Protokoll der Sitzung vom 11.05.2006

(Beifall bei der FDP)

Aber lassen Sie mich jetzt in der ersten Runde bitte zum Ende kommen. – Ich möchte noch ein Beispiel nennen. Wenn es so ist, dass Mindestlöhne etwas zur Armutsbekämpfung beitragen sollen, müssten diese doch dazu führen, dass die Einkommensschere zwischen Arm und Reich geringer wird, das heißt, dass die Working poor näher an das Einkommensniveau der Mittelschicht oder der Oberschicht heranrücken können. Das müsste doch eigentlich so sein. Darin geben Sie mir sicher Recht?

Wie erklären Sie sich dann aber, dass in einem Land, in dem es keinen Mindestlohn gibt, wie in Großbritannien, das oberste Einkommensfünftel ungefähr fünfmal so viel verdient wie das unterste Einkommensfünftel; aber in Deutschland, einem Land ohne Mindestlohn, das oberste Einkommensfünftel nur das Vierfache von dem des untersten Einkommensfünftels verdient? Das heißt, die Spreizung zwischen Arm und Reich ist in Deutschland ohne Mindestlohn wesentlich geringer als in Großbritannien mit Mindestlohn.

(Beifall bei der FDP)

Ich erteile der Fraktion der GRÜNEN das Wort. Herr Weichert, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linksfraktion hat ja Recht:

Lohndumping zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist auch in Sachsen ein Problem. Die bestehenden gesetzlichen Regelungen reichen nicht aus, um die rasche Verbreitung von Niedriglöhnen zu verhindern. Wer dieses Problem im Kern negiert, redet einer Amerikanisierung der Verhältnisse das Wort. Das Phänomen der „Working poor“, das heißt, die Menschen gehen 40 Stunden in der Woche einer geregelten Beschäftigung nach und sind dennoch auf Transferleistungen angewiesen, ist leider auf der Tagesordnung. Das lässt sich nicht wegreden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Bei Stundenlöhnen von fünf Euro wird ein Monatsverdienst von 700 Euro netto erwirtschaftet. Eine Familie kann man davon nicht ernähren.

Wir müssen feststellen: Tarifverträge und die Regelungskraft der Sozialpartner bieten keinen hinreichenden Schutz vor Fehlentwicklungen mehr. In den vergangenen Jahren haben tariflich organisierte Branchen mit sehr niedrigen Entgelten genauso zugenommen wie tariflich nicht organisierte Bereiche mit Niedriglöhnen.

Meine Fraktion ist deshalb dezidiert der Auffassung, dass es in Deutschland schnell zu verbindlichen Regelungen für Mindestarbeitsbedingungen kommen muss. Wir müssen dafür sorgen, dass die Lohnspirale nach unten gestoppt wird.

(Einzelbeifall bei der Linksfraktion.PDS)

Dabei müssen wir aus unserer Sicht fünf Kriterien beachten:

Erstens: Der Mindestlohn darf keine Jobs gefährden.

Zweitens: Er darf vorhandene Tätigkeiten nicht entwerten.

Drittens: Er muss mit dem Grundsatz der Tarifautonomie vereinbar sein.

Viertens: Er muss rechtsverbindlich sein.

Fünftens: Er muss sich an den regionalen Gegebenheiten orientieren.

Neben der Festsetzung der Mindestlöhne muss auch die jährliche Anpassung geregelt werden. All dies muss in jedem Fall unter Beteiligung der Tarifpartner erfolgen, damit der Mindestlohn kein Hebel zur Schwächung der Tarifautonomie wird.

Gegenwärtig bestehen mit den unteren Tariflöhnen bereits branchenspezifische Mindestlöhne. Diese gelten allerdings nur für die tarifgebundenen Betriebe. Mit dem Instrument der Allgemeinverbindlichkeitserklärung, der so genannten AVE, ist es möglich, tarifliche Bestimmungen auf nicht tarifgebundene Betriebe auszuweiten. Hierbei muss allerdings der Tarifausschuss zustimmen, in dem die Bundesspitzenverbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer vertreten sind. Die AVEs befinden sich aufgrund des regelmäßigen Vetos der Spitzenverbände der Wirtschaft seit Jahren auf dem Rückzug.

Wir sind der Auffassung, dass die AVE auch für die Festsetzung von Mindestlöhnen attraktiv sein kann. So werden die Tarifpartner der jeweiligen Branchen gestärkt und sie erhalten die Möglichkeit, umfassend Verantwortung für die Arbeitsbedingungen in ihren Branchen zu übernehmen.

Die Ausweitung des Anwendungsbereichs des Arbeitnehmerentsendegesetzes ermöglicht die Nutzung des bisher nur für die Baubranche zur Verfügung stehenden Instrumentariums für alle Branchen in der Wirtschaft. Auf eine solche Weise würden für die nach Deutschland entsandten ausländischen Arbeitnehmer wie auch für die von Lohndumping bedrohten inländischen Arbeitnehmer faire und gleiche Arbeitsbedingungen geschaffen. Tariflich ausgehandelte Mindestlohnniveaus können nach Branchen differenziert für alle Arbeitnehmer Gültigkeit entfalten. Auch für das Arbeitnehmerentsendegesetz gilt: Die Tarifpartner müssen die hierfür nötigen Tarifverträge abschließen und eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung anstreben.

Meine Damen und Herren, mit einer Reform des Gesetzes über Mindestarbeitsbedingungen von 1952 wäre es möglich, Mindestarbeitsbedingungen in den Branchen zu verankern, in denen Tarifstrukturen nicht vorhanden sind, zum Beispiel im Gesundheitswesen oder in der Freizeitbranche. Das Gesetz ist aufgrund seiner restriktiven Voraussetzungen bisher bedeutungslos geblieben.

Meine Damen und Herren, Handlungsbedarf besteht, wir sollten uns darum kümmern.

(Beifall bei den GRÜNEN und des Abg. Klaus Tischendorf, Linksfraktion.PDS)

Ich erteile der Linksfraktion.PDS das Wort. Herr Tischendorf.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich fange auch einmal mit einem Zitat an. Es passt so schön hierher. Hören Sie gut zu, vielleicht wissen Sie, von wem es ist.

„Unternehmen, deren Existenz lediglich davon abhängt, ihren Beschäftigten weniger als einen zum Leben ausreichenden Lohn zu zahlen, sollen in diesem Land kein Recht mehr haben, weiter ihre Geschäfte zu betreiben. Mit einem zum Leben ausreichenden Lohn meine ich mehr als das bloße Existenzminimum. Ich meine Löhne, die ein eigenständiges Leben ermöglichen.“

So, nun werden Sie beim ersten Hinhören vielleicht denken, dass das aus dem gemeinsamen Eckpunktepapier von WASG und Linkspartei für die neue Linke ist. Da muss ich Sie aber leider enttäuschen. Dieses Zitat stammt aus einer Rede des damaligen amerikanischen Präsidenten Roosevelt. Das hat er 1933 vor Vertretern der amerikanischen Wirtschaft gesagt.

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Nach der SPD!)

Das war zwar nach der SPD, aber ich muss schon sagen, wenn ich einige der Reden hier, mindestens zwei, höre, denke ich, dass das volkswirtschaftliche Verständnis noch weit mehr zurückliegt als die 73 Jahre, die zwischen der Rede von Roosevelt und unserer heutigen Debatte liegen. Ich denke, bei manchen ist es noch viel schlimmer. Manche träumen schon wieder von frühkapitalistischen Zuständen als Zielorientierung für das 21. Jahrhundert. Das Schlimme daran ist – das sage ich Ihnen auch noch –, dass Sie wirklich glauben, dass Sie das durchsetzen könnten. Aber Sie können sicher sein, dass wir das ebenso wenig hinnehmen wie die Betroffenen, die jetzt schon unter der gegenwärtigen Arbeitsmarktpolitik zu leiden haben.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

In einer Aktuellen Debatte kann ich nicht alle Bildungslücken schließen, die diesbezüglich entstanden sind. Aber wir werden sicherlich noch ein weiteres Mal über Mindestlöhne debattieren. Kollege Brangs, ich kann Ihnen versprechen, wenn Herr Müntefering im Herbst seinen Vorschlag unterbreitet haben wird, können wir uns erneut darüber unterhalten.

Aber ich will auf ein paar Effekte eingehen, weil Sie immer wieder von England und von den dortigen Zahlen reden. Reden wir einmal volkswirtschaftlich. England ist mit Deutschland vergleichbar. Das ist unstrittig. Ich mache es exemplarisch nur an drei Beispielen deutlich. Mehr Zeit habe ich dazu nicht.

Erstens. Seit der Einführung des Mindestlohnes in Großbritannien im Jahre 1999 ist nachweislich eine Senkung der Armut bei Rentnerhaushalten und bei Haushalten mit Kindern zu verzeichnen. Das ist wissenschaftlich belegt. Die Anzahl der in Armut lebenden Kinder ist seit 1999 um rund 800 000 zurückgegangen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Kinderarmut ist um 800 000 zurückgegangen! Das ist genau das Gegenteil dessen, was wir zum Thema Kinderarmut in Deutschland zur Kenntnis nehmen müssen.

Zweitens. Mit der Einführung des Mindestlohnes in England sind die Durchschnittsverdienste aller Beschäftigten um mehr als 5 % gestiegen. Auch das ist statistisch nachweisbar. Übrigens, die Regierung und die Gewerkschaften gehen von einem noch höheren Effekt, nämlich von 9 %, aus. Die Fachliteratur erklärt dieses Phänomen unter anderem damit, dass die Arbeitgeber einer Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes rechtzeitig zuvorkommen wollen. Klartext: Erfolgreich am Markt operierende Unternehmen wollen möglichst nicht mit der Zahlung von Mindestlöhnen in Verbindung gebracht werden. Deshalb werben sie damit, dass sie mehr als den Mindestlohn zahlen.

Nun, meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Wirkung des Mindestlohnes muss man sich noch einmal richtig vor Augen halten: Der Mindestlohn in England führt dazu, dass alle Beschäftigten davon profitieren. Das

ist doch ein Ansporn, dem wir uns durchaus auch stellen können!

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Schauen wir uns das in Deutschland an, so stellen wir im Gegensatz dazu fest, dass der Niedriglohnsektor auf höhere Lohnbereiche eine völlig andere Wirkung hat. Er drückt die Tariflöhne nach unten und führt immer weiter weg von dem Anspruch, dass man von seiner eigenen Arbeit leben kann. Das ist die Realität in Deutschland.

Und ein drittes Beispiel, das uns als Linksfraktion auch wichtig ist: Ich nehme einmal den Aspekt, dass der Mindestlohn ein wirksames Instrument für mehr Gleichberechtigung von Frauen am Arbeitsmarkt ist. Auch das ist bewiesen. So belegen Untersuchungen in England, dass im Zeitraum 1998 bis 2003 das Einkommen der Frauen schneller gestiegen ist als das der Männer. Das ist doch positiv. Das Einkommen stieg außerdem seit der Einführung des Mindestlohnes 1999 wesentlich schneller, sodass der geschlechterspezifische Lohnunterschied für Niedriglohnbezieher verringert werden konnte.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

So weit einige Beispiele. Leider fehlt mir die Zeit. Ich kürze etwas ab.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal an die SPD appellieren. Die Linksfraktion erwartet von einer sozialdemokratischen Partei, die im Bund und im Land Regierungsverantwortung trägt, mehr als gelegentliche Fensterreden und Schönwetter-Presserklärungen, Kollege Brangs. Wir erwarten von der SPD, dass sie sich auch in Sachsen in die Kampagne von Gewerkschaften und Linkspartei für einen gesetzlichen Mindestlohn offensiv einbringt. Ob die SPD dazu überhaupt noch in der Lage ist, werden die nächsten Wochen zeigen.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Ich erteile der Fraktion der CDU das Wort. Herr Heidan, bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie von der Linksfraktion.PDS und auch von der NPD haben geschildert, wie wichtig Ihnen die Absicherung der Lebensqualität und des sozialen Standards ist. Dabei ist mir aufgefallen, dass Sie kein Wort darüber verloren haben, wo denn dieser Lebensstandard, den wir im Jahre 2006 haben, herkommt und wie er erwirtschaftet wurde. In den letzten 2000 Jahren war und ist kein anderes Organisationsprinzip – oder von mir aus, wenn Sie das besser verstehen, keine andere Gesellschaftsordnung – als die Marktwirtschaft in der Lage, für breite Bevölkerungsschichten diesen Wohlstand und eine Selbstregulierung zu schaffen.

(Beifall bei der CDU)

Das, was Sie, Herr Tischendorf, eben skizziert haben, ist nur ein Teil der von Ihnen geschilderten Situation. Was war denn in Großbritannien vor 1998?

(Zuruf des Abg. Klaus Tischendorf, Linksfraktion.PDS)

Es ist eine Regulierung erfolgt. Sie haben lediglich einen kurzen Zeitabschnitt in den Blickpunkt gerückt. Sie müssen das Ganze betrachten und auch sehen, was vor 1998 war.