Protokoll der Sitzung vom 13.06.2012

Aber die Träger erwarten mit dem Pflegeneuausrichtungsgesetz auch ein neues Bundesgesetz. Dieses passt so gar nicht zum Gesetzentwurf der Staatsregierung. Hier muss dringend nachgebessert werden. Wir werden dieses Gesetz wohl in Bälde wieder vor uns liegen haben. Deshalb haben wir versucht, die Tagesordnung zu ändern:

den Tagesordnungspunkt heute komplett von der Tagesordnung abzusetzen und erneut an den Ausschuss zu verweisen.

Ein heutiger Entschließungsantrag rettet die Qualität des Gesetzes wohl kaum. Die sehr differenzierte Anhörung zu den Gesetzesvorlagen veranlasste zu einigen Änderungen. Diese wurden in der letzten Sitzung des Sozialausschusses besprochen – leider, ohne dass der Gesetzentwurf der Regierung substanziell wesentlich verbessert wurde. Die Art und Weise des Umgangs mit diesen Gesetzentwürfen hier im Landtag beunruhigt die Leistungserbringer und die Nutzer der Einrichtungen. Ihre Befürchtungen sind durchaus berechtigt.

Im Entwurf der Staatsregierung wird die UN-Behindertenrechtskonvention – Herr Krauß sagte es – in § 1 als Grundlage benannt. Inhalte und Ziele werden im Gesetz jedoch nicht widergespiegelt. Dieser Gesetzentwurf entspricht nicht dem Grundsatz von „ambulant vor stationär“ und dem Recht auf wirkliche Selbstbestimmung.

Werte Abgeordnete! Das Pflegeneuausrichtungsgesetz, dessen Beratung der Bundestag jetzt aufgenommen hat, sieht mit den §§ 38a und 45e SGB XI neue Leistungen für Bewohner von Wohngemeinschaften vor. Es weist darauf hin, dass die Wohngemeinschaften auf Landesebene rechtlich nicht als Heim definiert sein dürfen. Aber genau das sieht der neue Gesetzentwurf der Staatsregierung in § 2 Abs. 6 vor. Das heißt: Wird der Gesetzentwurf heute in seiner jetzigen Form verabschiedet, wird in Sachsen kein Bewohner einer WG von diesen neuen Leistungen der Pflegekasse profitieren können. Ich denke, es ist Ihnen nicht bewusst, Herr Krauß, welche Auswirkungen Ihr Gesetz auf die Finanzierung der WGs haben wird. Da die WGs die Anforderungen, die an ein Heim gestellt werden, nicht erfüllen, bedeutet dies das Ende aller alternativen Wohnformen für Pflegebedürftige.

Der Gesetzentwurf der Staatsregierung grenzt also ab 2013 alle selbstorganisierten Wohnformen bewusst aus. Das ist kein Fortschritt, das ist ein Rückfall in alte Regelungen, die der Gesetzentwurf laut eigenem Anspruch eigentlich überwinden wollte, und – ja, Herr Krauß, ich gebe Ihnen recht – es ist richtig, es ist ein Rückgriff auf das Heimgesetz sage und schreibe von 1974.

(Beifall bei den LINKEN, der SPD und den GRÜNEN)

Die Wohngemeinschaften in Sachsen arbeiten mit Pflegediensten zusammen. Durch Poolbildung können Sachleistungsansprüche der Bewohner gewährleistet werden und zusätzlich kann Tag und Nacht Betreuungspersonal in der Wohnung zur Verfügung stehen. Diese Möglichkeit des selbstbestimmten Wohnens würde Ihr Gesetzentwurf ab 2013 massiv einschränken.

(Kristin Schütz, FDP: Falsch! – Dr. Dietmar Pellmann, DIE LINKE: Nein!)

Das können Sie dann begründen. – Ich verstehe durchaus Ihr Ansinnen, die alternativen Wohnformen unter das

Heimrecht zu stellen. Sie sorgen sich um die Qualität der Pflege und Betreuung. Diesem Ansinnen wird der Gesetzentwurf der Staatsregierung jedoch nicht gerecht. In allen anderen Bundesländern wurden Bedingungen in das Gesetz aufgenommen, unter denen eine WG dem Heimgesetz untersteht oder eben nicht untersteht. Somit gibt es Rechtssicherheit und die Leistungserbringer können sich auf die Anforderungen einstellen – in allen Bundesländern, außer in Sachsen.

Die Folge ist, dass in den anderen Bundesländern WGs weiterhin eine – auch politisch gewollte – Zukunft haben. In Sachsen hingegen werden außerhalb des Heimgesetzes keine alternativen Wohnformen mehr möglich sein. Damit treten Sie die Anforderungen, die sich aus den UNBehindertenrechtskonventionen ergeben, mit Füßen. Es ist so, Frau Schütz!

(Alexander Krauß, CDU: Sie müssen das Gesetz mal lesen!)

Wir merken in zahlreichen Gesprächen mit Leistungserbringern, dass Pflegeeinrichtungen und -dienste sich nicht der staatlichen Aufsicht oder der Kontrolle des MDK entziehen wollen. Sie wollen durchaus gute Qualität liefern. Sie machen sich Sorgen, ob alternative Wohnformen nach dem Gesetzentwurf der Staatsregierung überhaupt weiter existieren können.

Zusammenfassend möchte ich noch einmal darauf hinweisen: 2013, also in einem halben Jahr, soll das Pflegeneuausrichtungsgesetz in Kraft treten. Dieses wird den Aufbau und die Existenz ambulant betreuter Wohngruppen in besonderer Weise fördern. Die Förderung erfolgt aber nur dann, wenn heimrechtliche Vorschriften dem nicht entgegenstehen. Das heißt, wenn ambulant betreute Wohngruppen unter das Heimrecht fallen, werden deren Mieter als Pflegebedürftige von diesen Leistungen nicht profitieren können.

Wir fordern Sie deshalb auf – und mit uns sind es viele Verbände und Träger von Einrichtungen –, dafür zu sorgen, dass das sächsische Recht mit dem Bundesrecht harmonisiert wird und dem Bundesrecht nicht entgegensteht. Das kann ich zum heutigen Zeitpunkt auch mit dem Entschließungsantrag nicht erkennen.

(Alexander Krauß, CDU: Das ist aber so!)

Wir werden uns wiedersprechen..

(Beifall bei den LINKEN, der SPD und den GRÜNEN)

Nun die SPD-Fraktion. Frau Abg. Neukirch. Sie haben das Wort, Frau Neukirch.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einem Zitat beginnen: „Der Paritätische Landesverband Sachsen kritisiert die nun veröffentlichte Fassung des Gesetzentwurfes in scharfer Form und fordert einen Stopp des Gesetzgebungsverfahrens.“ Der Brief, der diesen Satz enthielt, erreichte uns Ende vergangener Woche, nachdem

nach der Ausschussberatung der Änderungsantrag und der fertige Gesetzentwurf der Staatsregierung verteilt wurden und die Träger und Beteiligten das endgültige Ergebnis lesen konnten. Als ich diesen Satz im Brief des Paritätischen Landesverbandes Sachsen gelesen habe, staunte ich nicht schlecht, weil es in Sachsen auch nicht so oft geschieht, dass ein Wohlfahrtsverband derart deutlich Staatsregierung und Regierungsfraktionen kritisiert. Ich habe mir gedacht: Dahinter muss eine ordentliche Portion Frust stecken. Aus meiner Sicht besteht dieser Frust auch zu Recht.

(Beifall bei der SPD, den LINKEN und den GRÜNEN)

Nach langem Warten auf den Gesetzentwurf – immerhin zwei Jahre nach dem letzten Versuch in der vergangenen Legislatur – musste es dann auf einmal sehr schnell gehen. Innerhalb kürzester Zeit sollten sich im Herbst vergangenen Jahres die Sachverständigen auf die Anhörung im Sozialausschuss vorbereiten. Das hieß, sich in zwei sehr umfangreiche und sehr komplexe Gesetzesvorhaben einzuarbeiten. Nach der Anhörung war plötzlich wieder Schweigen. Dann wurden Ende des Jahres doch noch einmal Gespräche mit den Akteuren, mit den Trägern durchgeführt, in denen es tatsächlich um inhaltliche Verbesserungen am Gesetzentwurf zu gehen schien.

Nach diesen Gesprächen war wieder fünf Monate Ruhe. Drei Tage vor der entscheidenden Sitzung des Sozialausschusses kam ein Änderungsantrag, der wiederum kaum etwas von diesen vorangegangenen Bemühungen erkennen ließ. Welche Überlegungen Sie in dieser Zeit gewälzt haben, kann man in dem Änderungsantrag kaum erkennen. Das bleibt wohl Ihr Geheimnis.

Tatsache ist, dass wir nun nach dieser langen Wartezeit erneut vor der Schwierigkeit stehen, etwas ganz schnell verabschieden zu müssen, obwohl es mittlerweile im Bundestag ein paralleles Gesetzgebungsverfahren zu einem ähnlichen Thema, nämlich Pflegeneuausrichtungsgesetz, gibt und alle anderen Bundesländer sich darauf vorbereiten, ihre bereits bestehenden Gesetze anpassen zu müssen. Nur hier in Sachsen wissen Sie scheinbar viel besser, wie das Ganze im Bundestag ausgeht. Ich weiß nicht, worauf Sie sich da berufen, ob Sie eventuell eine Glaskugel haben. Ich würde Sie aber beglückwünschen, wenn Sie diese hätten.

(Alexander Krauß, CDU: Der Bundestag macht das doch auch nicht, dass er wartet, bis wir unser Gesetz fertig haben!)

Wir haben unser Gesetz aus dem Grund zurückgezogen, dass in der Stellungnahme des Bundesverbandes der AWO nachzulesen ist, dass die Formulierung des § 38a im Pflegeneuausrichtungsgesetz entscheidend dafür ist, wie die Auswirkungen auf die bestehenden Landesregelungen sind. Der Paritätische Landesverband ist nicht allein geblieben. Die veränderte Fassung des Gesetzentwurfes wurde auch von den privaten Anbietern und von der AWO scharf kritisiert. Nicht zuletzt kam Kritik von

der Lebenshilfe, weil Menschen mit Behinderungen betroffen sind. Alle haben deutlich gemacht, dass ihre Kritikpunkte nicht aufgenommen wurden und dass das Gesetz insgesamt an der Realität der Menschen vorbeigeht.

Sie können natürlich sagen, dass das alles besitzstandswahrende Anbieter sind, die nur ihre Interessen durchsetzen wollen.

(Alexander Krauß, CDU: Das ist die Wahrheit!)

Aber damit machen Sie es sich auch ein bisschen zu einfach. Denn die Leistungsanbieter haben im Prinzip gar nichts dagegen, dass Wohngemeinschaften unter das Heimrecht fallen, aber eben nicht mit den gleichen Kriterien, wie sie für stationäre Einrichtungen gelten. Das ist der springende Punkt.

(Beifall bei der SPD, den LINKEN und den GRÜNEN)

Genau diesen Maßstab legen Sie jetzt bei Wohngemeinschaften an und machen damit Angebote zunichte.

(Zuruf des Abg. Alexander Krauß, CDU)

Auf der anderen Seite lassen Sie Angebote in einem völligen Graubereich weiterhin bestehen, was für Pflegebedürftige nicht unbedingt einen Fortschritt im Verbraucherschutz darstellt.

Ich habe in den letzten Tagen sehr viele Zuschriften von Akteuren aus dem Bereich bekommen, zum Beispiel diese: „Insbesondere Wohngemeinschaften bedürfen einer differenzierten Betrachtung und selbstverständlich soll Pflegequalität überwacht werden, gerne durch die Heimaufsicht. Wenn jedoch einer Wohngemeinschaft mit wenigen Leuten ein Heimgesetz für stationäre Heime übergestülpt wird, ist das nicht zu realisieren. Kombiniert mit den Herausforderungen, in einem solchen Umfeld die Heimmindestbauverordnung unter anderem erfüllen zu müssen, steht das dem vermeintlichen Willen, alternative Wohnformen in Sachsen zu etablieren, konträr entgegen.“ Das ist ein Beispiel aus der Praxis.

Die Lösung wäre einfach. Aber Sie weigern sich bis heute anzuerkennen, dass ein abgestuftes Verfahren, nämlich einfach die Einfügung eines ambulanten Bereiches mit gesonderten Prüfkriterien und eben nicht den Heimkriterien, die Lösung und ein Weg wäre, um nachhaltige Rechtssicherheit und nicht zuletzt einen hohen Verbraucherschutz sicherzustellen. Darum geht es ja eigentlich, wenn wir über das Heimgesetz reden.

Ihr Hauptargument – Herr Krauß hat es heute wieder gebracht – ist, dass wir die Fortführung des Bundesheimgesetzes in einer sächsischen Variante anstreben. Das Bundesheimgesetz ist so schön gerichtlich ausgefochten und Rechtssicherheit sei damit vorgegeben. Das ist sicher richtig. Aber seit 1974 – so alt ist dieses Heimgesetz – hat sich die Realität der Lebensformen im Alter eben auch verändert. Damals ging es um die vollstationären Einrichtungen, also das klassische Pflegeheim. Mittlerweile

haben wir Betreutes Wohnen, Servicewohnen, Wohngemeinschaften für ältere Menschen, Wohngemeinschaften für an Demenz erkrankte Menschen, Pflegeheime, ambulante Pflegedienste, Pflegeintensivwohngemeinschaften. Ich könnte noch mehr aufzählen. Es ist auch gut so, dass wir diese Vielfalt haben. Nur mit dieser Vielfalt werden wir auch die Herausforderungen des demografischen Wandels und der veränderten Familienstrukturen bewältigen können.

Mit Ihrem Gesetz wird es demnächst eine große Verunsicherung geben. Ob die ausstehende Rechtsverordnung diese Unsicherheiten beseitigen wird, ist sehr fraglich.

Darauf, was das Ganze für Menschen mit Behinderungen bedeutet, wird in der zweiten Runde meine Kollegin Hanka Kliese eingehen. Nicht nur für diesen Personenkreis wäre es für diese Abstimmung sicher hilfreich gewesen zu wissen, welche Kriterien in welcher Intensität vorliegen müssen, damit eine ambulante WG unter das Gesetz fällt und ihren stationären Charakter nachweisen muss.

Die nächste interessante Frage ist: Wer meldet die ambulanten WGs? Im Gesetz steht nur eine Meldepflicht für stationäre Einrichtungen. Das ist völlig offen.

Wenn dann die Meldung einer Wohngemeinschaft erfolgt, wird es eine Einzelfallprüfung geben. Danach wird es wahrscheinlich eine Einzelfallausnahmeprüfung geben, und das bei einer geschätzten Anzahl von heute bereits mehr als 100 WGs mit an Demenz erkrankten oder schwerstpflegebedürftigen Menschen in Sachsen.

Mit unserem Gesetzentwurf hätten wir ein Raster vorgegeben. Bei Ihrem Ansatz sind es Einzelfallprüfungen. Diese verursachen immer einen enorm hohen Aufwand an Bürokratie. So viel zu Ihrem Argument des Bürokratieabbaus.

(Beifall bei der SPD, den LINKEN und den GRÜNEN)

Ein weiterer Punkt, der uns dazu bringt, das Gesetz heute abzulehnen, ist das parallele Entwurfsverfahren des Pflegeneuausrichtungsgesetzes im Bund. Dazu ist schon viel gesagt worden. Ich habe das vorhin auch schon erwähnt. Zum derzeitigen Zeitpunkt kann einfach niemand wissen, was das für Auswirkungen haben wird. Es gibt Änderungsanträge. Auch das Pflegeneuausrichtungsgesetz wird vielleicht noch geändert werden.

Meiner Meinung nach wäre es nach zwei Jahren Anlaufzeit und fast einem Jahr Gesetzesberatung zumutbar gewesen, weitere drei bis vier Wochen zu warten, um hier eine endgültige und rechtssichere Entscheidung zu treffen.

(Beifall bei der SPD, den LINKEN und den GRÜNEN)

Diese Größe und diese Verantwortung haben Sie nicht. Das beweisen Sie am heutigen Tag. Diese Engstirnigkeit geht eindeutig zulasten der pflegebedürftigen Menschen in Sachsen.