Protokoll der Sitzung vom 05.10.2005

Die Globalisierung ist ein Ergebnis offener Grenzen und nicht das von der Politik erzeugte Schreckensszenario zur Durchsetzung von Sozialdumping. Das möchte ich auch einmal an die andere Seite richten. Alle Regelungen, die wir jetzt treffen, um einen Übergang zu gestalten, können natürlich nur von kurzer Dauer sein, denn sie werden von der Wirklichkeit immer überrollt werden.

Viel besser wäre es, wenn wir uns auf die Bedingungen, die uns die Globalisierung bietet, einstellen würden und versuchten, Nutzen daraus zu ziehen. Gleiche Wettbewerbsbedingungen auch in anderen EU-Staaten, auch für Dienstleister in Deutschland, das war das ursprüngliche Ziel dieser Dienstleistungsrichtlinie. Was daraus geworden ist, sehen wir im Moment. Man muss mit kühlem Kopf noch einmal überdenken, ob uns das alles wirklich mehr nützt oder mehr schadet.

Eines will ich auch noch erklären. Kollege Brangs von der SPD-Fraktion hat den Mindestlohn als Allheilmittel herausgestellt. Wir sind in einer Koalition, aber nicht in allen Fragen einer Meinung. Die CDU-Fraktion vertritt die Meinung, dass die Einführung eines Mindestlohns eher Arbeitsplätze aus Deutschland verdrängen würde,

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Wohin denn?)

und das kann auch nicht unser Ziel sein.

(Beifall bei der CDU)

Also rate ich zur Gelassenheit und zur Betrachtung der Situation, wie sie ist. Es ist keine gute Methode, mit einer Aktuellen Debatte den Menschen Angst einflößen zu wollen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der FDP)

Wird von den Fraktionen noch das Wort gewünscht? – Dann erst einmal in der Reihenfolge. Bitte, Herr Leichsenring.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Hähle, ich denke, ich hatte mich vorhin eindeutig ausgedrückt: Es ging um Wirtschaft. Das

Wirtschaftssystem halte ich nach wie vor für das Grundübel aller Dinge. Da ging es überhaupt nicht um Demokratie, wie Sie hier erzählen.

Wissen Sie, Herr Dr. Hähle,

(Zuruf des Abg. Dr. Fritz Hähle, CDU)

wenn ich vom Druck der ausländischen Billiglohnkonkurrenz spreche, dann möchte ich in keiner Weise Stimmung gegen Fremdarbeiter oder kleine Selbstständige, die hier Geld verdienen wollen, schüren. Diese folgen nur den uns von der Politik aufgezwungenen unsozialen Marktmechanismen. Das sage ich hier vorsorglich, weil Sie immer wieder diese Fremdenfeindlichkeitsschallplatte oder sogar Demokratiefeindlichkeitsschallplatte auflegen. Es sind einzig und allein die vorherrschende Politik und ihre Vollstrecker; auch Sie, als politischer Globalisierer, sind mitverantwortlich für diese beschriebene Entwicklung.

Es handelt sich also primär doch um eine Systemfrage und um die fatalen Auswirkungen einer falschen Politik, nicht um einen Konflikt zwischen den Menschen, die Opfer dieser Politik werden. Wir können sehr genau unterscheiden, wer hier schuld ist, wer Ross und wer Reiter ist. Wir machen nicht die Menschen verantwortlich, die Polen, die Tschechen, die hier ihre Dienstleistungen anbieten, sondern wir machen Sie verantwortlich, weil Sie die Bedingungen schaffen, dass es erst dazu kommt. Das ist der Unterschied!

(Beifall bei der NPD)

Herr Morlok, noch ein Satz zu Ihnen. Wir reden über Menschen und nicht über Güter bei dieser Sache. Wenn Sie sich einmal die Arbeitskosten im Dienstleistungsgewerbe anschauen – Stand 2002 –, waren es 3 455 Euro im Monat in Deutschland. In der Tschechei, was unser unmittelbares Nachbarland ist, sind es 832 Euro. Das ist ein Viertel! Sie wollen mir doch nicht einreden, dass ein Fliesenleger aus der Tschechei schlechter arbeitet als ein Deutscher, aber er arbeitet zu einem Viertel der Kosten.

Herr Leichsenring, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dann erklären Sie mir einmal, wie Sie dabei deutsche Arbeitsplätze erhalten wollen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der NPD – Zuruf des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS)

Wird von der FDP noch das Wort gewünscht? – Herr Morlok, bitte.

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Ich möchte wissen, wie man das System ändert, wenn man die Grenzen dicht macht! – Uwe Leichsenring, NPD: Man kann alles bereden!)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Offensichtlich verstehen Sie einige wirt

schaftliche Grundlagen nicht. Denn wenn es so sein sollte, dass die Billiganbieter bei den Dienstleistungen jetzt den Markt in Deutschland überschwemmen und alle verdrängen: Warum ist das Gleiche nicht auch bei den Gütern der Fall? Die werden doch in Tschechien genauso günstig, wie Sie hier behaupten, Herr Leichsenring, hergestellt.

(Zuruf des Abg. Alexander Delle, NPD)

Sie müssten ja den deutschen Markt in einem Maße überschwemmen, dass hier überhaupt nichts mehr hergestellt wird. Nichts davon ist der Fall. Die deutsche Wirtschaft profitiert nach wie vor von dem Export.

Es ist ja auch nicht so – das ist die große Mär in dieser Diskussion –, dass deutsche Dienstleistungen heute schon überall angeboten werden könnten und nur wir als arme Deutsche gezwungen wären, unseren Markt zu öffnen. Mitnichten ist das der Fall. Es gibt ja gerade auch wesentliche Hemmnisse für deutsche Dienstleister im europäischen Ausland. Die sollen doch auch alle fallen, damit die deutschen Dienstleister dort tätig, ihre Märkte erschließen und Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen werden können. Das vergessen Sie ganz einfach, es wird vollkommen aus der Diskussion ausgeblendet. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, um die deutsche Dienstleistungsbranche zu stärken. Dies müssen Sie zur Kenntnis nehmen und dürfen es nicht einfach in der Diskussion weglassen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Wird von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN noch das Wort gewünscht? – Das ist nicht der Fall. Dann die Linksfraktion.PDS. Herr Scheel, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen: „Die Liberalisierung der Dienstleistungen kann nicht isoliert betrachtet oder geregelt werden. Die geplante Herstellung des Binnenmarktes steht in einem engen fachlichen Zusammenhang mit dem in Betrachtung befindlichen Richtlinienvorschlag zur Anerkennung der Berufsqualifikation, überlagert sich in einem erheblichen Bereich mit dem von der Kommission im Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zur Diskussion gestellten Zielsetzungen und muss mit der bestehenden Entsenderichtlinie abgestimmt werden. Solange nicht hinsichtlich der Anerkennung der Berufsqualifikation und der Daseinsvorsorge Grundentscheidungen gefallen sind, sollte die damit verbundene Regelung der geplanten Richtlinie nicht in Kraft treten.“

So argumentierte der Bundesrat in seiner Drucksache 128/04 schon am 2. April letzten Jahres. In diesem Punkt muss ich dem Bundesrat ausdrücklich Recht geben.

Ja, Europa steckt in einer Krise. Das liegt zum einen am offensichtlichen Scheitern der Diskussion um eine Verfassung für Europa, zum anderen an der wieder verstärkt

auftretenden Auseinandersetzung zwischen den Mitgliedsstaaten selbst. Die aggressiven Formen der Auseinandersetzung sind es, welche die europäische Idee diskreditieren oder zu diskreditieren drohen. Da scheint es schon fast tollkühn zu sein, wenn der Kommissionspräsident Barroso nach dem Scheitern der Verfassungsdebatte verkündet, dass er jetzt mit Nachdruck an der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie arbeiten will.

Ausgerechnet das Projekt, das vor einem halben Jahr durch die Erkenntnisse einiger aufgewachter Staatschefs – darunter auch der noch amtierende Kanzler Schröder – gebremst wurde! Zu den Gründen des damaligen Scheiterns ist schon vieles gesagt worden, was ich hier nicht wiederholen will. Aber eine Feststellung scheint sich doch zu lohnen: Die Europäische Union hat es bisher nicht geschafft, auch nur eine der angestrengten Harmonisierungsdebatten durchzuhalten, weder zur Daseinsvorsorge noch zum Verbraucherschutz, noch zu Arbeitnehmerrechten, zu Sozialstandards usw. usf.

Weil die Europäische Union – so scheint es – nicht die Kraft hat, eine Harmonisierungsdebatte ergebnisorientiert zu führen, versuchen sich unsere frustrierten Kommissare mit Winkelzügen à la Bolkestein. Kann man denn allen Ernstes denken, dass sich die Europäische Union nach dem Prinzip des Wilden Westens aufbauen lässt, der Wettbewerb das einzige Wirkungsprinzip eines zusammenwachsenden Europas ist? Jede Tradition, jedes kulturelle Erbe wird so nimmersatten Konzernen geopfert.

Wollen wir wirklich zulassen, dass in den Vorstandsetagen über die Qualität unseres Trinkwassers und über das kulturelle Angebot in den Theatern oder die Hüftgelenke von Oma à la Missfelder entschieden wird?

Die Linke kämpft um die Daseinsvorsorgeeinrichtungen in öffentlicher Hand, um diese elementaren Bereiche des gesellschaftlichen Lebens den Wirkungsmechanismen der Privatwirtschaft zu entziehen, Herr Morlok.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Es geht nicht nur darum, für den Erhalt der bestehenden öffentlichen Dienstleistungen zu kämpfen, sondern diese zu erweitern, zu erneuern und zu demokratisieren, damit dieser Sektor den reellen Bedürfnissen der Bevölkerung in der Zukunft besser entspricht.

(Vereinzelt Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Nicht zuletzt deshalb hat die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di die folgende Auffassung – ich zitiere –: „Alle Verkehrsdienstleistungen, Dienstleistungen der Gesundheitsversorgung, alle sozialen Dienste und die Übernahme der Kosten, alle audiovisuellen und kulturellen Dienste sowie Dienste der Versorgung und Entsorgung müssen vollständig vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen werden.“

Marktradikale Vorstellungen von der Entwicklung Europas finden immer mehr Kritiker. In Frankreich haben sich über 1 000 öffentliche Verwaltungen zu GATS-freien Zonen erklärt. – Ich hoffe, ich muss Ihnen nicht erklären,

was das GATS ist. – Dabei geht es nicht um die strikte Ablehnung von Wettbewerb und Marktwirtschaft. Es liegt eine ungeheure friedensstiftende Kraft im wirtschaftlichen und kulturellen Austausch zwischen den Völkern. Auf Unverständnis stoßen die Liberalisierungsbefürworter nur bei all denen, die denken, dass Wettbewerb und Marktwirtschaft nicht in allen Teilbereichen des gesellschaftlichen Lebens handlungsleitend sein dürfen.

„Dienstleistungen von allgemeinem Interesse werden formal durch die Richtlinie nicht berührt. Für die Wirtschaft bleibt vordringlich, Wettbewerbsverfälschungen unter dem Deckmantel der Daseinsvorsorge zu verhindern. Dienstleistungen von allgemeinem Interesse sollten – wo immer möglich – durch die im Wettbewerb stehenden Privatunternehmen erbracht werden“, so das BDIPositionspapier vom 8. April 2005.

Der Staat braucht Bürger und nicht Kunden. Es geht eben nicht um einen Deckmantel, sondern um ein anderes Prinzip, um das zu streiten es sich lohnt. Für die Linksfraktion.PDS bleibt es insofern vordringlich, die Entdemokratisierung der Daseinsvorsorge unter dem Deckmantel des Wettbewerbs zu verhindern. – Ich werde fortfahren.

Vielen Dank.

Wird von den Fraktionen noch das Wort gewünscht? – Das ist nicht der Fall. Dann Herr Minister Jurk, bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt wohl seit langem kaum ein EU-Vorhaben, das so kontrovers diskutiert wird wie die geplante EU-Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt. Dieses Vorhaben hat zu einer großen Verunsicherung und Kritik der Unternehmen, vor allem des Handwerks und der freien Berufe, der berufsständischen Organisationen, der Gewerkschaften, der Verbraucher- und Wohlfahrtsverbände sowie zahlreicher anderer gesellschaftlicher und politischer Kräfte geführt.