Protokoll der Sitzung vom 19.01.2011

Wie Sie jetzt schon unschwer erleben konnten, sind wir der Ansicht, dass der Antrag nicht sehr sinnvoll ist. Ich würde mir wünschen, dass die SPD die Blockadepolitik aufgibt, denn das ist keine gute Politik. Sie tun zu wenig dafür, dass es zu einer guten Lösung kommt, und ich würde mir wünschen, dass Sie wirklich einen Kompromiss suchen, dass Sie einmal im Sinne der Betroffenen entscheiden.

Ich sehe derzeit nur, dass Sie versuchen, auf dem Rücken der sozial Schwächsten Politik zu machen, und das ist unredlich, das lehnen wir ab.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und der Staatsregierung)

Wir fahren in der ersten Runde der allgemeinen Aussprache fort. Für die Fraktion DIE LINKE spricht die Abg. Frau Werner; bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Krauß, wir reden hier nicht über irgendeine Entscheidung, die gefällt wird, sondern es ist eine Entscheidung, die uns – die Kinder, die Eltern hier in Sachsen – ganz konkret angehen wird, und wir müssen sehr wohl hier darüber diskutieren. Es ist auch recht und billig, wenn wir als Parlament der Staatsregierung eine Aufgabe an den Bund mitgeben.

(Beifall bei den LINKEN)

Warum uns das betrifft, können Sie zum Beispiel sehen, wenn Sie mal früh um sieben in Leipzig zur Tafel gehen, wenn dort Kinder ankommen, die ein Frühstück oder ein Pausenbrot für die Schule bekommen; weil es Kinder sind, die arm sind – Kinder, die arm sind in Sachsen –, die sonst hungrig in die Schule gehen, weil ihre Eltern eben nicht genug Geld haben.

Diesen Teufelskreis können die Eltern – –

(Alexander Krauß, CDU: Das ist eine Unterstellung! Sie tun, als wenn die Hartz-IV- Familien ihre Kinder verhungern lassen würden!)

Herr Krauß, nutzen Sie dann einfach die Möglichkeit einer Kurzintervention oder einer Frage. Das war kein Zwischenruf, das war schon fast eine Erklärung. – Ich habe jetzt den Abg. Clemen am Mikrofon 5. Würden Sie eine Zwischenfrage zulassen?

Herr Clemen, bitte.

Vielen Dank, Frau Werner. – Frau Werner, geben Sie mir recht, dass es eben nicht nur Kinder aus sozial schwachen Familien sind, die ohne Frühstücksbrote in die Schule kommen, sondern dass es vielmehr ein Phänomen ist, das sich anscheinend über breite Gesellschaftsschichten erstreckt, und dass wir dort gemeinsam Lösungsansätze finden müssen,

(Julia Bonk, DIE LINKE: Das hätten Sie gern!)

die aber nicht unbedingt nur die sozial Schwachen, sondern auch die Frage betrifft: Wie können vernünftig regelmäßige Mahlzeiten organisiert werden und welche Verantwortung kommt den Eltern dabei zu?

(Beifall bei der FDP)

Genau; ich kann Ihnen teilweise recht geben. Vernünftige regelmäßige Mahlzeiten – da hat die Opposition oft genug beantragt, dass es zum Beispiel ein kostenloses Mittagessen in der Schule geben soll, damit wirklich alle Kinder und Jugendlichen in den Genuss eines warmen Mittagessens kommen.

Dass es auch in anderen Familien Probleme gibt, darauf habe ich erst kürzlich hingewiesen, als Sie Familienberatung, Familienbildung usw. gekürzt haben. Es gibt natürlich in allen gesellschaftlichen Schichten Probleme, die Eltern mit Kindern und Jugendlichen haben, wo es auch dazu führen kann, dass Eltern so wenig Zeit haben, dass sie nicht mehr in der Lage sind, sich um ihre Kinder so zu kümmern, wie sie es gern möchten. Darin gebe ich Ihnen recht.

Aber bei der Tafel kommen vor allem Kinder und Jugendliche an, deren Eltern tatsächlich ein Problem haben, entsprechend Essen zur Verfügung zu stellen. Gehen Sie doch einmal hin zur Tafel, dann können Sie sehen, wie froh die Eltern sind, dass sie ein Zubrot bekommen, damit sie das Ende des Monats einigermaßen erreichen können.

(Beifall bei den LINKEN)

Zurück zu diesem Teufelskreis der Armut. Ich denke, dass die Tafeln diesen Teufelskreis nicht wirklich durchbrechen können. Sie sind eher eine Art Flicken, die helfen können. Oft werden Kinder von Lehrerinnen und Lehrern zur Tafel geschickt, weil sie merken, dass die Kinder dem Unterricht hungrig nicht mehr folgen können. In Sachsen leben circa 100 000 Kinder in extremer Armut. Jedes vierte Kind in Ostdeutschland gilt als einkommensarm. Diese Armut hat Folgen.

Diese Kinder können am sozialen und kulturellen Leben nicht mehr teilhaben und trauen sich zum Beispiel nicht zum Kindergeburtstag zu gehen, weil sie kein Geld für ein kleines Geschenk haben. Sie werden krank, wenn eine Klassenfahrt ansteht. Diese dauert eben nicht nur einen Tag, sondern bei älteren Jugendlichen gibt es das Bedürfnis nach einer längeren Klassenfahrt. Diese Kinder sind krank, wenn es Kino- oder Theaterangebote gibt, weil es zusätzlich kostet, wenn man so etwas wahrnehmen möchte. Diese Kinder sind im besonderen Maße davon betroffen, weil es direkte Auswirkungen auf ihre Entwick

lung und ihre Zukunftsperspektiven hat. Sie werden isoliert, sie sehen keine Perspektive für sich. Sie sind aggressiv gegen sich oder andere und es fehlt ihnen an entsprechenden Entwicklungs- und Bildungsanreizen. Sie haben einen schlechteren Gesundheitszustand und geringere Bildungsabschlüsse. Ich finde, das ist ein Skandal für dieses reiche Deutschland.

(Beifall bei den LINKEN)

Politik hat hier versagt, und zwar schon seit Jahren. Am Ende musste ein Bundesverfassungsgericht urteilen.

Die wachsende Armut ist das schwerste und nachhaltigste Problem in Deutschland. Das ist aber nicht neu, Herr Krauß. Politische Veränderungen wurden seit Jahren verschleppt. Heute ist es so, dass wir ganze Jahrgänge von Kindern haben, die so stark physisch, psychisch und sozial nachhaltig geschädigt worden sind, dass sich in bestimmten Milieus eine Verschärfung der Situation zeigt. Hier haben wir eine besondere Verantwortung. In der Zeitung meinte Frau Staatssekretärin Fischer, bestimmte bildungsferne Schichten könne man eben nicht mehr erreichen. Das geht nicht. DIE LINKE ist der Meinung, dass versucht werden muss, jede Schicht zu erreichen. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Sinne auch recht gegeben.

Leider – zwar erwartungsgemäß, aber doch enttäuschend – hat es die Bundesregierung doch irgendwie wieder verbockt, denn anstatt endlich wirklich Verantwortung zu übernehmen, wie es ihr aufgetragen wurde, gab es ein schamloses Geschacher. Mit den Planungen zum Bundeshaushalt, so scheint es, wurden schon die Spielräume für den neuen Regelsatz festgelegt. Es wurde getrickst und manipuliert, bis die Ergebnisse des neuen Regelsatzes reinpassten. Einige Zeichen deuten darauf hin, dass die Erhöhung um 5 Euro auf 364 Euro schon seit 2008 geplant wurde. Das Arbeitsministerium hat dann alles Mögliche probiert, um den Regelsatz tatsächlich in diese Richtung zu bekommen. Man hat die Einkommensstichprobe verkleinert und bestimmte Arme, die laut Bundesverfassungsgericht explizit aus diesen Rechnungen herauszunehmen waren, mit hineingenommen. Das betrifft Aufstocker und nicht in Transferbezug stehende Arme. Es gab beim ALG II eine bestimmte Kürzung allein durch diese Veränderung der Referenzgruppe. Die restlichen Kürzungen hat man erreicht, indem man bestimmte Posten, die bisher anerkannt waren, herausgerechnet hat.

Die Position der LINKEN im Vermittlungsausschuss ist eindeutig. Wir fordern vor allem eine deutliche Anhebung der Regelsätze. Zu diesem Ergebnis sind nicht nur wir gekommen, sondern auch die Berechnungen der Sozialverbände. Ganz klar ist, dass die für Kinder und Jugendliche ermittelten Regelsätze einer verfassungsrechtlichen Prüfung kaum standhalten können. Die Datenbasis ist viel zu schmal, nur eingeschränkt aussagekräftig und deshalb nicht geeignet. Ich will darauf hinweisen, dass die normale Referenzgruppe für diese Einkommensstichprobe bei 60 000 Haushalten liegt. Bei Sechsjährigen lag die Stich

probe nur bei 237 Haushalten, die als Referenzgruppe für die Regelsätze genommen wurden. Bei bestimmten Positionen konnten sogar nur 30 Haushalte herangezogen werden. Das kann also keine transparente und sachgerechte Stichprobe sein.

Das Bildungspaket – es wurde schon gesagt – ist ein bürokratisches Monster und nicht geeignet, tatsächlich Teilhabe an Bildung für alle Kinder sicherzustellen. Dieses Bildungspaket soll Benachteiligungen beim Bildungszugang für Kinder aus Hartz-IV-Familien ausgleichen und einen eigenen Rechtsanspruch auf Teilhabe und Förderung beinhalten. Man muss sagen, dieses Programm wird dem Anspruch nicht gerecht – ganz im Gegenteil: Man sieht höchst bedenkliche Tendenzen. Zum einen wird das Programm ständig ergänzt, das heißt, die Defizite sind tatsächlich noch gar nicht alle aufgedeckt und durch das Bildungspaket erfasst und zum anderen muss man feststellen, dass aus unserer Sicht die Weichen durch die Bundesregierung grundlegend falsch gestellt werden. Anstatt in die soziale Infrastruktur zu investieren und allen Kindern die bestmögliche Unterstützung zu gewähren, soll eine neue Bürokratie aufgebaut werden, und das ausgerechnet in den Jobcentern, denen nicht nur die Kapazitäten fehlen, sondern einfach auch die Kompetenz.

Wir wissen inzwischen auch, dass diese Parallelstruktur mit erheblichen Verwaltungskosten verbunden wäre und nach offizieller Berechnung knapp ein Viertel der Leistungsausgaben betragen würde. Es wurde angekündigt, dass das eventuell noch gar nicht ausreicht. Es kursieren Zahlen, dass circa 2,3 Millionen potenzielle Leistungsberechtigte da wären, dass man 1 300 BA-Mitarbeiter nur dafür bräuchte und dass mit bis zu vier bis fünf Millionen Einzelbescheiden gerechnet wird.

Ich möchte ein paar wenige Probleme herausgreifen. Zum Beispiel soll künftig für Kinder mit Lerndefiziten auf Antrag Nachhilfe finanziert werden. Das ist nun wirklich absurd. Was eine öffentlich finanzierte Schule wegen Unterfinanzierung nicht mehr leisten kann, sollen nun private Anbieter von Nachhilfe mithilfe öffentlicher Mittel leisten. Das erscheint mir einfach irrsinnig; denn der Staat entledigt sich damit immer mehr der Verantwortung der Sicherung eines gleichen Zugangs zu Bildung und eines Nachteilsausgleichs durch die öffentliche Schule im Rahmen der Schulpflicht. Die Benachteiligung wird so als eine soziale Benachteiligung naturgegeben hingenommen und zum persönlichen Risiko.

Hinzu kommt, dass Anspruch auf private Nachhilfe nur haben soll, wer versetzungsgefährdet ist. Das ist doch absurd. Damit werden viele, die Nachhilfe benötigen, nicht in den Genuss zusätzlicher Angebote kommen. Und wer nur einen besseren Schulabschluss erreichen will und auch erreichen könnte, erhält keine finanzierte Nachhilfe. Des Weiteren ist unklar, wie solche Länder davon profitieren wollen, die sich gegen Nichtversetzung und Ähnliches aussprechen und Wert auf Nachhilfe für jedes Kind legen.

Wir, DIE LINKE, stehen für einen deutlichen Ausbau der sozialen und bildungspolitischen Infrastruktur. Wir streiten für Gemeinschaftsschulen. Jeder und jede soll die individuell bestmögliche Förderung erhalten, zum Beispiel durch flächendeckende Ganztagsschulen.

Ich komme zu einem weiteren Problem, nämlich der möglichen Stigmatisierung durch das Bildungspaket. Darauf wurde schon hingewiesen. Es handelt sich um ein Gutscheinsystem, das in anderen Ländern schon ausprobiert wurde. Durch die bürokratische Ausreichungsform oder durch die unzureichende Guthabenhöhe können Empfängerinnen und Empfänger sehr schnell stigmatisiert werden. Das könnte zu Diskriminierung führen, dem ja eigentlich entgegengewirkt werden soll. Die Stigmatisierung wird verschärft, wenn das Guthaben auf den entsprechenden Karten oder Gutscheinen – wir wissen ja nicht genau, wie das umgesetzt wird – so niedrig ist, dass die Betroffenen mit anderen Kindern und Jugendlichen in keiner Weise mithalten können.

Besonders bedenklich finde ich die Stigmatisierung von Eltern. Herr Clemen, Sie haben darauf schon hingewiesen. Es wird unterstellt, dass Eltern aus armen Schichten nicht besonders auf ihre Kinder achten würden. Wenn Bestandteile des Bildungspaketes nur als Sachleistungen ausgereicht werden, könnten Eltern von betroffenen Kindern unter Generalverdacht gestellt werden. Andererseits gibt es die absurde Idee von Ihnen, das Ganze an Jobcenter zu geben, die erst recht nicht in der Lage sind, das entsprechend umzusetzen. Wir glauben, Bildung und Jugendhilfe gehören nicht in die Jobcenter. Andere sind viel geeigneter, das umzusetzen.

Einen letzten Punkt möchte ich noch herausgreifen, und bitte Sie sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, mal an Ihre Kinder oder an Ihre Enkelkinder zu denken, was Sie im Monat so mit denen unternehmen, wenn es um Kino, Bad, Zoo, Theater, Musik oder Sport geht. Hier in Dresden geht man gern mal ins Stadion oder Ähnliches. Zur soziokulturellen Teilhabe von Kindern hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass es dort, wo es keine öffentlichen Angebote, sondern nur privat zu finanzierende Angebote gibt, entsprechende Ausgleiche geben muss. Diese soziokulturelle Teilhabe soll mit 10 Euro im Monat für diese Kinder realisiert werden. Fragen Sie sich selbst, wie viel Sie für 10 Euro im Monat für Ihre Kinder oder Enkelkinder realisieren könnten. Sie werden mir recht geben, dass der Betrag so gering ist, dass man damit nur sehr wenig machen kann. Das heißt eigentlich nur, man muss eben öffentlich gefördert bestimmte soziokulturelle Teilhabe tatsächlich sicherstellen. Man kann eben nicht die Eltern und Kinder mit einem solchen kleinen Betrag abspeisen.

DIE LINKE bleibt dabei: Die Leistungen für Kinder und Jugendliche, die von Hartz IV leben müssen, sind weder wirklichkeits- noch bedarfsgerecht. Die Kinderregelsätze sind viel zu niedrig angesetzt. Um benachteiligte Kinder und Jugendliche zu fördern, braucht es einen deutlichen Ausbau von Kitas, Schulen und Jugendfreizeitzentren.

Das schwarz-gelbe Teilhabepaket erweist den Kindern und Jugendlichen, so wie es jetzt gestrickt ist, eher einen Bärendienst.

Danke schön.

(Beifall bei den LINKEN)

Wir fahren mit der allgemeinen Aussprache fort. Für die FDPFraktion die Abg. Kristin Schütz. Frau Schütz, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, herzlichen Dank! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zum 1. Januar dieses Jahres sollte die Hartz-IV-Reform pünktlich umgesetzt werden. Darin ist der Regelsatz für Arbeitslosengeld-II-Empfänger geregelt. Damit einher geht ein Bildungspaket für Kinder und Jugendliche, mit dem gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe nicht mehr allein vom Geldbeutel ihrer einkommensschwachen Eltern abhängen soll.

Grundlage dieses neuen Gesetzes ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes – meine Vorredner sind schon darauf eingegangen –, das die Korrektur der rot-grünen Regelsätze bzw. ihrer Berechnung fordert. Das hat die Bundesregierung getan. Dennoch hängt dieses Gesetz jetzt im Vermittlungsausschuss fest. Die Folge ist, dass es kein rechtskräftiges Gesetz gibt, dass die Arbeitslosengeld-II-Bezieher daher ihre Erhöhung im Monat Januar nicht ausgezahlt bekommen und das Bildungspaket bisher auch nicht in die Praxis umgesetzt werden konnte. Von daher ist die Überschrift der Kollegen der SPD wohl falsch gewählt oder abwegig, wenn es darin heißt „Kinder stärken“. Es müsste wohl eher heißen „Kinder warten auf ihre Teilhabe“.

Es ist schon erstaunlich und zeigt nur einmal mehr das Selbstverständnis der Kollegen der SPD, wie sie die Generalität ableiten, dass nur sie festlegen können, was „echte“ Teilhabe an Bildung und Soziokultur ist. Das finde ich schon sehr mutig.

(Beifall bei der FDP)

An Frau Werner gerichtet: Sie wissen also schon vor Einführung, dass das nicht geeignet ist. Ihr Lesen in der Glaskugel ist sehr interessant. Aber jede Änderung wäre ja auch ein Angriff gegen die Pflege Ihrer festgeschriebenen Ideologie, wenn sich hier tatsächlich etwas für die Betroffenen ändern würde. Sie sprechen von Stigmatisierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Sie sprechen von Stigmatisierung, wenn das Bildungspaket angelegt wird.

(Zuruf der Abg. Heike Werner, DIE LINKE)

Aber Gleichheit über Hartz-IV-Sätze herstellen zu wollen halte ich an der Stelle für sehr, sehr mutig.