Protokoll der Sitzung vom 19.06.2013

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich nur eines vorab sagen: Ich glaube, die Opfer des 17. Juni 1953 wären entsetzt, wenn sie erleben würden, wie die NPD diesen Gedenktag für ihre Zwecke missbraucht.

(Beifall bei der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

„Der vergessene Volksaufstand“, so titelte der Mitteldeutsche Rundfunk auf seiner Website über den 17. Juni 1953. „Es war ein Tag, an dem Panzer den Ruf nach Freiheit niederwalzten“. Wir alle kennen die Bilder aus Berlin, aber Panzer rollten auch durch Sachsen, beispielsweise durch Dresden und Leipzig.

Mit dieser Debatte wollen wir einen Beitrag gegen das Vergessen leisten. Einen Beitrag und ein Zeichen der Erinnerung, der Mahnung und der Würdigung. Der 17. Juni 1953 war kein Zufallsereignis. Es war ein Ergebnis einer rücksichtslosen und menschenverachtenden Politik der damaligen SED-Machthaber, die ihre wirtschaftlichen Ziele rücksichtslos auf dem Rücken der Bevölkerung durchsetzen wollten, die politisch die Bevölkerung unterdrückte, die zwangskollektivierte und enteignete.

Das Ergebnis waren Lebensbedingungen, die kaum noch zu ertragen waren. Dass die Bevölkerung dagegen aufgestanden ist, zunächst gegen die schlechten Lebensbedingungen, aber dann auch ganz schnell gegen die politische Unterdrückung, meine Damen und Herren, dass sich die Bürger erhoben und Freiheit und Demokratie forderten, das kann man nicht hoch genug anerkennen, auch heute, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP, der CDU, des Abg. Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier, DIE LINKE, und der Staatsregierung)

Es waren nicht, wie ich es selbst auch im Schulunterricht noch gehört habe, einige von westlichen Provokateuren angezettelte Unruhen mit – sagen wir mal – regionalem Ausmaß; es protestierten ungefähr eine Million Menschen in 700 Städten. Das war eine Massenbewegung für Freiheit und Demokratie, meine Damen und Herren.

Der Funke der Hoffnung ist dann unter den Panzerketten zunächst gestorben und das Ergebnis – auch mein Vorredner hat das gesagt – waren Tote, waren Haft, waren Unrechtsurteile und waren viele Menschen, die für Jahrzehnte mit Einschränkungen ihres persönlichen Lebens für ihren Protest bezahlt haben.

Die Fackeln der Freiheit setzten sich dann aber fort, denn was zum Volksaufstand in Ungarn 1956 passiert ist –

1968 Prager Frühling, Solidarność-Bewegung 1980 in Polen –, das war eben eine Fortsetzung dieses Drangs nach Freiheit und der Wille, die sozialistische Unterdrückung abzustreifen.

Für uns heute geht es aber nicht nur darum, zu erinnern, was war – denn das kann man in Geschichtsbüchern nachlesen –; sondern die entscheidende Frage für uns ist: Wie schaffen wir es, diese Erinnerung lebendig zu halten? Wie schaffen wir es, der heutigen Generation zu vermitteln, was damals passiert ist – sicher auch differenziert und ganz anders, als ich es in meinem eigenen Schulunterricht erlebt habe. Wir haben ja heute die Chance, dass es noch Zeitzeugen gibt, die erzählen können, wie es damals zugegangen ist; die lebendig schildern können, wie damals die Menschen versucht haben aufzubegehren. Wir haben heute die Verantwortung, dass wir weltweit gegen totalitäre Regime kämpfen – gegen jene kämpfen, die im Namen eines vermeintlichen Wir die Rechte des Einzelnen unterdrücken.

Ich sage ganz klar: Auch der 17. Juni hat gezeigt: Sozialismus ist nicht nur schlecht gemacht gewesen. Sozialismus ist nicht menschlich, sondern Sozialismus ist menschenverachtend, meine Damen und Herren. Das sollten wir nie vergessen.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Staatsregierung)

Es ist das Vermächtnis und auch unsere Verantwortung, heute konsequent für Freiheit, für Demokratie und für Menschenrechte einzutreten und überall dort, wo ein Unrechtsstaat Menschenrechte mit Füßen tritt, unsere Stimme zu erheben.

Als jemand, der sich selbst im Herbst 1989 als Schüler an den Demonstrationen beteiligt hat, sage ich auch ganz klar: Ich verneige mich ausdrücklich und sehr tief vor all denjenigen, die 1953 den Mut hatten, unter dem höchsten persönlichen Risiko gegen das Unrechtsregime aufzutreten. Wir haben 1989 auf Polizisten und Schutzschilder geschaut – die Menschen damals haben auf Kanonenrohre von Panzern geschaut –, und das ist auch noch einmal ein Unterschied, weshalb der Mut derjenigen nicht hoch genug gewürdigt werden kann, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Staatsregierung)

Wir verdanken den mutigen Menschen von damals sehr viel – ein Stück weit auch unsere friedliche Revolution 1989 – und wir sollten immer im Hinterkopf bewahren, dass sich der Drang nach Freiheit vielleicht eine Zeit lang durch Terror, durch Brutalität unterdrücken lässt; aber am Ende ist der Drang nach Freiheit stärker als jedes Regime, das die Menschen unterjochen will. Das ist die positive Botschaft des 17. Juni.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Staatsregierung)

Für die Fraktion DIE LINKE Herr Prof. Besier, bitte.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Regierung, die auf das verzweifelte, das aufbegehrende Volk schießen lässt, anstatt abzutreten – eine solche Regierung, die Tausende Protestierende einkerkert und drakonische Strafen verhängt, eine solche Regierung hat jegliche Legitimation verloren.

(Zuruf von der CDU: Und das von Ihnen!)

Nach dem 17. Juni 1953 gab es das von Künstlern und Schriftstellern viel zu euphorisch gepriesene „bessere Deutschland“ nicht mehr und alle, die sich in irgendeiner Weise in der Traditionslinie dieser ehemals „führenden Partei“ sehen, tun heute gut daran, deren Menschenrechtsverletzungen ohne Wenn und Aber zu verurteilen und sich als demokratische Sozialisten von jedweder Diktatur zu distanzieren.

(Beifall bei den LINKEN und der Abg. Hanka Kliese, SPD)

Obwohl der 17. Juni bis heute Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen ist, kann man eben nicht sagen, dass sich diese Ereignisse tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen oder gar der Europäer eingegraben hätten.

An Erschossenen, Hingerichteten und Inhaftierten dieses Volksaufstandes durfte man in der DDR nicht erinnern; man hat ihrer nicht gedenken können. Auch im Westen – sogar in West-Berlin – blieb das furchtbare Geschehen merkwürdig konturlos. Je entschlossener man hier den Volksaufstand in den Kontext des Kalten Krieges rückte und für die antikommunistische Perspektive dienstbar zu machen suchte, umso geringer wurde über die Jahre das Interesse der Bevölkerung in Westdeutschland an diesem Gedenktag. Nur für wenige Tage verdrängte die Niederschlagung des Aufstandes den Koreakrieg aus den Schlagzeilen. Es ist interessant, wenn Sie sich das anschauen in der europäischen Presse: Der 17. Juni hat nur ganz wenige Tage Aufsehen erregt.

Die nicht unmittelbar Betroffenen fürchteten den Ausbruch eines neuen großen Krieges und waren daher für die Passivität der Westmächte in diesem Zusammenhang sehr dankbar. Auch die Kirchen sprachen sich einhellig für Deeskalation aus. Eine Anklage der DDR vor der UNO unterblieb, weil die Kolonialmächte – namentlich Frankreich und Großbritannien – fürchteten, dass daraufhin ihr eigenes Handeln in den Kolonien angeprangert würde.

Trotz der Niederschlagung des Volksaufstandes 1953 und trotz der neuerlichen Gesellschafts- und Legitimationskrise im Jahr 1961 und deren fragwürdiger Bewältigung wurde die DDR 1973 in die UNO aufgenommen. – Genug davon.

Wir Menschen sind vergesslich und die Regierung wie alle Volksvertreter – soweit sie frei gewählt sind – haben ein legitimes Interesse daran, mit Meistererzählungen das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung zu formen. Eine

Implementierung des 17. Juni in die deutsche Nachkriegsgeschichte ist nicht gelungen – im Westen so wenig wie im Osten. Selbstverständlich war die Gedenkveranstaltung in Görlitz eine gute Sache; aber wir dürfen ein solches Ereignis nicht überschätzen.

Die Revolutionäre von 1989 haben sich seinerzeit nicht auf 1953 berufen. Erst heute versucht man – seit 2003 sind die ersten Artikel in dieser Richtung erschienen – eine historische Brücke zwischen 1953 und 1989 zu konstruieren.

Ähnlich ist es auf europäischer Ebene: Die Aufständischen in Polen und Ungarn 1956, die in der ČSSR 1968, die in Polen 1970, 1976, 1980 Solidarność – darauf hat Herr Schiemann schon hingewiesen – sie alle haben den 17. Juni nicht als Vorgängerbewegung erkannt. Hierzulande geht es mit dem Gedenktag des 17. Juni wie mit den meisten anderen Gedenktagen in Deutschland. So ist es auch nicht wirklich gelungen, den 3. Oktober oder den 8. Mai oder den Holocaust-Gedenktag in den selbstverständlichen Gedenkkalender der Bürger dieses Landes einzupflanzen.

Bitte zum Schluss kommen.

Unsere Aufgabe besteht darin, darüber nachzudenken, warum wir uns mit diesen Tagen so schwertun und warum diese Lücke klafft zwischen den öffentlichen Gedenkveranstaltungen einerseits

Herr Prof. Besier, bitte!

– Ich höre auf, Herr Präsident – und der Nichtbeteiligung weiter Bevölkerungskreise auf der anderen Seite.

Vielen Dank.

(Beifall bei den LINKEN)

Für die SPD-Fraktion Herr Abg. Dulig. Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 17. Juni 1953 ist ein Gedenktag. Die Frage ist nur: In welchem Bewusstsein ist er wirklich verankert? Dass er in diesem Jahr noch einmal eine besondere Wertschätzung erfährt, liegt sicherlich an dem Jahrestag, an dem 60. Jahrestag. Es bleibt aber trotzdem ein widersprüchlicher Gedenktag. Und das hat auch etwas mit der Kultur zu tun, mit der man in den letzten 60 Jahren mit diesem Datum umgegangen ist. Und deshalb ist es eben keine Selbstverständlichkeit, dass man dieses Tages gedenkt. Und ich würde uns sogar warnen, dass wir uns damit zufrieden geben, dass es Gedenkveranstaltungen gibt oder eine Parlamentsdebatte.

Denn die eigentliche Frage ist doch: Wie halten wir das Erinnern lebendig? Lebendig können wir es auch nur halten, wenn es eine Auseinandersetzung gibt mit dem,

was das Ziel des 17. Juni war, nämlich der Freiheitsgedanke. Das, was als Arbeiteraufstand begann und dann zum Volksaufstand wurde, das, was mit den Forderungen nach der Abschaffung der Normerhöhung begann und bei der Forderung der Deutschen Einheit endete, war der Drang nach Freiheit.

Ich sage das auch als Sozialdemokrat mit einem besonderen Selbstbewusstsein, weil es eben auch ein kleines Kapitel in unserer eigenen Geschichte ist. Görlitz wurde angesprochen. An dem Tag wurde zum Beispiel in Görlitz die SPD wiedergegründet. Und die Aufständischen haben den ehemaligen SPD-Oberbürgermeister wieder eingesetzt. Es gab also auch diese kurze Zeitspanne von Hoffnung auf Freiheit und Demokratie, und sie haben auf diejenigen auch wieder gesetzt, denen sie vertraut haben. Es war also auch eine Stunde oder waren Stunden einer sozialdemokratischen Bewegung. Die SPD in Westberlin hat zu einer Solidaritätskundgebung aufgerufen, der über 10 000 Menschen gefolgt sind.

Es war der Dresdner Sozialdemokrat Herbert Wehner, der als Ausschussvorsitzender für Deutsche Angelegenheiten den 17. Juni, am Anfang gegen die Bedenken von CDU und CSU, am Schluss dann aber gemeinsam als Gedenktag oder als Tag der Deutschen Einheit durchgesetzt hat. Es ist also auch eine Besonderheit, dass wir, wenn wir des Tages gedenken, über die Freiheitsgeschichte nachdenken. Ich gebe Ihnen recht, Herr Besier, dass es keinen direkten Zusammenhang gibt zwischen dem 17. Juni und dem Oktober 1989, weil die Geschichten nicht weitererzählt wurden, weil der Gedanke nicht weiter getragen wurde, weil die Leidenschaft keine Kontinuität hatte. Trotzdem, die Sprüche, die dort auf den Bannern standen, hätte man austauschen können. Der Slogan von 1953 „Komm Kollege reih‘ dich ein, wir wollen freie Menschen sein“, den hätten Sie und haben Sie zum Teil auch 1989 gelesen. Der Geist war der gleiche, der Geist der Freiheit, sich nicht unterdrücken zu lassen, sich nicht einsperren zu lassen und für die eigenen Rechte zu kämpfen.

(Beifall bei der SPD)

Es bleibt bei einem Widerspruch, und zwar, wie man in Ost und West mit diesem Datum umgegangen ist. Dieser Widerspruch wurde logischerweise schon 1953 gelegt und auch die Frage, wer diesen Tag wie interpretiert oder uminterpretiert hat. Es wurde schon 1953 erzählt, dass die Konterrevolution begonnen hat, dass die alten Nazis wieder dabei sind, dass Leute ermordet wurden usw. Diese Legende wurde bereits am 17. Juni 1953 erzählt. Otto Nuschke, der zum Beispiel als DDR-CDUVorsitzender nach Westberlin gebracht wurde, hat im „RIAS“ ein Interview gegeben und dort noch den Einsatz der Panzer verteidigt. Da wurde eben auch gesagt: Ja, das sind alles Fremdleute, alles Leute aus Westberlin. Dort wurde die Legende schon weiter gestrickt.

Sie finden das nicht nur 1953 in der DDR-Geschichtserzählung, sondern Sie finden das eben auch in den

Lehrbüchern der DDR, in den Geschichtsbüchern der DDR noch 1989.

Es hat mich schon sehr beeindruckt, was Freya Klier am Montag bei der Ausstellungseröffnung gesagt hat. Sie hat nämlich darauf hingewiesen, was in den Lehrbüchern stand. Ich zitiere: „Widerlegen Sie die Behauptung der imperialistischen Massenmedien, der 17. Juni wäre ein Volksaufstand gewesen.“ Das stand noch in unseren Lehrbüchern und wurde dann illustriert mit Fotos, Bildern und Geschichten, und es setzten sich genau diese Schlüsselworte fest, die Freya Klier am Montag auch erzählt hat: KZ-Aufseherinnen, SS, alte Nazis, Leute wurden umgebracht.

So gab es eine Distanz auch im Osten zu diesem Tag, weil das funktioniert hat. Diese Schlüsselworte haben sich bei vielen im Kopf verankert. Im Westen war es ein Gedenktag, auf der anderen Seite, im Osten, ein Widerspruchstag mit Worten, die sich verbunden, weil man nicht wusste, wie man damit umgehen sollte.

Die Redezeit ist abgelaufen.

Deshalb bleibe ich dabei: Es geht nicht nur darum, dass wir einfach einen Gedenktag haben, zu dem wir das feierlich in Reden würdigen, sondern dass wir eine Auseinandersetzung darüber führen, was Freiheit uns heute wert ist, und das mit jungen Leuten führen. Das ist das Ziel des 17. Juni.