Protokoll der Sitzung vom 07.12.2005

Liebe Kolleginnen und Kollegen, welche Schlussfolgerungen lassen diese Tatsachen zu? Kurz gesagt geht es um die Frage, ob es Menschen zuzumuten ist, unter diesen Bedingungen in ihr Land zurückzukehren. Spielt es eine Rolle für die Angst der Menschen, spielt es eine Rolle für die Not der Menschen, ob auf einer großen Inlandstraße einmal am Tag eine Bombe hochgeht, einmal in zwei Tagen eine Entführung stattfindet? Spielt es eine Rolle, ob auf einem Markt in einer entlegenen Provinz nur einmal die Woche ein Bombenanschlag verübt wird – im Gegensatz zu Märkten in größeren Städten, in denen die Häufigkeit noch wahrscheinlicher ist? Spielt es eine Rolle für die Menschen, die darauf angewiesen sind, sich zwischen Landesteilen zu bewegen, weil ihre Verwandten durch den Krieg in alle Himmelsrichtungen zerstreut worden sind oder weil sie in eine Gegend zurückkehren müssen, aus der sie gar nicht stammen? Spielt es eine Rolle für die Menschen, die gezwungen sind, auf dem Markt einkaufen zu gehen?

Ich habe jetzt noch gar nicht davon gesprochen, wie hoch die Arbeitslosigkeit im Land ist, davon, wie die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung ist, und davon, wo und wie viel man für Kinder und für sich selbst zu essen kaufen kann.

Wie schätzt das Auswärtige Amt die Lage im Land ein? Es geht in seinem Lagebericht zum Irak von Tausenden von Anschlägen im gesamten Land aus. Es sagt, die staatlichen Sicherheitskräfte sind weder in der Lage, die Vorherrschaft der Aufständischen in einzelnen Regionen zu beenden, noch können sie der ausufernden Kriminalität mit polizeilicher Prävention und effektiver Strafverfolgung begegnen. Auch Entführungen, Erpressungen und Raubüberfälle sind an der Tagesordnung. Täglich kommen unzählige Zivilisten durch politische oder kriminelle Gewalt zu Tode oder werden schwer verletzt. Und immer wieder – wir wissen es – werden Ausländer entführt.

Vor dem Hintergrund dieser alarmierenden Zustände ist es völlig unverständlich, dass sich die deutschen Ausländerbehörden in ausländerrechtlichen Verwaltungsverfahren auf den Standpunkt stellen, dass die freiwillige Ausreise in den Irak grundsätzlich zumutbar ist.

Ich habe an dieser Stelle nicht genügend Zeit, tiefer auf die Bestimmungen des Zuwanderungsgesetzes und dessen Auswirkungen auf die Flüchtlinge aus dem Irak, die in Deutschland leben, einzugehen. Nur so viel: Ihr Aufenthaltsstatus ist unterschiedlich, hat mit der Art ihrer Verfolgung im Heimatland zu tun – ob es eine ganz persönliche Verfolgung ist –, hat mit der Zeit zu tun, die sie schon hier im Land sind. Aber für viele von ihnen machen die Ausländerbehörden jetzt geltend, dass sie in den Irak zurückkehren sollen.

Im Freistaat Sachsen hat das Sächsische Staatsministerium des Innern zwar einen Erlass verfügt, wonach ausreisepflichtige Iraker – also Iraker ohne Aufenthaltstitel – weiterhin geduldet werden. Diese Duldung erfolgt aber nicht aus humanitären Gründen wegen der Gefahrenlage im Irak nach § 60a Abs. 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz, sondern nur aus tatsächlichen Gründen, weil es den Ausländerbehörden bisher noch nicht möglich war, eine Abschiebung in den Irak durchzuführen.

Die örtlichen Ausländerbehörden, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen den geduldeten Irakern gegenwärtig keine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen mit Rücksicht auf die Verhältnisse im Irak erteilen. Nur dann, wenn Ausländer nach Erlasslage ausdrücklich aus humanitären Gründen wegen der allgemeinen Gefahrenlage im Herkunftsland geduldet werden, besteht ein Entscheidungsermessen für Einzelfallentscheidungen der örtlichen Behörden. So aber ist die gegenwärtige Erlasslage nicht ausgestaltet.

Die Ständige Konferenz der Innenminister und Senatoren der Länder hat verschiedene Möglichkeiten der Bleiberechtsregelungen verschiedener Ausländergruppen. Sie kann sich auf bundeseinheitliche Duldungserlasse nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz verständigen; sie kann sich aber auch auf die Erteilung einer Aufenthaltser

laubnis aus humanitären Gründen nach § 23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz nach bundesweit einheitlichen Rahmenbedingungen entscheiden.

Wir wollen solch eine bundeseinheitliche Regelung zugunsten einer befristeten Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen für Iraker. Wir halten das, liebe Kolleginnen und Kollegen, für dringend erforderlich. Die weitere Entwicklung der Sicherheitslage im Irak ist völlig ungewiss. Hoffnung auf eine schnelle Verbesserung der Sicherheitslage besteht nicht. Das Leben im Irak ist nicht nur gefährlich, es ist extrem gefährlich. Das UNFlüchtlingshilfswerk UNHCR empfiehlt aus guten Gründen die Differenzierung zwischen denjenigen Irakern, die über verwandtschaftliche Beziehungen im Nordirak verfügen und denen die Rückkehr zugemutet werden kann, und den sonstigen Irakern, die die große Mehrheit dieser Bevölkerungsgruppe in Deutschland und in Sachsen bilden.

Deshalb fordern wir den sächsischen Innenminister, Herrn Buttolo, auf, sich im Rahmen der Innenministerkonferenz, die in den nächsten Tagen stattfindet, für eine großzügige humanitäre Regelung zugunsten von geduldeten Irakern einzusetzen, die dann zu einem befristeten Aufenthaltstitel führt. Mit einer solchen befristeten Aufenthaltserlaubnis kann hier in Deutschland ein Leben in Würde und mit guten Chancen für ein eigenes Erwerbseinkommen geführt werden.

Nach Ablauf der Befristung des Aufenthaltstitels könnte erneut geprüft werden, wie die aktuelle Sicherheitslage im Herkunftsland, also im Irak, ist, um über einen weiteren Aufenthalt der Personen zu entscheiden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir meinen, wir müssen handeln, wir müssen dringend handeln – aus humanitären Gründen. Wir bitten Sie daher, unserem gemeinsamen Antrag zuzustimmen.

Danke.

(Beifall bei den GRÜNEN, der Linksfraktion.PDS und des Abg. Dr. Jürgen Martens, FDP)

Für die zweite einreichende Fraktion, die Linksfraktion.PDS, spricht Frau Ernst; bitte.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir, die Linksfraktion, wollen eine bundeseinheitliche Bleiberechtsregelung für irakische Staatsangehörige, und zwar jetzt.

Meine Damen und Herren, wir wollen, dass am 9. Dezember auf der IMK dafür ein Signal gesetzt wird – durch Sie, Herr Innenminister –, und uns geht es um mehr als Verhinderung von Abschiebungen. Bleiberecht ist mehr. Befristete Aufenthaltserlaubnis – das ist ein Titel, der für die einzelnen Personen deutlich mehr regelt. Uns geht es darum, dass sich die Menschen, die in absehbarer Zeit und jahrelang nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, hier ein normales Leben aufbauen können. Ein normales Leben aufbauen können heißt mehr, als auf

gepackten Koffern zu sitzen. Dazu gehört die Möglichkeit, eine Arbeit aufzunehmen. Dazu gehört Ausbildung, dazu gehört, ein selbstbestimmtes Leben zu führen unter den Voraussetzungen, wie es hier möglich ist. Das ist es, was wir wollen – zunächst befristet, das ist richtig –; man muss aber insgesamt schauen, wie sich die Sachlage im Irak weiter entwickelt.

Meine Damen und Herren, ich will Ihnen ganz offen und klar sagen: Wir halten jedwedes Ansinnen, irakische Staatsangehörige in nächster Zeit abzuschieben, für verantwortungslos, und es hat Abschiebungen aus Sachsen gegeben. Punkt.

Auch das Argument, es seien Personen darunter, die Straftaten begangen haben, die die innere Sicherheit gefährden, ist letztlich nicht hinreichend. Denn was passiert tatsächlich? Man benutzt dieses Argument, um allen anderen Irakern – um einmal dieses Beispiel zu nehmen –, die hierher gekommen sind, bislang ein Bleiberecht zu verwehren. Das ist doch die Wahrheit!

Was wir wollen, ist, dass die Bleiberechtsdebatte unverzüglich von der Debatte um die Bekämpfung von Terrorismus, innere Sicherheit und diese ganzen Probleme entkoppelt wird. Das ist wichtig. Das sind zwei verschiedene Schuhe und wir sollten es auch so behandeln.

Ich halte solche Begründungen für etwaige Abschiebungen auch deshalb nicht für hinreichend, weil auf der einen Seite – sehr zu Recht – vor Terrorismus gewarnt wird und die Gefahren aufgezeigt werden – das muss geschehen, ganz klar –, weil aber auf der anderen Seite zur Bekämpfung desselben Terrorismus Methoden geduldet werden, die mit dem Völkerrecht nicht vereinbar sind. Da muss ich schon einmal in die USA schauen. Wie sonst soll ich die schweren Vorwürfe auffassen, die jetzt gegenüber den USA bezüglich geheimer Flüge und Entführungen vermeintlicher oder wirklicher Terroristen, die möglicherweise sogar in geheimen, gesetzlosen Gefängnissen verwahrt werden, erhoben werden? Wie soll ich es auffassen, wenn zurzeit ein Verfahren gegen den ehemaligen CIA-Chef wegen des Verdachts der Anwendung von Folter läuft?

Meine Damen und Herren! Ich will nicht missverstanden werden: Natürlich ist es okay – wir unterstützen es –, dass Saddam Hussein jetzt vor einem Gericht steht und einen Prozess hat. Ich bin auch der Ansicht, dass Terroristen bestraft gehören – aber bitte nach Recht und Gesetz und bitte getrennt von der Debatte über das Bleiberecht! Das ist unser wichtigstes Anliegen.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS und den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren! Wenn ich heute wärmstens für eine solche Bleiberechtsregelung in der Form, wie es meine Kollegin Frau Herrmann dargestellt hat, werbe – gerade auch für Iraker –, dann verstehe ich das auch als so etwas wie eine Wiedergutmachung, an der auch wir uns beteiligen sollten, denn – machen wir uns nichts vor! – auch von deutschem Boden sind Flieger in den Irak

geflogen. Dort wurde ein völkerrechtswidriger Krieg geführt. Jede Abschiebung in ein solches Gebiet, in ein solches Land ist meiner Auffassung nach verantwortungslos.

So sieht es übrigens auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen. Das UNHCR kennzeichnet die Lage im Irak wie folgt:

Erstens. Die Sicherheitslage ist in nahezu allen Teilen des Iraks weder unter Kontrolle, noch hat sie sich in irgendeiner Weise verbessert, auch nicht nach den Wahlen. Bombenanschläge und Entführungen – siehe Osthoff – sind an der Tagesordnung. Noch nicht einmal ein Minimum an Schutz für die Bevölkerung, so stellt das UNHCR fest, kann garantiert werden. Notwendige Versorgungsleistungen fehlen.

Zweitens. Wir haben eine katastrophale Menschenrechtssituation. Meine Kollegin hat es angedeutet: Das Wiederaufleben von Moralnormen in den schiitischen Gebieten trifft vor allem Frauen, und zwar negativ. Es gibt in Größenordnungen Anschläge auf Frauen, die sich diesen Normen nicht beugen, wie Entführungen und Ehrenmorde. Vorhin ist gesagt worden, der Nordirak sei, wenn man dort Familie habe, noch halbwegs sicher. Aus dem Nordirak sind allein 4 000 Entführungen und Ehrenmorde, insgesamt gerechnet, bekannt. Insofern ist es auch nicht sicher, Menschen in den Nordirak zurückzuführen. Professionelle Banden entführen Frauen in die Zwangsprostitution. Zwangsheiraten sind wie nie zuvor an der Tagesordnung. Es kommt hinzu, dass in diesen Regionen die Gerichtsbarkeit noch nicht funktioniert. Es gibt zum Teil keine Gerichte, vor denen momentan Prozesse, welche auch immer, geführt werden könnten. Insofern ist ein fröhliches Treiben für bestimmte Kräfte im Irak an der Tagesordnung. Weder die Koalitionstruppen noch die dürftigen irakischen Sicherheitskräfte sind Herren der Lage.

Drittes Moment. Der Hohe Flüchtlingskommissar warnt dringend davor, Irakern den Flüchtlingsstatus mit dem Argument zu verwehren, es gäbe eine Fluchtalternative innerhalb des Iraks. Diese gibt es nicht. Es ist Unsinn, wenn etwas anderes behauptet wird. Dafür gibt es eine Menge Beispiele. Einige zeigen, dass Menschen, die in den Nordirak gehen wollen, von dort stammen müssen, weil sie sonst an den Grenzen des Nordiraks abgewiesen werden. Sie haben keine Chance hineinzukommen, wenn sie dort nicht eine Familie oder ein soziales Netz haben.

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Es ist völlig indiskutabel, wenn hier herumgedoktert und geprüft wird, wann Abschiebungen durchgeführt werden können, im nächsten Jahr oder in zwei Jahren. Die Gedanken müssen in eine andere Richtung gehen und darauf verwendet werden, wie wir für die Menschen, die bei uns in Deutschland sind – aus guten Gründen! –, eine solche Regelung hinbekommen, dass sie hier ein normales Leben führen können.

Meine Damen und Herren! Es hat aus Sachsen heraus Abschiebungen gegeben. 23 Personen wurden rückgeführt

ob freiwillig oder nicht, darüber kann man gern streiten. Selbst freiwillige Rückführungen werden vom UNHCR sehr kritisch gesehen. Generell sollte davon Abstand genommen werden.

Meine Damen und Herren! Wir wollen gruppenbezogene Regelungen für das Bleiberecht. Dabei denke ich nicht nur an die Iraker.

(Zuruf von der NPD)

Ich denke beispielsweise an Afghanen – wie Sie wissen, haben wir dazu einen Antrag laufen –, die in einer ähnlichen Situation leben. Dort jemanden hinzuschicken, wäre nun großer Humbug. Das brächte auch nichts. Wir wissen, dass die schlimme Situation in Afghanistan über viele Jahre so bleiben wird. Es gibt eine chaotische Situation in Afghanistan.

Ich nenne eine dritte Gruppe, über die in der IMK schon diskutiert wurde: die Flüchtlingskinder. Da muss eine Lösung her! Man muss prüfen, wie man zu gruppenbezogenen Regelungen kommen kann.

Herr Minister Buttolo, das möchten wir Ihnen mitgeben: Wenn am 9. Dezember Bleiberechtsregelungen auf der Tagesordnung stehen und dazu eine Diskussion stattfindet – das ist so angekündigt –, dann bitte ich Sie, dies hier mitzunehmen und für eine sinnvolle Regelung im Sinne der Menschen, die zu uns gekommen sind, zu werben.

(Zuruf von der NPD: Denken Sie doch einmal an die Sachsen!)

Dazu brauchen wir Sie von der NPD nicht. Ich denke, das kann man auch anders schaffen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS und den GRÜNEN)

Das war die zweite einreichende Fraktion.

Jetzt ist die CDU an der Reihe. Herr Kollege Bandmann, bitte.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Dr. Ernst, der Antrag, so wie er vorliegt, scheint mit heißer Nadel gestrickt worden zu sein. Auch das ist nichts Neues. Wir können die Parlamentsgeschichte in Sachsen durchgehen: Regelmäßig kurz vor Weihnachten bringt die PDS, diesmal die Linksfraktion.PDS gemeinsam mit den GRÜNEN, solche Anträge ein.

Ich will Ihnen auch begründen, weshalb Sie diesen Antrag offensichtlich mit heißer Nadel gestrickt haben. In Ihrer Begründung heißt es – ich zitiere –: „Nach wie vor hat sich nichts an der alarmierenden Sicherheitslage im Irak geändert. In dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 10. Juni 2006 zum Irak heißt es...“

Entweder haben Sie in die Zukunft gegriffen oder Ihnen ist ein Schreibfehler unterlaufen. Wenn es aber ein

Schreibfehler ist, dann wird dadurch nur bestätigt, dass dieser Antrag mit heißer Nadel gestrickt worden ist. Ich sage ganz deutlich: Wir als Koalition werden den Antrag in dieser Form ablehnen.

(Dr. André Hahn, Linksfraktion.PDS: Sie machen nie einen Fehler? – Dr. Cornelia Ernst, Linksfrak- tion.PDS, meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

Herr Bandmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?