Protokoll der Sitzung vom 05.04.2006

Irgendetwas wird schon die Zukunft Sachsens bilden. Je nach Bedarf und Medienlage sind es entweder die Unternehmen und die Arbeitsplätze, wenn gerade einmal über Wirtschaft gesprochen wird, oder es sind die Schulen und Hochschulen, wenn gerade wieder einmal eine PisaStudie ergeben hat, dass Sachsen wenigstens im deutschlandweiten Vergleich den Anschluss noch nicht verpasst hat.

Heute sind es die Familien, die Sachsens Zukunft bilden. Frau Orosz, Sie haben schöne Worte gefunden, aber nichts Konkretes gesagt. Was haben wir heute nicht alles erwartet! Eine kritische Bestandsaufnahme oder innovative Vorschläge zur Familienpolitik. Die sächsische Koalition hat sich ja in den letzten Wochen in der Öffentlichkeit wahrlich nicht zurückgehalten mit familienpolitischen Vorschlägen. Aber nichts dergleichen haben wir heute von Ihnen gehört. Was herauskam, war das Gleiche wie immer: Sie verharren gerade in Ihrem Verantwortungsbereich in der Selbstbelobigung.

Sehr geehrte Damen und Herren! Sie haben eine Regierungserklärung zum Thema Familienpolitik abgegeben,

meinen aber wohl eher die Kinder, besser gesagt, die vermeintlich fehlenden Kinder. Es geht Ihnen darum, mehr Kinder in eine Gesellschaft zu bekommen, deren Politik nicht auf Kinder eingestellt ist. Aber von den Familien nimmt man wohl an, dass sie schon für Kinder sorgen werden, und zwar im doppelten Sinn: Sie sorgen für die geborenen Kinder und sie sollen dafür sorgen, dass weitere – heute noch fehlende – Kinder geboren werden. Dabei ist es zunächst einmal egal, ob es sich um ein Einzelkind oder um mehrere Geschwister handelt, ob es sich um ein oder zwei oder auch vier Elternteile, um biologische oder soziale Eltern handelt und ob es sich nun um eine klassische europäische Kernfamilie oder um eine Drei- oder Viergenerationenfamilie handelt.

Die Familie im gängigen Verständnis definiert sich nun einmal über die Kinder, für die man sorgt. Deshalb kommt es nicht von ungefähr, dass zum Beispiel der Verband allein erziehender Väter und Mütter die Änderung des Grundgesetzes und die Entprivilegierung der Ehe fordert. Ich kann dies nur unterstützen, vor allem weil die Eigenständigkeit der Einzelnen der beste Garant für eine gute Beziehung ist. Jeglicher Druck, jegliche Abhängigkeit beeinträchtigen eine gute Beziehung. Das sollten wir uns ins Stammbuch schreiben. Wir sollten uns auch ins Stammbuch schreiben, dass der Staat nicht das Recht hat, Vorgaben zu den familiären Beziehungen von Menschen zu machen,

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS und der Abg. Holger Zastrow, FDP, und Antje Hermenau, GRÜNE)

vor allen Dingen nicht in einer so perfiden und widersprüchlichen Art und Weise, wie wir es gegenwärtig erleben: Auf der einen Seite werden bestimmte Vorrechte und Zuwendungen an einen idealisierten Familientyp, nämlich die Ehe, gebunden, dem immer weniger Familien entsprechen oder auch nur entsprechen wollen. Auf der anderen Seite werden Menschen, wenn es um familiäre Unterstützungspflichten geht, auch gegen ihren Willen zu Zwangsfamilien gemacht, die dann „Bedarfsgemeinschaften“ heißen. Von den Gesetzen und Maßnahmen zur Ehe- und Familienförderung haben diese Bedarfsgemeinschaften nichts, aber wenn es dann um den gegenseitigen Unterhalt geht, dann wird zur Kasse gebeten – was für eine doppelzüngige Herangehensweise!

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS und der Abg. Elke Herrmann, GRÜNE)

Und damit sich niemand diesen Zwangsfamilien entzieht, werden aus Steuermitteln finanzierte Schnüffler in Küchen und Schlafzimmer geschickt.

Dabei hätte der Staat genug damit zu tun, Sorge dafür zu tragen, dass alle Menschen, unabhängig von sozialer Herkunft, sexueller Identität oder Geschlecht, gleiche Entwicklungsmöglichkeiten haben. Der Staat hat die Aufgabe, Diskriminierung zu bekämpfen und denjenigen besondere Unterstützung zu geben, die sich in schwierigen Lebenslagen befinden. In der heutigen Diskussion

denke ich da in erster Linie an allein erziehende Mütter und Väter. Kein Wort findet sich in der Koalitionsvereinbarung zu den so genannten Ein-Eltern-Familien.

(Staatsministerin Helma Orosz: Natürlich!)

Dabei brauchen gerade Alleinerziehende in besonderem Maße unsere Unterstützung, seien es finanzielle Zuwendungen oder Unterstützung bei Ausbildung und Beruf. Heute haben Sie, Frau Orosz, diese Familien wenigstens kurz erwähnt, Vorschläge zu ihrer Unterstützung habe ich allerdings keine gehört.

Sehr geehrte Damen und Herren! „Familie“ und insbesondere „Familienpolitik“ sind auch Modewörter, die sich gerade in den letzten Wochen und Monaten, also seit der letzten Bundestagswahl, allergrößter Beliebtheit erfreuen. Aus dem „Gedöns“ von gestern wurde ein hartes und viel diskutiertes Politikfeld. Aber trotz aller Beredsamkeit ist dabei oft gerade die Zielrichtung nicht klar. Geht es darum, die Kinder und die Pflegebedürftigen und all jene, die für sie sorgen, staatlicherseits besonders zu fördern oder zu unterstützen? Oder geht es vielmehr darum, ausgleichende Aufgaben des modernen Sozialstaates auf die Familien zurückzudelegieren und damit den Staatshaushalt auf Kosten der Familien zu sanieren? Diesen Eindruck muss man leider gewinnen, wenn man das CDU-Familienpapier vom Februar dieses Jahres liest, welches Sie heute offensichtlich zu Ihrer Regierungserklärung inspiriert hat.

Weil in Ihrer Rede vieles vage geblieben ist, möchte ich einmal daraus zitieren:

„Der immer stärker ausgebaute Sozialstaat hat die Notwendigkeit von Kindern im materiellen Sinn scheinbar überflüssig gemacht. Kinder werden nicht mehr zur Alterssicherung benötigt. Die Rentenversicherung ist heute zu einer Versicherung für den Fall der Kinderlosigkeit geworden. Wir müssen die Entkopplung von Kinderwunsch und sozialer Absicherung überwinden.“

Ich wiederhole insbesondere den letzten Satz des Zitates: „Wir müssen die Entkopplung von Kinderwunsch und sozialer Absicherung überwinden.“

Sehr geehrte Damen und Herren, Sprache ist verräterisch. Kinder sollen sich die Leute zu ihrer eigenen sozialen Absicherung wünschen, sagt die CDU. Es geht der größeren sächsischen Regierungspartei damit also nicht vorrangig darum, geleistete Erziehungsarbeit bei der Rente besser anzuerkennen, wogegen wir nun wirklich nichts haben und was unsere Zustimmung findet. Nein, die CDU möchte zurück zu einer Gesellschaft, in der Kinder notwendiger Bestandteil der eigenen Altersvorsorge sind. Hier zeigt sich – wie an vielen anderen Stellen auch – ein Verständnis von Familienpolitik, welche in einer Familie offensichtlich den Ersatz für den zur Disposition gestellten Sozialstaat sieht.

(Vereinzelt Beifall bei der Linksfraktion.PDS und des Abg. Johannes Lichdi, GRÜNE)

Offen gesagt hielten wir solche Vorstellungen für überwunden. Wir wollen jedenfalls nicht dahin zurück.

Um es klar und deutlich zu sagen: Das Problem unserer sozialen Sicherungssysteme besteht nicht darin, dass es zu wenig Kinder gibt. Das Problem ist vielmehr, dass viele nichts oder zu wenig in diese Systeme einzahlen können, obgleich sie es gern täten. Allein, es fehlt ihnen einfach an dem dazu erforderlichen Erwerbseinkommen. Andere, die über einen überdurchschnittlichen Anteil am Reichtum dieser Gesellschaft verfügen, können sich hingegen den sozialen Sicherungssystemen entziehen und tun das auch. Was wir zur Stabilisierung unserer sozialen Sicherungssysteme brauchen, ist deshalb nicht weniger, sondern mehr Sozialstaat. Wir brauchen einen modernen Sozialstaat.

(Vereinzelt Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nun wissen wir, dass die Angebotssituation bei Kitas in Sachsen im bundesweiten Vergleich nicht die schlechteste ist. Die Staatsregierung scheint damit zufrieden zu sein, die Koalitionsparteien sind es auch. Warum sind die Eltern nicht zufrieden? Sie, meine Damen und Herren und Frau Orosz, übersehen, dass die gefühlte Kinderfreundlichkeit und Kinderunfreundlichkeit nicht nur etwas mit dem Status quo zu tun hat, den man betrachtet, sondern vielmehr mit einer wahrgenommenen Entwicklung.

So gut die Betreuungssituation auch sein möge, besser als 1990 ist sie trotz der heute geringeren Kinderzahlen nicht. Wenn Sie argumentieren, der sächsische Betreuungsstandard sei vorbildlich, dann gilt das erstens nur für Deutschland und zweitens steht vor dem „vorbildlich“ oft ein „noch“, genauer gesagt, ein „immer noch“.

(Zuruf von der CDU: Unsinn!)

In den letzten Jahren wurden in Sachsen fast flächendeckend Zugangsbeschränkungen zu Kitas eingeführt, die trotz aller neuerdings zur Schau getragenen Familien- und Kinderfreundlichkeit mit wenigen Ausnahmen immer noch nicht aufgehoben sind. Diese Zugangsbeschränkungen richten sich überall gegen die Schwächsten, gegen die Kinder aus Arbeitslosenfamilien und gegen solche Kinder, die die Kindertageseinrichtung am nötigsten brauchen.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Seien Sie sicher, so etwas wird registriert, und zwar nicht nur von den unmittelbar Betroffenen, sondern mindestens von allen, die nicht ausschließen, dass sie in den nächsten Jahren das Los der Arbeitslosigkeit treffen könnte. Glauben Sie mir, das sind sehr viele.

Mit der letzten Kita-Novelle wurde der Abbau von Ausstattungs- und Betreuungsstandards für Kindertagesstätten bzw. Kindertagespflegeplätze beschlossen, wahrgenommen allerdings zunächst weniger von den Eltern, sondern mehr von Stadt- und Gemeindekämmerern überall in Sachsen, die verzweifelt nach Kürzungsmöglichkeiten in ihrem Etat suchen. Wenn sie diese erst einmal in diesem Bereich gefunden haben, dann werden

es früher oder später auch die Kinder und Eltern merken. Zur Realität gehören auch die Wartelisten im Krippenbereich.

Sehr geehrte Damen und Herren! Natürlich gibt es auch positive Ansätze. So wurde der Bildungscharakter der Kindertagesstätten durch die Einführung des Bildungsplanes, ganz nebenbei, einer uralten PDS-Forderung – –

(Widerspruch der Staatsministerin Helma Orosz – Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Das stimmt, Frau Orosz! Da waren Sie noch nicht hier!)

Schauen Sie mal die Drucksachen durch, aber möglicherweise waren Sie damals noch nicht Ministerin –, durch die Aufwertung des Schulvorbereitungsjahres oder auch die Einrichtung eines entsprechenden Fachinstituts deutlich gestärkt. Deswegen haben wir das seit Jahren gefordert.

Aber auch hier kann es nicht nur um die Oberfläche gehen. Der Bildungsanspruch ist formuliert – das unterstützen wir –, aber praktisch, materiell ist er nicht untersetzt. Es fehlt an allen Ecken und Enden. Es fehlt beispielsweise an Vor- und Nachbereitungsstunden für die Pädagoginnen – bei Lehrerinnen ist so etwas selbstverständlich, in Kitas wird es einfach vergessen – und es fehlt beispielsweise an einer ausreichenden, auch die Sachkosten umfassenden Finanzierung des Schulvorbereitungsjahres, es fehlt an Weiterbildungszeit, an Fachberaterinnen etc. Dadurch entsteht leider eine große Lücke zwischen den auf der einen Seite lobenswerten Ansprüchen und den auf der anderen Seite praktischen Erfahrungen, die Pädagoginnen und Eltern machen. Die Verbesserung wird vielerorts nicht wahrgenommen, eher die Überlastung der Erzieherinnen und Erzieher.

Die Staatsregierung ist stolz auf die Kooperation von Schule und Hort, nachdem sie erst vor 15 Jahren beides getrennt hat. Die Leute greifen sich doch an den Kopf. Bereits vor vier Jahren haben wir als PDS-Fraktion ein Konzept zur kooperativen Grundschule vorgelegt. Ausgehend von einem flächendeckenden Hortangebot in Sachsen wollten wir damit den Weg zur gebundenen Ganztagsschule gehen. Das haben Sie abgelehnt und stattdessen tragen Sie nun die Kooperation wie ein Banner vor sich her zu einem Zeitpunkt, wo bereits die Integration von Grundschule und Hort zur Ganztagsschule auf der Tagesordnung stünde. Selbst den ersten notwendigen Schritt, den Hort endlich elternbeitragsfrei zu machen, wollen Sie nicht mitgehen.

Sehr geehrte Damen und Herren! Kein Wort in Ihrer Regierungserklärung fiel zum Thema junge Erwachsene. In einer Zeit, in der individuelle Bildung für ein erfülltes Leben der Einzelnen mindestens genauso wichtig ist wie für den Bestand der ganzen Gesellschaft, hat sich der Einstieg in das Berufsleben weit nach hinten verschoben. In Deutschland wurde dazu vor allem diskutiert, welche Möglichkeiten zur Verkürzung von Ausbildungszeiten bestehen. Aber das greift zu kurz. Junge Leute mit 18 sind

zwar formal erwachsen, können aber nur stark eingeschränkt das Leben Erwachsener führen; denn bis zum Ende ihrer Ausbildung unterliegen sie in der Regel der elterlichen Unterhaltspflicht. Deshalb richten sich alle staatlichen Unterstützungen an die Eltern und nicht direkt an die jungen Erwachsenen, sodass sie weiterhin wie Kinder und – wie ich meine – unmündig behandelt werden.

Zeitgemäß wäre eine elterliche Fürsorgepflicht, die mit dem 18. Geburtstag endet; denn dann haben Menschen in Deutschland alle staatsbürgerlichen Rechte, und dies müsste sich in allen Gesetzgebungen widerspiegeln.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Erforderlich ist eine soziale Grundsicherung, unabhängig von der finanziellen Leistungsfähigkeit der Eltern. Das würde einer modernen Gesellschaft gerecht werden. Ganz nebenbei werden dabei die Eltern finanziell entlastet. Aber auch hier erleben wir eine aktuelle Politik, die katastrophal nach hinten gewandt ist. Jugendliche unter 25 Jahren, die keine Arbeit haben, unterliegen nicht nur der finanziellen Abhängigkeit, sondern auch noch der „Stallpflicht“ bei den Eltern. Wie, bitte schön, sollen sich denn da junge Menschen entwickeln und entfalten können?

(Widerspruch bei der CDU)

Auch das, Frau Orosz, gehört zur Familienpolitik, auch wenn es in Ihrer Rede keine Rolle gespielt hat.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS – Dr. Matthias Rößler, CDU: Das ist Familienpolitik!)

Sehr geehrte Damen und Herren! Das kostenfreie Vorschuljahr ist ein gutes Beispiel dafür, wie weit medienwirksame Aussagen von PolitikerInnen und die Realität oftmals auseinander klaffen. Man kann sich über Sinn und Unsinn dieser Maßnahme streiten. Es gibt dabei Pro und Kontra. Aber wer hat das nicht schon alles gefordert und angekündigt? Auf Bundesebene von der ehemaligen Ministerin Schmidt über die nunmehrige Ministerin von der Leyen – ich erinnere nur an das schöne Diktum: Senkt die Kita-Gebühren oder schafft sie besser ganz ab! – bis hin zur Bundeskanzlerin. Die Landes-SPD ging damit in den Wahlkampf. Ministerpräsident Milbradt steigerte das Ganze noch und forderte gleich die Vorschulpflicht – selbstverständlich kostenlos.

(Zuruf des Abg. Dr. Fritz Hähle, CDU)

Frau Orosz wollte step by step zur kostenfreien KitaBetreuung kommen. Zuletzt stellte Vizeministerpräsident Jurk eine kostenlose Vorschule für den Doppelhaushalt 2007/2008 in Aussicht. Was ist daraus geworden?

Auf Nachfrage musste die Staatsregierung nunmehr kleinlaut einräumen: Ein kostenfreies Vorschuljahr ist auch für den nächsten Doppelhaushalt nicht geplant.

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Hört, hört!)

Die Ministerin hat heute schamhaft zum Thema geschwiegen – wie übrigens auch zu vielen anderen Dingen, für die der Freistaat etwas tun könnte. Stattdessen sollen alle anderen etwas dafür tun, dass Sachsen zum familienfreundlichen Land wird. Die Bundespolitik muss etwas tun – richtig. Die Wirtschaft soll etwas tun – sehr wichtig. Die Medien sollen Familie anders darstellen – auch nicht schlecht. Die ganze Gesellschaft soll umdenken – nun ja.

Ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Wann erklärt die Staatsregierung, was sie eigentlich tun will? Die Staatsregierung Sachsens sagt nichts zur Einführung von Ganztagsschulen. Sie sagt nichts zu Landesförderprogrammen für familienfreundliche Betriebe, nichts zu familienfreundlichen Arbeitszeitmodellen im öffentlichen Dienst.

(Staatsministerin Helma Orosz: Da haben Sie nicht zugehört!)