in Europa, wo wir uns mit diesem Problem inzwischen handfest auseinandersetzen müssen. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen, dass noch keine Lösung dafür bereitsteht.
Ich kann nur empfehlen, dass wir, wenn wir das machen, auch darüber nachdenken sollten, wie wir diese Steuersenkung gegenfinanzieren können.
Um es kurz zu machen: Die Korrektur des Grundfreibetrages und/oder der Progression – es steht ja noch nicht hundertprozentig fest, wie das umgesetzt werden soll – ist sinnvoll, um die Auswirkungen der kalten Progression zu mindern. Aber die Haushaltskonsolidierung muss oberste Priorität behalten.
Für die Staatsregierung sprach Herr Staatsminister Unland. – Ich sehe keinen weiteren Redebedarf. Diese Debatte ist damit abgeschlossen. Wir treten in eine 45-minütige Mittagspause ein und sehen uns hier wieder um 13:30 Uhr.
Als Einbringerin spricht zuerst die SPD-Fraktion. Es folgen CDU, DIE LINKE, FDP, GRÜNE, NPD und die Staatsregierung, wenn gewünscht. Ich erteile Herrn Abg. Dulig das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe An- und Abwesende! Heute steht die Große Anfrage zur sozialen Lage von Kindern und Jugendlichen in Sachsen auf der Tagesordnung. Uns interessiert wirklich, wie es Kindern und Jugendlichen in Sachsen geht; denn auf der einen Seite sprechen wir immer über Zukunftspolitik – heute früh war das ein Kernthema –, und auf der anderen Seite wollen wir schon wissen: Woran misst man das? Was sind dann aber auch die konkreten Taten? Wir wollten wissen: Wie viele Kinder und Jugendliche sind armutsgefährdet? Wie geht es den Familien? In welcher
Situation leben sie? Wir wollten wissen, welche Zusammenhänge es zwischen sozialer Armut und Bildungsteilhabe sowie zwischen Armutsgefährdung und Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben gibt und vor allem, welche Bildungschancen Kinder und Jugendliche trotz unterschiedlicher sozialer Voraussetzungen haben.
Ich muss an dieser Stelle bei der Staatsregierung sowie beim zuständigen Sozialministerium um Entschuldigung bitten. Ich habe nicht gewusst, dass ich die Falschen gefragt habe; denn man kann die Große Anfrage mit drei Antworten zusammenfassen:
Von den 162 Fragen, die wir gestellt haben, wurden 31 explizit nicht beantwortet, 25 mit kurzen Verweisen
versehen und zu 25 gab es lediglich einen Hinweis auf eine Tabelle, die in der Anlage zu finden war. Kurzum, wenn man das inhaltlich auswertet: Sie wissen nicht, wie es Kindern und Jugendlichen geht. Sie wissen es nicht, und es interessiert Sie auch nicht, wie die soziale Lage bzw. Situation ist.
Es ist nicht nur die Arroganz, die hinter der Beantwortungsart steckt, wie Sie uns sozusagen abtropfen lassen unter dem Motto: Darüber haben wir keine Daten. Oder: Das haben wir nicht konkret vorliegen, das beantworten wir nicht.
Nicht nur die Arroganz stört mich, wie Sie mit dem parlamentarischen Grundrecht von Abgeordneten und Fraktionen umgehen, sondern was mich vor allem stört, ist die Ignoranz; denn es geht nicht immer darum, ob die Fragen richtig gestellt wurden, sondern das Entscheidende ist, ob es die richtigen Fragen sind, um die Zusammenhänge herzustellen und zu wissen, für wen und wie wir Politik machen, wenn es um die Zukunft unseres Landes geht und wir tatsächlich die Kinder in den Mittelpunkt stellen wollen.
Wir fragten: Wie viele Familien sind seit 1990 aus Sachsen weggezogen? Sie antworteten: Dieses Merkmal wird von der amtlichen Statistik nicht erfasst. – Entschuldigung, ich kann mich noch erinnern, dass das Statistische Landesamt sogar ein eigenes Gutachten, eine Studie zur Abwanderungsbewegung in Sachsen verfasst hat.
Wir fragten: Welche Erkenntnisse hat die Staatsregierung über den Zusammenhang von Behinderung bei Eltern und Kindern und Armutsgefährdung? Sie antworteten: „Der Staatsregierung liegen keine konkreten Erkenntnisse über einen Zusammenhang von Behinderung und Armutsgefährdung vor.“ Wenn Sie nun erwartet hätten, es käme eine Aufschlüsselung dessen, was Sie darunter verstehen und wissen – nein, das war der einzige Satz, mit dem wir sozusagen abgefrühstückt wurden.
Wir fragten: Wie verhält sich die Schulabbrecherquote bei Kindern aus Familien mit niedrigem Einkommen? Sie antworteten: Das wissen wir nicht. Wir fragten: Wie schätzt die Staatsregierung die Situation von Kindern und Jugendlichen hinsichtlich der Ernährung ein? Sie antworten: Wissenschaftlich aussagekräftige Studien, die die Situation von in Armut lebenden Kindern und Jugendlichen in Sachsen hinsichtlich der Ernährung untersucht haben, sind der Staatsregierung nicht bekannt. Sie sind Ihnen nicht bekannt. Es gibt diese Studien aber. Es gibt auch die Institutionen und Institute, die das erforschen. Sie wollen es nicht wissen. Sie können doch ruhig einmal an die TU gehen, wo zum Beispiel Prof. Melzer im Auftrag der WHO Studien durchgeführt hat. Sie wollen es nicht wissen. Es interessiert Sie schlichtweg nicht.
(Alexander Krauß, CDU: Warum fragen Sie denn, wenn Sie es wissen? Dann brauchen Sie doch nicht zu fragen, wenn Sie es wissen!)
Sie sagen, Sie können uns nicht erklären, wie die Situation von Kindern in Kindertagesstätten ist. Ihnen lägen keine Daten vor. Das stimmt doch nicht. Sie wissen genau, wie viele Kinder in Kindertagesstätten von Armut betroffen sind. Hätten Sie doch einfach mal in den Kommunen gefragt, wer wirtschaftliche Jugendhilfe erhält, wer also aufgrund der sozialen Situation den Elternbeitrag nicht bezahlen muss. Das nennt man wirtschaftliche Jugendhilfe. Die Zahlen liegen vor. Sie wollten uns das nicht beantworten. Sie wollten uns nicht beantworten, wie die Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen sind.
Aber entschuldigen Sie, das war doch immer Ihr großes Thema. Haben Sie sich denn nicht immer hinter PISA und den ganzen Studien versteckt, wenn Sachsen wieder auf Platz 1, 2 oder 3 war? Haben Sie nicht selbst immer argumentiert, dass das in Sachsen anscheinend nicht so die Rolle spielt? Lesen Sie sich doch einfach einmal die Studien durch. Sie wollen es nicht. Diese Ignoranz und Arroganz nervt. Sie nervt deshalb, weil es überhaupt nicht darum geht, ob man der Opposition einen Gefallen tun will, wenn man Informationen gibt, sondern darum, dass man herausfindet, auf welcher Grundlage politische Entscheidungen getroffen werden. Dabei kommen wir nicht umhin festzustellen: Weil Sie nicht wissen, wie es Kindern und Jugendlichen geht, werden anscheinend auch falsche Entscheidungen getroffen.
Sie wissen nicht nur nicht, wie es den Kindern geht, sondern Sie wissen anscheinend auch nicht, was Sie tun. Aber das, was Sie wissen, ignorieren Sie auch noch. Nun können wir gern darüber streiten, was ein Armutsbegriff ist, usw. Sie verstecken sich immer hinter einer anderen Definition, wenn Ihnen etwas nicht gepasst hat. Einmal nehmen Sie den Bundesmedian, ein andermal den Landesmedian. Wie es Ihnen gepasst hat, wurde es angepasst.
Sie stellen selbst fest, dass hinsichtlich der 60-%Äquivalenz bei den Einkommen jedes vierte Kind von Armut bedroht ist. Das wissen Sie, und damit hat sich das für Sie erledigt. Klare Handlungen sind nicht zu erkennen; denn wenn wir fragen, welche Anstrengungen die Staatsregierung bislang mit dem konkreten Ziel unternommen hat, Familien- und damit Kinderarmut einzuschränken und zu verringern, liefern Sie hier einen Offenbarungseid. Auf die Frage 2.8, welche Anstrengungen die Staatsregierung unternimmt, antworten Sie mit dem Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung – nichts anderes.
Sie nehmen das Bundesteilhabepaket zum Anlass zu sagen: Das machen wir. Wir selbst als Staatsregierung haben ansonsten nichts damit zu tun. Es ist ein Offenbarungseid, obwohl Sie wissen, dass wir eine Armutsgefährdung haben, die sogar über dem Bundesdurchschnitt liegt.
Wir liegen in Sachsen mit 25 % über dem Bundesdurchschnitt, der bei knapp 19 % liegt. Sie wissen das und tun nichts. Sie wissen – das haben Sie selbst festgestellt –, dass die Armutsgefährdungsquote in Sachsen bei einem Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern nach Mecklenburg-Vorpommern die höchste ist. Wo bleiben Ihre Maßnahmen, diese Situation zu verändern?
Sie stellen fest, dass die voraussichtlichen Geburtenraten bis zum Jahr 2030 um bis zu 33 % gegenüber 2009 sinken werden. Das wissen Sie. Dabei waren wir in der EnqueteKommission „Demografischer Wandel“ schon weiter und haben konkrete Handlungsempfehlungen diskutiert. Sie finden sich nur nicht bei Ihnen wieder. Schulen in städtischen sozialen Brennpunkten haben einen höheren Anteil von Schülerinnen und Schülern aus einkommensschwachen und bildungsfernen Haushalten.
Was sagen Sie? Schulen sollten gezielte Ressourcen erhalten. Was machen Sie, wenn Sie schon die Erkenntnis haben? Sie machen nichts.
In Sachsen ist ein Schulpsychologe für 13 085 Schülerinnen und Schüler zuständig. Damit liegt Sachsen im BundLänder-Vergleich am Ende. Was unternehmen Sie denn? Sie stellen doch die Zahlen selbst fest.
Am meisten aufgeregt hat uns: Wenn wir fragen, wo die maßgeblichen Ursachen für die Armut und die Entwicklung in Sachsen sind, antworten Sie: „In dem Sinne arm können Kinder und Jugendliche in Deutschland nur sein, wenn Eltern oder sorgeberechtigte Personen die staatlichen Hilfen trotz Bedarfs nicht in Anspruch nehmen.“
Übersetzt heißt das: Wer arm ist, ist selbst dran schuld. – Das schreiben Sie in diese Große Anfrage. Ist das wirklich Ihr Ernst? Das erklärt an dieser Stelle sicherlich Ihr Nichtstun, aber das ist ein gesellschaftspolitischer Skandal.
(Beifall bei der SPD, den LINKEN und den GRÜNEN – Alexander Krauß, CDU: Die SPD hat doch Hartz IV eingeführt, um Armut zu verhindern. War das nicht so?)
Was Sie unternehmen, machen Sie falsch und handwerklich schlecht. Wenn Sie zum Beispiel die Familienbildungsmaßnahmen um mehr als 1 Million Euro kürzen, wenn Sie keine Familienerholungsmaßnahmen mehr finanzieren, wenn Sie die Jugendpauschale und die ÖPNV-Zulage kürzen, eine Kürzung der Musikzuschüsse vornehmen – beim Lehrermangel will ich gar nicht erst wieder ansetzen, weil wir darüber heute Vormittag intensiv diskutiert haben –, dann handwerkeln Sie an vielen Stellen herum, aber nicht, um die Situation von Kindern und Jugendlichen zu verbessern, sondern um dort zu kürzen.
Diese Koalition der sozialen Ungerechtigkeit macht nichts im Interesse von Kindern und Jugendlichen, weil Sie nicht wissen, wie es ihnen geht, und weil Sie keine Instrumente in der Hand haben, um diese Situation zu verbessern. Das, was Sie machen, führt zum Gegenteil, weil Sie an den falschen Stellen kürzen. Sie wollten Sachsen einmal zum familienfreundlichsten Bundesland machen.