Protokoll der Sitzung vom 28.11.2013

Es gibt noch eine Parallele zwischen Sachsen und Europa: Die überwiegende Mehrheit der Menschen will den gesetzlichen Mindestlohn, und zwar einen richtigen gesetzlichen Mindestlohn, und den jetzt. Eigentlich müsste es ein fraktionsübergreifendes Interesse an einer vertieften Behandlung dieses Antrages in den Ausschüssen geben. Das ist dann die Nagelprobe für die Europafähigkeit des Sächsischen Landtags. Neben dem historischen Friedensprojekt muss die soziale Dimension als weiterer Stützpfeiler einer lebendigen europäischen Idee gestärkt werden.

Was die Staatsregierung ganz konkret im Bundesrat und in anderen Gremien in den nächsten Tagen und Wochen machen kann und was das praktisch rückwirkend für Sachsen bedeutet, erklärt Ihnen in einer zweiten Runde mein Kollege Klaus Bartl. Es bleibt also interessant. Glück auf!

(Beifall bei den LINKEN)

Vielen Dank, Herr Gebhardt. – Für die CDU-Fraktion spricht Herr Abg. Schiemann. Bitte, Herr Schiemann, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube nicht, dass es tauglich ist, mit diesem Antrag an der Lebensrealität in Europa etwas zu ändern. Es ist immer die Überzeugung im Freistaat Sachsen gewesen: Europa kann nur in Vielfalt existieren. Europa wird Probleme nur lösen können, wenn es starke Nationalstaaten gibt, in denen Menschen wohnen, die eine Heimat haben, die Wurzeln haben, die wissen, worauf es in den eigenen Ländern ankommt.

(Beifall bei der CDU)

Das ist der Hintergrund der europastabilen Macht. Ohne Wurzeln, die man in seiner Heimat hat, wird man ein Europa in ein Nirwana hintragen und es wird zerschellen.

(Dr. Volker Külow, DIE LINKE: Hat Herr Gebhardt etwas von „Wurzeln rausreißen“ gesagt, Herr Schiemann?)

Ich weiß nicht, ob Sie Ahnung von Europa und diesem Thema haben.

(Zuruf von den LINKEN)

Ich gehe davon aus – das möchte ich als Vorsatz hier deutlich machen –, dass wir dieses Europa der Vielfalt brauchen. In den Koalitionsverhandlungen zwischen der CDU/CSU und der SPD wurde dieses Thema sehr lange diskutiert und aufgegriffen. Ich glaube – man kann auch einmal loben –, es ist vernünftig, dass man sich diesem Thema stellt.

Ich habe den Eindruck, dass die einreichende Fraktion jetzt etwas vorgaukelt, was man in dem Diskussionsprozess der letzten Wochen und Monate entsprechend zu beachten hatte.

(Sebastian Scheel, DIE LINKE: Der Eindruck ist falsch!)

Die Antragstellerin erweckt damit den Eindruck, die Sozialpolitik habe bisher keine ihrer Bedeutung angemessene Rolle in der europäischen Politik gespielt.

(Rico Gebhardt, DIE LINKE: Das hat sie auch nicht, Herr Schiemann!)

Das ist einfach unzutreffend.

(Sebastian Scheel, DIE LINKE: Wenn Sie ehrlich sind, schon!)

Wenn Sie an die Entwicklung im Freistaat Sachsen denken: Investitionsprogramme mit Mitteln der EU sind immer auch Programme zur Verbesserung des Arbeitsmarktes. Wenn ich den Arbeitsmarkt verbessere, dann kann ich auch mehr für soziale Politik tun.

(Zuruf des Abg. Sebastian Scheel, DIE LINKE)

Richtig ist aber: Sowohl bei der Gründung der Europäischen Union als auch bei der Wirtschafts- und Währungsunion stand die wirtschaftliche Integration der Mitgliedsstaaten im Vordergrund.

(Rico Gebhardt, DIE LINKE: Genau!)

Diese Politik wurde von Beginn an auch durch sozialpolitische Instrumente flankiert. So wurde bereits im Jahr 1957 durch die Römischen Verträge der Europäische Sozialfonds gegründet, der bis heute eines der wichtigsten Förderinstrumente der Europäischen Union ist. Die Umgestaltung der Wirtschaft und der gesellschaftlichen Strukturen im Freistaat Sachsen in den zurückliegenden 20 Jahren wäre ohne den Europäischen Sozialfonds sowie die Maßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und damit der Arbeitsplätze nicht gemeistert worden.

Deshalb hat die Europäische Union für den Freistaat Sachsen wichtige Grundlagen geschaffen, um nicht nur in der Wirtschaftspolitik, sondern auch in der Sozialpolitik Leistbares zu erreichen. Die Bedeutung der Sozialpolitik in Europa hat in den letzten Jahren weiter zugenommen. Mittlerweile ist es völlig unstrittig, dass die europäische Einigung auch intensiv sozialpolitisch flankiert werden muss, wobei unter Sozialpolitik auch eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen und der Wettbewerbsfähigkeit zu verstehen ist.

Diese Einigung – das möchte ich noch einmal betonen – kann jedoch zu keinem Zentralstaat Europa führen. Besonders in wirtschaftlich sehr schwierigen Zeiten ist ein sozial ausgestaltetes Europa für alle in Europa Lebenden wichtig. Dies dient auch der Wiederherstellung des Vertrauens in die europäische Politik. Die Einwohner dürfen nicht den Eindruck haben, dass durch die Politik der Europäischen Union soziale Standards sinken und deshalb die soziale Sicherheit verloren geht. Deshalb ist es wichtig, hier entgegenzusteuern. Die soziale Dimension gehört deshalb zu den Grundpfeilern, zu den Fundamenten der Europäischen Union.

(Beifall bei der CDU – Zuruf von den LINKEN)

Dementsprechend wurde im Vertrag von Lissabon dieser Bereich noch verstärkt. Durch den Lissabon-Vertrag ist die Charta der EU-Grundrechte für die Europäische Union als rechtsverbindlich erklärt worden. Rechte, wie die Vereinigungsfreiheit, das Streikrecht, das Recht auf angemessene Arbeitsbedingungen oder auch der Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, wurden dadurch in das EU-Primärrecht aufgenommen. So finden sich jetzt die Definitionen sozialer Werte und Ziele im Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union.

Hier werden unter anderem auch Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung zu jener Werteordnung gezählt, an die sich gemäß Artikel 7 EU-Vertrag die Mitgliedsstaaten auch zu halten haben. Gemäß Artikel 3 Abs. 3 des EU-Vertrags wirkt die EU auf eine im hohen Maße wettbewerbsfähige, soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, hin. Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierung und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Es findet damit eine Gleichstellung von sozialen und wirtschaftlichen Zielen der Europäischen Union statt.

Ein weiterer Aspekt ist Artikel 9 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Dieser lautet: Bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen trägt die Union den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus mit der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, mit der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung. – Hierdurch wurde eine soziale Querschnittsklausel de facto eingefügt. Dieses bedeutet konkret, dass bei allen Maßnahmen der Europäischen Union soziale Aspekte zu beachten sind. Durch diese Neuerung ist nicht nur im politischen, sondern insbesondere auch im rechtlichen Sinne eine Stärkung sozialpolitischer Aspekte erfolgt.

Die Bedeutung der Sozialpolitik wird auch dadurch unterstrichen, dass im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ein eigener Titel für die Sozialpolitik eingerichtet wurde. Hierin wird die EU verpflichtet, die

Rolle der Sozialpartner zur Kenntnis zu nehmen, zu fördern und deren Autonomie anzuerkennen. Auch hier wird der dreigliedrige Sozialgipfel – Europäische Union, Arbeitgeber und Arbeitnehmer – als wesentliches Instrument des Dialogs zwischen den Sozialpartnern institutionell festgelegt und damit aufgewertet. Diese beispielhafte Aufzählung zeigt, dass die europäische Sozialpolitik im erheblichen Maße durch entsprechende Ergänzungen der europäischen Verträge bereits gestärkt wurde.

Die gewachsene Bedeutung einer europäischen Sozialpolitik zeigt sich aber auch in der praktischen Umsetzung. Am 17. Juni 2010 wurde die Strategie 2020 für mehr Beschäftigung und Wachstum in Europa beschlossen. Zwei der dort beschlossenen fünf strategischen Oberziele haben unmittelbaren Bezug zur Arbeits- und Sozialpolitik. So soll bis 2020 die Erwerbstätigenquote auf 75 % steigen und die Zahl der von Armut und Ausgrenzung bedrohten Menschen um 20 Millionen reduziert werden. Das sind sehr hohe Ziele.

(Zuruf von den GRÜNEN)

Die Ziele sind aber von der Europäischen Union eben in den strategischen Oberzielen so festgeschrieben. Ich verweise beispielhaft auf die Beschlüsse des Europäischen Rates vom Juni des Jahres 2013, also dieses Jahres. Hier hat sich der Rat ausdrücklich dazu bekannt, dass die soziale Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion verstärkt werden sollte. Die soziale Lage und die Lage an den Arbeitsmärkten solle besser überwacht und berücksichtigt werden. Auch sollen die entsprechenden sozial- und arbeitsmarktpolitischen Indikatoren im Rahmen des europäischen Semesters herangezogen werden.

Insbesondere war auch die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ein zentrales Thema dieser Sitzung. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müssen uns vorstellen, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich, Spanien und Portugal bedrohliche Dimensionen erreicht hat. Allein in Spanien gibt es eine Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 50 %. Das ist eine enorme Herausforderung für die Wirtschaft, die nur mit der Solidarität der Europäischen Union bewältigt werden kann.

Die soziale Dimension war erneut Gegenstand des letzten dreigliedrigen Sozialgipfels am 24. Oktober 2013, also vor vier Wochen. Hierbei wurden Fragen der besseren Kontrolle und Überwachung von Beschäftigung und sozialen Aspekten unter Koordinierung von Beschäftigungs- und Sozialpolitik diskutiert. Letztlich zeigt auch die dem Antrag beiliegende Mitteilung der Europäischen Kommission vom 2. Oktober 2013, dass dieses Thema zukünftig ein zentraler Aspekt des Handelns der Europäischen Union darstellen wird. Diese Mitteilung ist auch der Gegenstand der Bundesratssitzung am 29. November, das heißt, am morgigen Tage. Ich gehe dabei davon aus, dass auch der Bundesrat den Ansatz der Kommission unterstützt, die soziale Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion entsprechend zu stärken.

Es ist daher festzuhalten, dass mittlerweile eine Vielzahl von Regelungen und Maßnahmen bestehen und eingeleitet wurden, um ein Gleichgewicht zwischen sozialen und wirtschaftlichen Aspekten im Rahmen der Europäischen Union sicherzustellen.

Auch der Freistaat Sachsen hat hiervon im erheblichen Maße profitiert. Allein im Zeitraum von 2007 bis 2013 hat der Freistaat Sachsen 872 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds erhalten, damit Bildung und Beschäftigung gefördert werden können. Ich wiederhole: 872 Millionen Euro haben wir von der Europäischen Union für die Entwicklung in unserem Freistaat Sachsen erhalten. Das ist eine enorme solidarische Leistung für unser Land.

Ich möchte aber auch deutlich machen, dass bei allen Initiativen zur Koordinierung oder Harmonisierung darauf geachtet werden muss, dass gerade im Bereich der Sozialpolitik keine Verschiebung der Zuständigkeiten zulasten der Mitgliedstaaten stattfindet. Der Vertag von Lissabon hat hierfür klare Regelungen geschaffen. So haben die Mitgliedstaaten weiterhin die Befugnis, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen. Auch darf durch Maßnahmen der Europäischen Union das finanzielle Gleichgewicht dieser Systeme nicht beeinträchtigt werden. Entsprechend sind Maßnahmen und Beschlüsse der europäischen Sozialpolitik abzulehnen, die im Widerspruch zu den zuvor genannten Prinzipen stehen. Dieses Subsidiaritätsprinzip ist konsequent zu beachten. Bei allen wünschenswerten Maßnahmen darf aber vor allem nicht die Politik der haushaltspolitischen Konsolidierung verlassen werden, da dies zwingende Voraussetzung für eine Stärkung der sozialen Dimension ist.

Lassen Sie mich noch einige Sätze zu einigen Ihrer Vorschläge sagen: Sie fordern unter anderem den Einsatz von Finanzmitteln zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und sozialer Probleme. Es ist völlig klar, dass die Arbeitslosigkeit in vielen Ländern Europas viel zu hoch ist und deshalb eines der zentralen Probleme darstellt. Aber: Arbeitslosigkeit lässt sich nicht nur mit immer mehr Geld oder staatlichen Interventionen bekämpfen. Arbeitsplätze werden letztlich durch die Wirtschaft geschaffen. Entscheidend ist deshalb auch hier die Frage der Gestaltung des Arbeitsmarktes. Dafür sind aber in erster Linie die Mitgliedstaaten – sprich: die Nationen – selbst gefordert, da sie für die Arbeitsmarktgesetzgebung weiter zuständig sind. Möglicherweise lassen sich vorhandene strukturelle Probleme in einzelnen Mitgliedstaaten oder Wirtschaftszweigen nicht durch Geld aus Brüssel allein lösen.

Ich will noch auf eine andere Forderung eingehen. Sie wollen bestehende Hindernisse für die grenzüberschreitende Beschäftigung von Arbeitnehmern anderer EUMitgliedstaaten beseitigen. Natürlich ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit eine der zentralen Grundfreiheiten der Europäischen Union. Gerade in den Grenzgebieten könnte dies aber zu einer weiteren Verschärfung des Lohndrucks führen. Es darf nicht zu einem weiteren Lohnwettbewerb führen. Deshalb unterstützen wir im Rahmen des europäi

schen Wirtschafts- und Sozialmodells die Entwicklung gemeinsamer Prinzipien und Kriterien zur Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping, um Wettbewerbsverzerrungen zum Schaden von Unternehmen und Arbeitnehmern im gemeinsamen Binnenmarkt zu verhindern.

Genauso hat mich Ihr Vorschlag zum sozialen Dialog in diesem Fall durchaus positiv überrascht. Es war immer schon Auffassung der CDU-Fraktion, dass beschäftigungspolitische Fragen am besten durch die Tarifpartner gelöst werden können. Ich freue mich daher, dass Sie das jetzt offensichtlich auch so sehen und daher von der ansonsten von Ihnen vertretenen Beschäftigungspolitik deutlich abweichen.

(Gisela Kallenbach, GRÜNE, steht am Mikrofon.)

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Nein, ich gestatte keine.

Soweit Sie ein Paket konkreter sachsenspezifischer Umsetzungsmaßnahmen zur Stärkung der sozialen Dimension fordern, bleiben Sie, wie auch bei anderen Punkten Ihres Antrages, leider konkrete Ansätze oder Vorschläge schuldig.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Europäische Union ist nicht nur eine Wirtschafts- und Währungsunion; vielmehr hat in den letzten Jahren erfreulicherweise eine kontinuierliche Entwicklung der Stärkung der sozialen Dimension sowohl in formeller wie auch in materieller Hinsicht stattgefunden. Dieser Prozess muss fortgesetzt werden. So werden wir Maßnahmen gegen Lohn- und Sozialdumping treffen müssen. Wir werden auch über soziale Mindeststandards unter Beachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes nachdenken müssen.

Was wir aber in diesem Zusammenhang nicht hinnehmen werden, ist eine Angleichung nach unten. Die europäischen Strukturfonds werden auch in der nächsten Förderperiode 2014 bis 2020 weiter eine wichtige Rolle für den Freistaat Sachsen bei der Umsetzung der für die Erhöhung der Beschäftigung erforderlichen Maßnahmen spielen. Schwerpunkte werden hier insbesondere die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit wie auch die Bewältigung des in vielen Branchen bestehenden Strukturwandels sein.

Für die von mir genannten Maßnahmen benötigen wir aber Ihren Antrag nicht. Der Antrag setzt keine Impulse, ist unkonkret und die verfolgten Ziele sind bereits vielfach umgesetzt oder befinden sich derzeit in Umsetzung. Im Ergebnis dessen bitte ich Sie, den Antrag abzulehnen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU, der FDP und der Staatsregierung)