht einfach zu sein: Diese Dienstleistungsrichtlinie darf einfach nicht in Kraft treten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Wird von der Fraktion der CDU noch das Wort gewünscht? – Herr Dr. Hähle, bitte.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will auf einige Redewendungen, die in dieser Debatte gefallen sind, noch einmal eingehen.

Der Abg. Leichsenring von der NPD meinte: „Das System hat keine Fehler, das System ist der Fehler.“ Das hat er hier nicht zum ersten Mal gesagt – das ist aktenkundig –, und er meint damit die Demokratie. Die Demokratie hat keine Fehler, sondern sie ist der Fehler, meint die NPDFraktion,

(Uwe Leichsenring, NPD: Habe ich nicht gesagt, Herr Hähle! Das ist eine Unterstellung!)

dazu kommt auch noch Europa. Das weisen wir zurück, und wir wollen den Finger genau in die Wunde legen. – So denkt die NPD, und sie denkt überhaupt nicht daran,

(Beifall bei der CDU, der Linksfraktion.PDS, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und der Staatsregierung)

den Menschen in Europa, die vielleicht im Moment zu den Verlierern gehören, zu helfen,

(Zuruf des Abg. Alexander Delle, NPD)

sondern sie macht auch einen Unterschied zwischen Deutschen und anderen. Die NPD zieht die Schlussfolgerung: Wir müssen uns abschotten. Deutsche zuerst! Das ist populistisch.

(Alexander Delle, NPD: Das ist realistisch!)

Das würden auch viele Betroffene jetzt unterschreiben.

Aber man muss auch die Frage nach der Gerechtigkeit stellen. Ist es gerecht, dass sich unsere Nachbarn mit

einem vergleichsweise niedrigen Lebensstandard zufrieden geben müssen, nur weil sie auf der falschen Seite des Erzgebirges geboren sind? Auch diese Frage müssen wir immer wieder mal stellen.

(Beifall bei der CDU, der Linksfraktion.PDS, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und der Staatsregierung – Jürgen Gansel, NPD, steht am Mikrofon.)

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ich möchte keine Zwischenfrage gestatten.

(Jürgen Gansel, NPD: Ist klar!)

Die Globalisierung ist ein Ergebnis offener Grenzen und nicht das von der Politik erzeugte Schreckensszenario zur Durchsetzung von Sozialdumping. Das möchte ich auch einmal an die andere Seite richten. Alle Regelungen, die wir jetzt treffen, um einen Übergang zu gestalten, können natürlich nur von kurzer Dauer sein, denn sie werden von der Wirklichkeit immer überrollt werden.