Protokoll der Sitzung vom 08.11.2007

es der Einfachheit halber an. Hat unter diesen Bedingungen die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes oberste Priorität, oder stehen nicht erst einmal sozialpolitische Aufgaben an, denen wir uns widmen sollten? Ich nenne beispielsweise Korrekturen bei Hartz IV.

(Beifall des Abg. Dr. Karl-Heinz Gerstenberg, GRÜNE)

Bei der Frage der Finanzierung stützen sich alle Berechnungen auf die momentan gut laufende Konjunktur. Was aber, meine Damen und Herren, tritt ein, wenn der Motor stottert? Sammeln wir dann die Wohltaten wieder ein, die wir gerade gewährt haben? Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln? Das ist weder in sozialpolitischer noch in arbeitsmarktpolitischer Hinsicht eine gute Strategie. Kurt Beck hat meines Erachtens die falsche Debatte eröffnet. Er hat Prioritäten gesetzt, die den Blick auf die sozialpolitische Wirklichkeit in unserem Land verzerren.

Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten Wochen und Monaten eine drastische Steigerung bei den Lebensmittelpreisen erlebt. Butter, Milch, Käse, Mehl und andere Getreideprodukte sind in zweistelligen Zuwachsraten teurer geworden.

(Vereinzelt Widerspruch bei der CDU)

Die Ausgaben für Lebensmittel machen in den Haushalten von Normal- und Gutverdienern nur einen kleinen Teil der Ausgaben aus. Bei den Hartz-IV-Empfängern machen sich solche Teuerungen überproportional bemerkbar. Wäre es nicht in dieser Situation viel wichtiger und damit richtiger, den Regelsatz für Hartz-IV-Empfänger zu erhöhen?

Meine Damen und Herren, wir debattieren auch viel über gesunde Lebensmittel, Dr. Hähle. Unsere Sozialministerin Frau Orosz hat eine entsprechende Initiative gestartet. Viele Bedarfsgemeinschaften in unserem Land stehen jetzt vor der Situation, dass sie die Preissteigerungen bei den Lebensmitteln nicht auffangen können, denn die Regelsätze erlauben keine Kompensation durch ein verändertes Verbraucherverhalten. Die Regelsätze sichern nur den Bezug des zum Leben Notwendigen, also vor allem von Lebensmitteln. Wenn die Lebensmittelpreise derartig steigen, dann besteht dort zuerst dringender Handlungsbedarf.

Ja, auch wir von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind dafür, sich kritisch mit Hartz-IV-Reformen auseinanderzusetzen. Wenn man dies sorgfältig macht, kommt man zu der Erkenntnis, dass es Änderungsbedarf gibt. Angesichts der Teuerungsraten in diesem Jahr gehört die Anpassung des Regelbedarfs unseres Erachtens ganz oben auf die Tagesordnung, meine Damen und Herren.

(Beifall des Abg. Dr. Karl-Heinz Gerstenberg, GRÜNE)

Kurt Beck hat mit seiner Initiative die Flucht nach vorn angetreten, um seiner Partei wieder sozialpolitisches Profil zu geben. Er hat damit der Verlängerung der Be

zugsdauer oberste Priorität zugeschrieben. Wir haben andere Prioritäten. Von der Linksfraktion höre ich den Einwand, warum wir das eine tun und das andere lassen. Dazu, meine Damen und Herren, kann ich nur sagen, dass eine nachhaltige Haushalts- und Finanzpolitik nicht erst seit heute zu den Grundzügen bündnisgrüner Politik gehört.

Sie ahnen es, wir werden den Antrag der Linksfraktion ablehnen. Wir würden ihn schon deshalb ablehnen, weil hier auf wenigen Zeilen milliardenschwere Zusatzausgaben gemacht werden, ohne auch nur den Ansatz einer Haushaltsdeckung aufzuzeigen.

(Dr. André Hahn, Linksfraktion: Das stimmt nicht!)

Das ist letztendlich hochgradig unsozial, weil es die Zukunft der folgenden Generation belastet. Da sind wir wieder bei Herrn Pawlow: Der Zahn tropft, auch ohne den Preis des Futters zu wissen.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Mir liegt keine weitere Wortmeldung vonseiten der Fraktionen vor. Dann bitte ich Herrn Staatsminister Jurk.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Linksfraktion hat ihren Antrag zur Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitnehmer am 9. Oktober 2007 eingebracht. Am selben Tag stellten sie auch eine Kleine Anfrage zu diesem Thema unter der Drucksachennummer 4/10058.

In meiner Antwort auf diese Anfrage habe ich bereits darauf hingewiesen, dass sich die Staatsregierung zum weiteren Vorgehen bei der Frage des längeren Bezuges von Arbeitslosengeld erst auf der Basis eines konkreten Gesetzesvorhabens äußern wird. Das gilt weiterhin.

Das Thema wird derzeit sehr sorgfältig beraten. Der Koalitionsausschuss der Bundesregierung hat dazu Prüfaufträge erteilt. Mithilfe der Bundesagentur für Arbeit soll berechnet werden, was die verschiedenen Modelle jeweils kosten würden.

Unabhängig davon stelle ich fest: Meine Partei, die SPD, hat mit ihrem Beschluss auf dem Parteitag vom 26. bis 28. Oktober 2007 in Hamburg eine aktuelle Forderung aufgegriffen. Auch die CDU hat zum Beispiel auf ihrem Parteitag im letzten Jahr in Dresden beschlossen, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes II wieder stärker an die Dauer der Beitragszahlung zu koppeln. Allerdings gibt es in der konkreten Ausgestaltung Differenzen. Ich bin davon überzeugt, dass die Differenzen lösbar sind, weil wir nicht weit auseinanderliegen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir halten an dem mit den Hartz-Gesetzen eingeleiteten Reformkurs am Arbeitsmarkt fest. So steht es im Koalitionsvertrag mit

unserem Koalitionspartner in Sachsen und wir werden nicht vertragsbrüchig. So steht es übrigens auch im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Es ist auch richtig in der Sache. Die rot-grüne Koalition in Berlin hat mit den Reformen Bewegung auf den Arbeitsmarkt gebracht und sie hat damit einen erheblichen Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung, von dem auch der Freistaat Sachsen heute profitieren kann.

Die Koalitionsvereinbarungen bilden den Rahmen für alle auf den Hartz-Reformen aufbauenden arbeitspolitischen Maßnahmen. Natürlich wissen wir alle, die Agenda 2010 ist nichts Statisches und es gibt natürlich bei solchen Reformen Leute, die besonders stark und hart betroffen sind. Ich möchte aber die Diskussion um Veränderungen bei den Arbeitsmarktreformen versachlichen. Deshalb darf ich an folgende Fakten erinnern:

Die Arbeitslosenversicherung ist keine Versicherung im klassischen Sinn, auch wenn in ihrer Bezeichnung das Wort „Versicherung“ vorkommt. Sie ist vielmehr eine Kombination aus drei verschiedenen Elementen: dem Risikoprinzip, dem Solidaritätsprinzip und dem Äquivalenzprinzip. Lassen Sie mich das jetzt aber konkreter darstellen.

Erstens zum Risikoprinzip: Abgesichert wird durch die Arbeitslosenversicherung das Risiko, arbeitslos zu werden. Dieses Risiko hängt fast nie allein vom Handeln des einzelnen Beschäftigten ab, heute schon gar nicht. Man kann gut ausgebildet und engagiert sein und trotzdem arbeitslos werden.

Zweitens zum Solidarprinzip: Das Prinzip des Risikos der Arbeitslosigkeit eines Einzelnen wird von der Gesamtheit der Beitragszahler getragen. Dabei bezahlen höher Verdienende mehr in die Arbeitslosenkasse ein als Niedrigverdiener. Mancher zahlt auch sein Berufsleben lang ein und erhält nie Leistungen. Dieser Solidargedanke hält die Arbeitslosenversicherung zusammen.

Drittens zum Äquivalenzprinzip: Auch dieses Prinzip spielt eine Rolle, denn ein Teil der Leistungen der Arbeitslosenversicherung orientiert sich an der Höhe der eingezahlten Beiträge. Allerdings sollte keiner glauben, dass für den Einzelnen ein Versicherungskonto geführt wird. Das ist nicht so und es ist auch nicht redlich, so zu tun, als ob es so wäre.

Alles in allem ist die Arbeitslosenversicherung also eine solidarische Risikoabsicherung mit Äquivalenzakzenten. Zwischen diesen verschiedenen Elementen muss immer wieder neu justiert werden. Nichts anderes wird derzeit diskutiert.

Die hohe Arbeitslosigkeit Älterer ist nicht nur ein soziales Problem. Sie wirkt sich angesichts beginnender Fachkräfteengpässe auch negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung hier bei uns im Freistaat Sachsen aus. Wir stellen fest, dass die Zahl der Arbeitslosen über 50 Jahren in Sachsen auf derzeit 90 000 Personen gesunken ist. Über das Sinken bin ich froh. Über die 90 000 Schicksale müssen wir intensiv nachdenken. Das Problem ist aber

nach wie vor groß und es trifft uns wegen des Mangels an Arbeitsplätzen in Ostdeutschland und damit auch in Sachsen besonders. Trotzdem bleiben wir dabei, dass es keine neue Tendenz zur Frühverrentung geben darf. Dementsprechend sollte – so steht es auch im SPDEntschluss – der Missbrauch der Verlängerung des Arbeitslosengeldes verhindert werden, indem die Erstattungspflicht wieder eingeführt wird. Danach erstattet der letzte Arbeitgeber unter bestimmten Voraussetzungen der Bundesagentur für Arbeit das dem Arbeitslosen nach Vollendung des 57. Lebensjahres gezahlte Arbeitslosengeld.

Selbstverständlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist es unsere ständige Aufgabe, auch über Modifikationen bei den Arbeitsmarktreformen nachzudenken und notwendige Anpassungen zu unterstützen.

Sehr verehrter Herr Abg. Weichert, ich habe die Debatte in der SPD sehr intensiv verfolgt. Ich will Ihnen eines sagen. Die klare Fixierung der öffentlichen Wahrnehmung auf das Arbeitslosengeld I hatte etwas mit einem innerparteilichen Streit zu tun und es macht Medien besonders viel Spaß, Streit zwischen dem SPD-Vorsitzenden und dem Vizekanzler aufzugreifen. Deshalb ist völlig übersehen worden, dass ein ganzes Maßnahmenpaket auch seitens der SPD diskutiert wurde.

Herr Weichert, wenn Sie den Regelsatz beim Arbeitslosengeld II ansprechen, so darf ich Ihnen gern sagen, dass der Vizekanzler Franz Müntefering dies längst als Aufgabenstellung in seinem Haus gegeben hat und aktuell auch im Lichte von Preissteigerungen überprüft wird, wie dieser Regelsatz verändert werden muss.

Hier gestatte ich mir noch einen Hinweis, bei aller Fixierung auf das schwierige Schicksal gerade auch von Arbeitslosengeld-II-Empfängern: Wir müssen intensiv über die sogenannten Nichtleistungsempfänger nachdenken, weil deren Perspektive nicht ein Leben ohne gesellschaftliche Teilhabe sein darf. Deshalb ist es für uns gerade auch wichtig, unter dem Stichwort „Altersarmut“ darüber zu beraten, welche Unterstützungsmaßnahmen diesem Personenkreis gegeben werden kann. Wir sind sehr froh, dass ein Antrag der sächsischen SPD auf dem Parteitag zur Altersarmut dazu geführt hat, dass sich der Parteivorstand intensiv in Form einer Kommission mit dieser Frage der Altersarmut, die insbesondere im Osten ein Thema werden wird, auseinandersetzen wird.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Diskussion über Arbeitslosigkeit und über das schwierige Schicksal dieser Menschen gestatte ich mir schon einen Hinweis – Herr Morlok, da haben Sie auch ganz recht –: Wir müssen auch an die denken, die momentan in Arbeit stehen. Die höheren Preise an Tankstellen und für Lebensmittel schmälern das Einkommen.

Herr Weichert, ich glaube, Sie unterschätzen etwas, wie viele Menschen sehr wenig verdienen, denen diese Preiserhöhungen natürlich mächtig ins Kontor schlagen. Deshalb ist es richtig, dass wir den Menschen auch Geld zurückgeben bzw. sie steuerlich entlasten, wo es möglich

ist. Bei der Arbeitslosenversicherung ist es sicherlich richtig, dass man zweigleisig fährt, nämlich auf der einen Seite die Bezugsdauer für ältere Arbeitslose wieder verlängert und auf der anderen Seite die Beitragshöhe zur Arbeitslosenversicherung senkt, so wie es finanziell machbar ist, um am Ende auch eine Nettoentlastung für die Leute zu bekommen.

Ich gestatte mir aus aktuellem Anlass den Hinweis: Es ist nicht unbegreiflich, dass man sich in Berlin nicht längst darauf verständigt hat, die Pendlerpauschale bzw. die Entfernungspauschale ab dem ersten Kilometer in voller Höhe wieder einzuführen, wenn man sich vorstellt, dass der Staat bei den Preiserhöhungen gerade bei Benzin und Mineralöl mitkassiert.

(Beifall bei der SPD und der CDU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde, dass der Antrag der Koalition sehr deutlich macht, dass man nicht losgelöst über die Verlängerung von Arbeitslosengeld für Ältere diskutieren kann. Es gilt, die Instrumente, die wir bereits haben, aber auch neue Instrumente zu diskutieren, genau zu beobachten und zu schauen, ob ihre Wirksamkeit erhöht werden kann.

Ich danke Herrn Pietzsch und Herrn Brangs für die Hinweise, die in dieser Richtung gegeben wurden. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie dem Antrag der Koalition Ihre Stimme geben könnten.

(Beifall bei der SPD und der CDU)

Frau Lay, das Schlusswort, bitte.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Jurk, ich bin jetzt etwas irritiert. Ich weiß gar nicht, welchem Antrag der Koalition ich jetzt die Stimme geben soll. Es liegt nur ein Antrag der Linksfraktion vor.

Insofern verstehe ich Ihre Äußerung so, dass Sie die Koalition auffordern, dem Antrag der Linksfraktion zuzustimmen. Darüber würden wir uns natürlich freuen.

Dass die GRÜNEN keinen Anlass sehen, die unsoziale Politik der Agenda 2010 zu korrigieren, nehme ich zur Kenntnis. Ich habe ehrlich gesagt auch nichts anderes erwartet. Aber, verehrter Herr Kollege Weichert, Sie haben ja noch nicht einmal verstanden, dass es sich beim ALG I um eine Versicherungsleistung, um eine eigene Kasse handelt, die im Moment übrigens Überschüsse produziert. Das hat also mit einer Belastung des Bundeshaushaltes gar nichts unmittelbar zu tun.

(Vereinzelt Beifall bei der Linksfraktion)

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich noch einmal auf den Kollegen Brangs eingehen. Sie werden es erwarten.

(Stefan Brangs, SPD: Das habe ich erwartet!)

(Vereinzelt Beifall bei der Linksfraktion) Sie haben heute wirklich den Vogel abgeschossen. Es scheint eine gewisse Schizophrenie in der Führungsspitze der sächsischen SPD-Fraktion zu herrschen. Der Fraktionsvorsitzende, Herr Dulig, warf uns gestern vor, wir würden zwar häufig die Dinge als Erste thematisieren, aber damit dürfe man ja nicht argumentieren. Sie sagen heute, wir würden Ihnen immer nur hinterherhinken. Sie sagen in Ihrer Rede einerseits, wir würden bei der SPD abschreiben, (Stefan Brangs, SPD: Nein, nein!)