Protokoll der Sitzung vom 15.11.2006

Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort an die Familie des Opfers richten – gerade weil wir auch schon miteinander gesprochen haben: Ich empfinde große Bewunderung dafür, wie Stephanie um eine Bewältigung der Ereignisse bemüht ist, und ich bitte Sie trotz aller Vorkommnisse, in Sachsen zu bleiben und nicht auszuwandern.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU und vereinzelt bei der Linksfraktion.PDS und der FDP, Beifall des Abg. Karl-Heinz Gerstenberg, GRÜNE, und bei der Staatsregierung)

Ich erteile der Fraktion der NPD das Wort. Herr Apfel, bitte.

Herr Präsident! Herr Staatsminister! Meine Damen und Herren! Täterschutz geht in unserem Land leider immer noch vor Opferschutz. Eine andere Interpretation lassen die Ereignisse der letzten zehn Tage um den Sexualstraftäter Mario M. kaum zu. Erst das Ausflippen des Angeklagten im Gerichtssaal, dann die spektakuläre Kletterflucht, die sich bis in die Morgenstunden des 09.11. hinzog, am Ende schließlich die Simulation eines Erstickungsanfalls – Mario M. gefällt sich in seinen Posen, um sein Opfer nachträglich in Angst und Schrecken zu versetzen und öffentlich zu demonstrieren, wie wenig er sich vor dem Prozess und dem Urteilsspruch fürchtet. Die Bilder eines gefährlichen, unberechenbaren Angeklagten, der die Justiz einen Tag und eine Nacht lang an der Nase herumgeführt hat, haben sich tief in das Gedächtnis aller rechtschaffenen Bürger eingebrannt. Das Ansehen der sächsischen Justiz hat am 8. und 9. November immensen Schaden genommen.

Dieser Schaden wurde durch den Auftritt des Justizministers auf der Pressekonferenz noch einmal vergrößert. Auf dieser Pressekonferenz zeigten Sie sich, Herr Minister, uninformiert. Sie vermieden jede Selbstkritik und schoben den Schwarzen Peter immer wieder anderen zu, anstatt sich zu Ihrer eigenen Verantwortung zu bekennen. So konnten Sie sich nicht daran erinnern, dass Mario M. im Mai 2005 rechtskräftig wegen Bedrohung und Körperverletzung verurteilt worden war, die Strafvollstreckungskammer Bautzen im November 2005 aber Straferlass erließ, da das Urteil die Kammer nie erreicht hatte. Unfassbar ist es: Wenn diese Panne nicht passiert wäre, hätte M. Stephanie gar nicht entführen können, da er wohl wegen Bewährungsbruchs eingesessen hätte.

Obwohl die „Morgenpost“ ausführlich über diesen Vorfall berichtet hatte, wussten Sie nichts davon. Werten Sie in Ihrem Ministerium die Presse nicht aus? Genauso wenig wussten Sie, dass M. schon während einer früheren Haftstrafe in Bautzen eine Flucht auf das Dach der dortigen JVA gelungen war. Kann es wirklich möglich sein, dass Sie die Akten zum Fall Mario M. nie durchgearbeitet haben, obwohl dieser Fall wohl zu den spektakulärsten gehört, die die sächsische Justiz in den letzten Jahren beschäftigt haben?

Schließlich leisteten Sie sich sogar noch einen echten Blackout, der Sie für ein Ministeramt untragbar macht: Sie sagten allen Ernstes, dass die Flucht von Mario M. „genau zum falschen Zeitpunkt“ gekommen sei. Wann, Herr Staatsminister, ist denn der richtige Zeitpunkt für den Ausbruch eines gewalttätigen Sexualstraftäters gekommen?

(Beifall bei der NPD)

Ihre Aussage wäre eigentlich zum Lachen, wenn das Thema nicht so ernst wäre.

Völlig inakzeptabel ist es für uns auch, wenn der Sächsische Richterverein erklärt, dass die Flucht eines mutmaßlichen Sexualstraftäters lediglich eine Panne, beileibe aber kein Skandal sei. Mag sein, dass der Richterverein seinem

ehemaligen Bundeschef beispringen will; aber diese Aussage zeugt von einer Weltfremdheit, die in der Öffentlichkeit nur Kopfschütteln, wenn nicht Wut hervorrufen muss.

Die Quittung für all diese Ungeheuerlichkeiten kam nun am Montag, als die Familie über ihren Anwalt bekannt gab, dass sie die Auswanderung vorbereite. Meine Damen und Herren, eine größere Ohrfeige für die Justizbehörden eines angeblichen Rechtsstaates kann es gar nicht geben!

Was nutzen uns Erhöhungen des Strafrahmens, wenn sie in der Praxis nicht genutzt oder durch Vorkommnisse wie im Fall Stephanie konterkariert werden? Hierzulande herrscht ein Missverhältnis, wenn einerseits mit fanatischer Verbissenheit Meinungsäußerungen verfolgt werden, während Schwerstkriminelle mit Samthandschuhen angefasst und auf ihrer Flucht sogar noch mit Wolldecken und Tee verwöhnt werden oder aber polizeiliche Maßnahmen nach der Priorität ausgerichtet werden, ob sich der Sexualstraftäter eventuell vom Dach stürzen könnte.

Meine Damen und Herren, Herr Staatsminister, genau diese falsche Prioritätensetzung unterscheidet uns. Sie sagten vorhin, dass Sie sicherstellen wollen, dass Straftäter so lange nicht auf freien Fuß gesetzt werden, bis von ihnen keine Gefahr mehr ausgeht. Doch wer soll diese Prognose einer mangelnden Gefahr abgeben? Etwa jene, die nach den Vorkommnissen in Bautzen oder zum Prozessauftakt immer noch das Gute in der Person Mario M. zu erkennen glauben? Oder irgendwelche selbsternannten Gutmenschen und sogenannten Gutachter, die Schwerstkriminellen nur allzu schnell Besserung attestieren?

Die NPD vertritt im Gegensatz zu Ihnen, Herr Mackenroth, die Auffassung, dass von derart kranken Elementen immer Gefahr ausgeht und deswegen perverse Sexualstraftäter nie wieder die Gefängnis- bzw. Anstaltsmauern verlassen dürfen.

(Beifall bei der NPD)

Wir haben bereits geahnt, dass Ihre Erklärung unzureichend sein würde. Deswegen hatten wir in der letzten Woche den Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gestellt. Schließlich haben wir uns aber doch entschieden, Ihnen zunächst einmal die Gelegenheit zur Abgabe einer Regierungserklärung zu geben. Doch Ihre heutigen Aussagen waren in letzter Konsequenz wieder einmal nichts. Sie strotzten vor Selbstgefälligkeit und der Arroganz der Macht!

Da wir uns nicht vorstellen können, dass Ihre Erklärungsversuche in der Sondersitzung des Rechtsausschusses ergiebiger sein werden als heute im Plenum – nicht zuletzt deshalb, weil es hinter den verschlossenen Türen eines Landtagsausschusses passieren soll –, werden wir unsere Forderung nach einem Untersuchungsausschuss erneuern. Sie, meine Damen und Herren, werden dann zu entscheiden haben, ob wir uns hier in diesem Hause selbst mit dem Thema beschäftigen oder ob Sie es weiterhin einer unfähigen Staatsregierung überlassen wollen, die

offensichtlich nicht bereit ist, Sachsens Kinder vor Sexualstraftätern nachhaltig zu schützen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der NPD)

Ich erteile der Fraktion der FDP das Wort. Herr Dr. Martens, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu meinem Vorredner nur so viel: Es geht Ihnen nicht um das Recht oder darum, Opfer zukünftig zu schützen. Es geht Ihnen einfach nur darum, einen Vorwand zu suchen, um auf den Rechtsstaat, den Sie eigentlich zutiefst verachten, eindreschen zu können.

(Beifall bei der FDP, der Linksfraktion.PDS, der SPD, den GRÜNEN und vereinzelt bei der CDU – Holger Apfel, NPD: Welcher Rechtsstaat?)

Zum Vorgang! Ein U-Häftling entkommt beim Hofgang dem Wachpersonal und klettert auf das Dach des Anstaltsgebäudes. Das allein ist bemerkenswert, wäre aber für die Befassung durch den Sächsischen Landtag wohl noch nicht ausreichend. Die Begleitumstände des Vorfalls und seine öffentliche Beachtung machten aber die hier abgegebene Erklärung der Staatsregierung und ein weiteres Handeln im Nachgang, im Rechtsausschuss, dringend erforderlich. Die FDP-Landtagsfraktion hat noch am 08.11. die Abgabe dieser Regierungserklärung verlangt. Ich bedanke mich dafür, dass die Staatsregierung dem nachgekommen ist. Es war dringlich.

Die Begleitumstände des Vorfalls sind es, die Aufsehen erregen. Es handelt sich bei dem Betroffenen um einen Untersuchungshäftling, dem im Fall Stephanie schwerste Straftaten – Entführung, Kindesentziehung, wiederholter Missbrauch des entführten Kindes – vorgeworfen werden. Der Betroffene hat in dem bundesweit aufsehenerregenden Prozess hierzu bereits ein umfangreiches Geständnis abgelegt. Ausgerechnet dieser Täter kann sich beim Hofgang dem Wachpersonal entziehen und dann rund 20 Stunden auf dem Dach der Anstalt aufhalten, ohne dass es dem Personal gelänge, den Gefangenen von dort herunterzubekommen.

(Jürgen Gansel, NPD: Aber Wolldecken hat er gehabt!)

Die Bilder des Gefangenen auf dem Anstaltsdach werden unerträglich lang von Fernsehsendern in alle Welt übertragen.

Meine Damen und Herren! Es geht uns heute nicht um die Fehler, die die sächsischen Ermittlungsbehörden vor der Ergreifung des mutmaßlichen Täters gemacht haben, sondern um Fehler, die nunmehr aufseiten der Justizbehörden gemacht worden sind. Warum gelang Mario M. überhaupt die Flucht auf das Dach? Nach unserer Kenntnis war es während einer früheren Inhaftierung bereits zu einem ähnlichen Zwischenfall gekommen, als Mario M. sich an der Außenwand einer Haftanstalt nach oben bis auf das Dach bewegte. Man hätte also gewarnt sein

können, Herr Staatsminister. Sie selbst sagen, die Personalakte, in der dies wohl verzeichnet war, habe seit Februar 2006 in der U-Haftanstalt vorgelegen.

Am ersten Verhandlungstag versuchte Mario M., während der Verhandlung aus dem Saal zu gelangen, und konnte nur unter Anwendung von Gewalt durch mehrere Justizbeamte hieran gehindert werden. Herr Staatsminister, spätestens hier hätte man gewarnt sein müssen. Mario M. hätte sich bereits ab diesem Zeitpunkt nicht mehr ohne Fesselung, zumindest durch Handschellen, außerhalb des Haftraumes aufhalten sollen. Mit Handschellen wäre Mario M. nicht auf das Dach gelangt, unabhängig von der Frage der baulichen Sicherung. Die Untersuchungshaftvollzugsordnung lässt dies zu; Kollege Bartl hat darauf hingewiesen.

Hier wurden nicht nur bei der Ermittlung, sondern auch hinterher, im U-Haftvollzug, erhebliche Fehler gemacht. Mangelnde Wachsamkeit und Aufmerksamkeit haben überhaupt die Voraussetzungen geschaffen, dass es zu diesem Vorfall kommen konnte.

Der zweite Fehler ist offenkundig die mangelnde bauliche Sicherung des Gebäudes – einer neu gebauten Haftanstalt! – gegen das Hinaufklettern an der Außenfassade bis auf das Dach. Auch dies wäre vermeidbar gewesen.

Herr Staatsminister, wir wissen, es ist nicht der erste Fall, in dem bauliche Sicherungen fehlen oder in Haftanstalten unzureichend sind und Gefangene diese baulichen Sicherungen umgehen oder überwinden und sich vornehmlich innerhalb von Haftanstalten in Bereichen aufhalten, in denen sie normalerweise nichts zu suchen haben. Das führte in der Vergangenheit in Sachsen bereits zu Fällen, in denen Strafhäftlinge in die Zellen von Untersuchungshäftlingen eindrangen, diese mit Waffen auszurauben versuchten und sogar versuchten Mord und andere schwere Straftaten begingen. Es ist also nicht das erste Mal, dass bauliche Sicherungen nicht ausreichend waren oder diese überwunden wurden.

Herr Staatsminister, die ständige Kontrolle und fortlaufende Bewertung von baulichen Sicherungsmaßnahmen sollte Routine sein und nicht nur auf einem solchen Anlass beruhen und etwa der sofortigen Ministeranordnung bedürfen. Mehr Wachsamkeit gegenüber dem Häftling und eine nachhaltigere Kontrolle der Sicherungen hätten uns den weiteren Verlauf erspart. Zwanzig Stunden steht der Täter dieser Verbrechen auf dem Dach herum und wird von scheinbar hilflosen Beamten aus einer Hubkanzel beobachtet.

Nach Einbruch der Dunkelheit wurden dem Gefangenen dann warmer Tee und Decken gereicht, damit – so muss es der Betrachter verstehen – sich dieser nicht erkältet.

Der Vorgang war peinlich genug, aber hier wurde die Grenze überschritten, sich vor aller Augen zum Narren halten zu lassen, Herr Minister.

(Beifall bei der FDP und der NPD)

Der fassungslose Zuschauer muss mit ansehen, wie eine anscheinend überforderte Justiz und Polizei sich von einem Straftäter wie Mario M. vorführen lassen. Das Ansehen des Strafvollzuges und seiner Bediensteten leiden unter solchen Fehlern. Es gilt zu verhindern, dass sich solche Vorfälle und Bilder wiederholen, Herr Staatsminister. Die Bürger erwarten, – wie auch das Opfer – zu Recht vom Staat, dass gefährliche Straftäter im Vollzug wie in U-Haft sicher verwahrt werden.

Die Regierungserklärung war eine erste Stellungnahme. Sie reicht aber nicht aus. Wir brauchen weitere Maßnahmen, Herr Staatsminister. Sorgen Sie dafür, dass keinem Justizminister in Sachsen jemals wieder so einer auf das Dach steigt, schon gar nicht so einer wie Mario M.!

(Beifall bei der FDP)

Ich erteile der Fraktion GRÜNE das Wort. Herr Lichdi, bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Flucht von Mario M. auf das Dach der JVA in Dresden hat in der Bevölkerung den Eindruck entstehen lassen, dass die sächsische Justiz nicht in der Lage ist, gefährliche Gewalttäter sicher unter Verschluss zu halten.

Dass es gerade Mario M. war, der dringend der schrecklichen Taten gegen Stephanie verdächtig ist, hat die Flucht auf das Dach sofort bundesweite Aufmerksamkeit gesichert. Wir sind sehr erleichtert, dass es der sächsischen Polizei gelungen ist, Mario M. endlich 03:30 Uhr vom Dach zu holen und wieder in seine Zelle zu bringen. Das ist dem besonnenen und professionellen Vorgehen der Polizei zu verdanken. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den beiden Beamten, die unter einem nicht genau kalkulierbaren Risiko für ihre eigene Sicherheit den M. vom Dach herunterbegleitet haben. Ich habe mich im Innenausschuss ausdrücklich bei Herrn Buttolo und dem Herrn Polizeipräsidenten bedankt und wiederhole meinen Dank an dieser Stelle gern.

Ich begrüße insbesondere die Leistung des Innenministers und der Polizeiführung, dem anschwellenden Mediendruck standgehalten zu haben. Die Polizei hat sich von dem stündlich wachsenden Mediendruck nicht zu einem vorschnellen Zugriff verleiten lassen, der nach Lage der Dinge dem M. den Selbstmord ermöglicht hätte.

(Jürgen Gansel, NPD: Das hätte er machen sollen!)

In Zwischentönen war schon einmal zu hören, dass es doch gar nicht so schlecht gewesen wäre, wenn er gesprungen wäre.

Meine Damen und Herren! Es ist Pflicht des Rechtsstaates, Angeklagte und Straftäter sicher zu verwahren, ganz bestimmt. Es wäre in diesem Fall die größte Justizpanne gewesen, wenn mediengehetzter staatlicher Aktionismus zum Tode eines weiteren Angeklagten im Justizgewahrsam geführt hätte. Zwar glaube ich gerne, dass eine Flucht von M. vom Dach in die Freiheit zu keinem Zeitpunkt

möglich war, doch darauf kommt es kaum an. Die Justizpanne hat jedenfalls das Sicherheitsgefühl der sächsischen Bevölkerung und insbesondere das von Stephanie und ihrer Familie massiv erschüttert. Dafür trägt der Anstaltsleiter die fachliche und tragen Sie, Herr Justizminister, die politische Verantwortung. So viel scheint bis heute klar zu sein, mehr aber auch nicht.

Der amtierende Justizminister hat einen Bericht gegeben. Nachfragen und hinterfragen können wir als Abgeordnete des Sächsischen Landtages aber nicht. Dies ist eine Reihenfolge, von der sich die Staatsregierung offensichtlich eine Druckentlastung erhofft. Der notwendigen Sachaufklärung dient sie aber nicht.