Protokoll der Sitzung vom 12.12.2007

Das ist doch ganz logisch. Wenn Sie für Kinder und Jugendliche denselben Standard als Erziehungsziel haben wie für Strafgefangene, ist es doch irgendwo merkwürdig. Merken Sie noch etwas?

(Johannes Lichdi, GRÜNE: Die merken nichts mehr! – Zuruf des Abg. Karl Nolle, SPD)

Wenn Sie den Gesetzentwurf heute tatsächlich mit diesem Text verabschieden, werden Wissenschaftler und Praktiker außerhalb dieses Hauses, die das Gesetzblatt in die Hände bekommen, vor Lachen oder vor Weinen nicht in den Schlaf kommen.

(Beifall des Abg. Johannes Lichdi, GRÜNE)

Jugendstrafverteidiger wie leidgeprüfte Vollzugsbedienstete

(Zuruf des Abg. Dr. Fritz Hähle, CDU)

würden Ihnen einfach – Herr Hähle! – irdisch sagen: Mein Gott, wir wollen froh sein, wenn wir sie dazu kriegen, dass sie nicht mehr klauen oder dass sie nicht prügeln!

(Vereinzelt Beifall bei der Linksfraktion, der FDP und den GRÜNEN)

Das ist der Maßstab. Um Himmels willen, zur „Heimatliebe“ und zum „politisch verantwortlichen Handeln“ drängt da nichts.

(Zuruf des Abg. Johannes Lichdi, GRÜNE)

Vor allem: Wer beurteilt denn das politisch verantwortliche Handeln von Strafgefangenen, was ist denn das politisch Verantwortliche? Das CDU-Programm oder was?

(Johannes Lichdi, GRÜNE: Ja!)

Wird das CDU-Parteiprogramm als Maßstab für eine Lockerung einbestellt?

(Zuruf von der FDP: Das Finanzprogramm!)

Denken Sie noch mal kurz darüber nach, ob das eine verfassungskonforme Regelung ist – Sie haben dafür und für die Debatte noch ungefähr eine Stunde Zeit –, denn das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Der Staat muss den Strafvollzug so ausstatten, wie es zur Realisierung des Vollzugsziels notwendig ist. – Dann können Sie in Zukunft Staatsbürgerkunde und Ethik geben und was weiß ich für einen Kram. Da bin ich aber gespannt, wie Sie das finanziell für die Zukunft schultern wollen.

In diesem Sinne unsere Bitte. Wir fügen uns in die Realität, dass wir unseren Gesetzentwurf nicht durchkriegen werden – das wird unseren Kollegen aus den anderen Oppositionsfraktionen genauso gehen –,

(Zurufe der Abg. Dr. Jürgen Martens, FDP, und Johannes Lichdi, GRÜNE)

und nun versuchen Sie es doch in der Koalition einfach, noch mal darüber nachzudenken, ob Sie nicht der Staatsregierung, die einen Entwurf vorgelegt hat, zu dem wir der Auffassung waren, dass man ihm im Grundsätzlichen wenigstens mit Stimmenthaltung begegnen kann, einen Bärendienst erwiesen haben, indem Sie diesem Entwurf den § 3 einschenken. Das ist eine völlig unsägliche Regelung, die uns tatsächlich bundesweit lächerlich macht.

In diesem Sinne: Zu anderen Regelungen im Entwurf würde ich mich im Rahmen von Änderungsanträgen noch einigen wollen. Hoffen wir, dass es noch eine gewisse Möglichkeit gibt, ein Nachdenken in der Koalition zu erzeugen, wenn das auch sicherlich ein Irrglaube sein dürfte.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Die allgemeine Aussprache wird von der Sprecherin der GRÜNEN, Frau Herrmann, fortgesetzt. – Während sie auf dem Weg ist, möchte ich noch einmal an das erinnern, was wir vorhin vereinbart haben: Wir diskutieren jetzt über den Gesetzentwurf der Linksfraktion, dann wird über diesen abge

stimmt und dann gehen wir in der Tagesordnung weiter. Nur als Hilfe für Ihre Zeitvorstellungen.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz dessen, was Sie uns jetzt noch einmal ins Gedächtnis gerufen haben, –

Das war nur eine Hilfe, Frau Herrmann.

– werde auch ich zu allen Entwürfen hier – sozusagen in einem Ruck – Stellung nehmen.

Die Diskussion, die wir heute hier führen, kommt nicht unbedingt zu spät, aber sie kommt spät. Wir haben nur bis zum Jahresende Zeit, um dem Jugendstrafvollzug eine gesetzliche Grundlage zu geben. Mich ärgert an der Sache eigentlich nicht so sehr, dass wir erst heute darüber diskutieren, sondern mich ärgert daran, dass wir unter diesem Zeitdruck diskutieren und dass, wie mein Kollege der Linksfraktion eben dargestellt hat, diese ganze Diskussion in den Ausschüssen mit einer Brüskierung der Opposition einhergegangen ist.

Wenn ich dieses gesamte Gesetzgebungsverfahren, das heute zu einem Abschluss kommen soll, bezeichnen müsste, würde ich es mit „fortschrittlicher Rückschritt“ bezeichnen. Fortschrittlich deshalb, weil es nun erstmals in fast allen Bundesländern eine gesetzliche Grundlage für den Vollzug der Jugendstrafe gibt, und Rückschritt, weil ich nach wie vor der Meinung bin, dass das nicht auf die Ebene der Bundesländer gehört, sondern vom Bund selbst geregelt werden muss.

Auch wenn ich diese Diskussion hier in dem Hohen Hause und in den Ausschüssen im vergangenen Jahr, in dem wir uns mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, nicht missen möchte, sehe ich doch, dass der Gesetzentwurf der Staatsregierung und auch die, die in den anderen Bundesländern zum Teil verabschiedet wurden oder in der Diskussion sind, zum großen Teil nicht der entschlossenen Fachkompetenz der Länderminister geschuldet sind, sondern den in diesem Fall ungewöhnlich strengen und klaren Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts.

So begann auch die Diskussion hier im Sächsischen Landtag mit einem Rückschritt. Im Dezember-Plenum vor einem Jahr kündigten Sie, Herr Minister Mackenroth, einen innovativen sächsischen Sonderweg an. Dieser Sonderweg hat sich meiner Meinung nach als ärgerlicher Umweg entpuppt und wir können froh sein, dass es kein Irrweg geworden ist. Sie traten damals aus der Zehnländergruppe aus. Wenn man sich den Entwurf heute anschaut, dann orientiert er sich doch recht stark an der übrig gebliebenen Neunländergruppe und darüber hätte man schon viel eher diskutieren können. Dieser Umweg hat uns also mindestens Zeit gekostet, Zeit, die dann zur Diskussion in den Ausschüssen offensichtlich nicht mehr zur Verfügung stand. Er hat uns bei den Praktikern auch ein Stück weit Sympathie gekostet, weil sie nicht in

ausreichendem Maße in unsere Diskussion einbezogen worden sind.

Wie kann es eigentlich zu solchen Umwegen kommen?, habe ich mich gefragt. Ein Grund scheint mir zu sein, dass der Koalition und der Staatsregierung die großen kriminalpolitischen Leitlinien fehlen. Auch in Sachsen werden immer wieder in der öffentlichen Diskussion Forderungen nach einer verschärften Strafpolitik laut, auch von Ihrer Seite, Herr Minister. Dabei hat die Große Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gerade gezeigt, dass es keinen generellen Anstieg der Jugendkriminalität gibt. Die Aufgabe der Staatsregierung wäre es, genau dieses Ergebnis öffentlich zu machen, anstatt immer wieder die Themen Sicherheit und Strafverschärfung in die Debatte zu werfen.

(Beifall des Abg. Johannes Lichdi, GRÜNE)

Genau diese Haltung der Staatsregierung drückt sich dann auch in dem Gesetzentwurf aus, wenn Sie das Vollzugsziel „Resozialisierung“, also Befähigung der Jugendlichen, in Zukunft ohne Straftaten zu leben, gleichberechtigt neben die Aufgabe „Schutz der Gesellschaft“ stellen. Genau dieser Punkt war es, der in der Anhörung sehr heftig diskutiert wurde, vor allem auch, weil er dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts widerspricht. Das hat klar Resozialisierung als alleiniges Ziel des Jugendstrafvollzugs bestimmt.

Ich sage es an dieser Stelle gleich: Die Nachbesserungen der Koalition bei diesem Punkt reichen uns nicht, weil nach wie vor durch das unklare Nebeneinander von Resozialisierung und Sicherheit als Ziel und Aufgabe des Vollzugs die Wiedereingliederung im Sinne des Primats der Erziehung – das eben ist die Basis aller Regelungen des Jugendstrafvollzugs – in den Hintergrund tritt. Die Belange der Sicherheit werden im Übrigen in anderen Teilen des Gesetzes geregelt und sind darüber hinaus in Gefängnissen wohl selbstverständlich. Hier wird meiner Meinung nach in vorauseilendem Gehorsam die pädagogische Arbeit, die im Jugendstrafvollzug zu leisten ist, schon im Vorhinein relativiert – und das nur, damit nicht der Eindruck eines „Kuschelvollzugs“ entsteht.

Was mich in der gesamten Diskussion außerdem noch negativ berührt hat, war eine Aussage von Kollegen Schiemann im Dezember-Plenum letzten Jahres. Kollege Schiemann begründete den Vorrang von Arbeit und Ausbildung damals mit den Worten: „Wir müssen Jugendliche an einen gesunden Lebensrhythmus gewöhnen: frühzeitig aus den Betten und nach getaner Arbeit müde ins Bett. Das ist eine Voraussetzung, um kriminelle Karrieren zu unterbinden.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob mit dieser Aussage sozusagen das Ziel des Jugendstrafvollzuges und die dazu notwendigen Voraussetzungen überhaupt noch im Blick sind. Jugendliche werden doch nicht allein wegen fehlender Schulausbildung und fehlender Arbeit kriminell, sondern zuallermeist aufgrund tiefsitzender

Probleme, die unter anderem auch therapeutischer Bearbeitung bedürfen.

Aus diesem Grund sieht unser Gesetzentwurf einen Anspruch auf therapeutische Beratung und Behandlung vor. Denn so wichtig Arbeit und Ausbildung sind, diese Angebote können nur dann wirken, wenn wir die Probleme der Jugendlichen behandeln, die Jugendlichen stärken und ihnen helfen, eine Vision für ihr Leben zu entwickeln. Denn das ist das, was ihnen fehlt, und das muss unser Ziel sein.

Stattdessen legt uns die Koalition heute einen Änderungsantrag vor, der gerade schon im Vortrag meines Kollegen eine entscheidende Rolle gespielt hat, in dem als Leitlinien der Erziehung unter anderem Heimatliebe und die Erhaltung der Umwelt genannt sind.

Was bedeutet das? Der Hintergrund scheint ein Menschenbild zu sein, das auf ein reibungsloses und unauffälliges Funktionieren der Jugendlichen ausgerichtet ist, ein Menschenbild, das den Erfolg des Vollzuges an oberflächlicher Verhaltensanpassung misst. Genau das lehnen wir als Leitbild des Vollzugsalltages strikt ab.

Glauben Sie im Übrigen wirklich, dass die Kenntnis der sächsischen Landesgeschichte oder das Wissen darum, wie man zum Beispiel drei heimische Baumarten voneinander unterscheidet, tatsächlich zu einem straffreien Leben verhelfen?

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe in der Vergangenheit hier immer wieder deutlich gemacht, dass Strafvollzug kein Vollzug unter der Glasglocke sein darf. Es gibt ein Leben vor dem Knast und es gibt ein Leben nach dem Knast. Beides, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir stärker in den Blick nehmen. Ich will Ihnen dazu ein Beispiel geben.

In unserem Fraktionsflur – Sie haben das wahrscheinlich gesehen, wenn Sie in den Plenarsaal gegangen sind – ist momentan eine Ausstellung zu sehen. „Seele in Beton“ heißt sie. Das sind Schwarz-Weiß-Fotografien von jugendlichen Untersuchungsgefangenen. Auf einem dieser Bilder sieht man einen jungen Mann, der in seiner Zelle auf dem Bett liegt. An der Wand hängt ein kleines Foto. Das ist einer der wenigen Privatgegenstände überhaupt in der Zelle. Auf dem Foto ist eine Luftaufnahme der JVA Tegel in Berlin zu sehen. Ein winziges Zellenfenster auf diesem Foto ist mit einem Kreuz markiert. Genau dort sitzt der Vater des Jungen.

Es gibt ein Leben vor der Straftat, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das war in der Regel für die Betroffenen nie einfach. Es war im Gegenteil gekennzeichnet von Beziehungsabbrüchen und Bindungslosigkeit. Damit sind wir ganz schnell beim aktuellen Thema, das uns in der letzten Woche alle sehr betroffen gemacht hat: Gewalt an Kindern und deren Vernachlässigung. Das, was wir da sehen, ist die Spitze des Eisberges. Das, was wir später sehen – zum Beispiel im Jugendstrafvollzug –, ist der Rest.

Die Gefahr ist doch extrem groß, dass die vernachlässigten Kinder von heute morgen auf die schiefe Bahn rut

schen. Wenn wir das wissen, dann ist einerseits die beste Kriminalitätsbekämpfung eine wirksame Sozialpolitik. Andererseits müssen genau diese erfahrenen Defizite eine Rolle im Vollzug spielen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dann gibt es ein Leben nach der Haftentlassung. Darauf muss der Vollzug schon ab dem ersten Tag vorbereiten. Deshalb haben wir in unserem GRÜNEN-Gesetzentwurf geregelt: Erstens, dass der Vollzug in kleinen Wohngruppen der Regelvollzug sein muss. Nur so können Jugendstrafgefangene die spätere Alltagsbewältigung mit all ihren Konflikten, die dann wieder auf sie zukommen, erproben. Zweitens haben wir geregelt, dass Konflikte untereinander nicht allein sanktioniert und als lästige Verhaltensabweichungen bestraft werden, sondern nach dem Vorbild der Mediation in einem Konfliktregelungsverfahren gelöst werden.

Drittens, dass die Haftentlassung spätestens sechs Monate vorher in Zusammenarbeit mit allen relevanten Einrichtungen vorbereitet wird und viertens, dass im Förderplan von einer Haftentlassung auf Bewährung nach zwei Dritteln der Strafe auszugehen ist und damit die Fortführung einer Ausbildung, der Schulbesuch oder die Suchtberatung als Bewährungsauflage erteilt werden können.

Die Übergänge zwischen der Haft und der Zeit danach können nur gelingen, wenn bei der Vollzugsplanung, bei der regelmäßigen Fortschreibung des Vollzugsplanes und nicht zuletzt eben auch bei der Entlassungsvorbereitung die entscheidenden Institutionen mit am Tisch sitzen. Das sind unter anderem die fallführende Jugendgerichtshilfe, die den Jugendlichen ja meist schon seit Jahren kennt, und eben die Bewährungshilfe. Aus diesem Grund haben wir in unserem Entwurf diese Zusammenarbeit verbindlich geregelt und auch ein Änderungsgesetz zum Landesjugendhilfegesetz eingefügt, damit das Jugendamt die finanzielle Absicherung erhält, diese von uns gewünschte Zusammenarbeit dann auch zu leisten.

Zum Entwurf des Staatsministeriums und den Änderungen der Koalition. Wenn konkrete Kriterien fehlen, wie der Vollzug finanziell, personell und materiell auszustatten ist, dann entscheidet über den Erfolg des Jugendstrafvollzuges unter Umständen nicht mehr der Justizminister, sondern sein Kollege aus dem Finanzressort, und das speziell unter den Bedingungen in Sachsen, über die wir heute Vormittag diskutiert haben.