Protokoll der Sitzung vom 30.01.2014

auch jenseits eines Beitritts in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht, auch unter Gesichtspunkten der Weiterentwicklung der Demokratie in diesem Land, vertieft und ausgebaut werden.

Das Thema Visafreiheit stellt sich zum jetzigen Zeitpunkt ebenfalls nicht. Wie zuvor dargelegt, wurden die Verhandlungen zu diesem Komplex erst jetzt ergebnisoffen aufgenommen. Eine Visafreiheit käme erst dann in Betracht, wenn die Anforderungen, beispielsweise eine Stärkung der Grenzkontrollen, die Achtung der Menschenrechte an den Grenzen oder ein Abschluss von Rücknahmeabkommen mit den Herkunftsstaaten der Flüchtlinge, erfüllt sind. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen ist damit zu rechnen, dass sich diese Prozesse über Jahre hinziehen werden. Daneben ist darauf hinzuweisen, dass auch alle EU-Staaten der Einführung der Visafreiheit zustimmen müssen.

Aus diesem Grunde gibt es keine Möglichkeit, dem Antrag zuzustimmen. Wir werden den Antrag ablehnen.

(Beifall bei der CDU, der SPD und der FDP)

Wir kommen zur zweiten Runde. Mir liegt noch eine Wortmeldung von der einreichenden Fraktion vor. Herr Gansel, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Deutschen haben ein Recht darauf, dass sich ihre Volksvertreter nicht als volkspädagogischer Vormund aufspielen, sondern die Mehrheitsmeinung in wichtigen Politikfeldern respektieren. Für die NPD ist es daher ein Handlungsauftrag, dass die übergroße Mehrheit der Europäer und der Deutschen gegen einen EU-Beitritt der Türkei ist. In Österreich lehnen nach mehreren Umfragen annähernd 80 % einen EU-Beitritt des orientalischen Landes ab. Hierzulande sind es je nach Umfrage 60 % bis 70 %. Aber auch in Frankreich, Finnland, den Niederlanden und Belgien gibt es deutliche absolute Mehrheiten gegen einen EU-Beitritt der Türkei.

Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei endgültig abzubrechen und eine Visumfreiheit für türkische Staatsbürger zu verhindern ist somit eine Frage der Demokratiefestigkeit und der Bereitschaft, wirklich Volksvertreter zu sein.

Mein Fraktionskollege Dr. Müller wies bereits darauf hin, dass die Türken nach Kultur, Tradition und Geschichte, nach Mentalität und Abstammung keine Europäer, sondern Orientalen sind. Das alles zeigt sich übrigens auch an der Leugnung des Völkermordes an den Armeniern im Ersten Weltkrieg und an der groben Intoleranz gegenüber der autochthonen christlichen Minderheit. Allein die Vorstellung, etwa in Hinteranatolien eine christliche Kirche zu bauen, mutet vor diesem Hintergrund nicht nur frivol, sondern geradezu aberwitzig realitätsfremd an. Die religiöse Toleranz, die Türken hierzulande einfordern,

wenn die fünftausendste Moschee gebaut werden soll, verweigern sie in der Türkei allen Nichtmuslimen.

(Beifall bei der NPD)

Zu erwähnen sind auch der anhaltende Verfolgungsdruck gegen die Kurden und die Versuche der Zwangsislamisierung der Armenier. Das alles sind Dinge, die selbsternannte Menschenrechtspolitiker sofort aufjaulen ließen, wenn dergleichen europäischen Völkern vorgehalten werden könnte.

Nach Auffassung der NPD führte ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union zur uferlosen Einwanderung muslimischen Subproletariats und damit zum absehbaren Kollaps des deutschen Sozialstaates. Dann hätten wir es wirklich mit einem Millionenheer integrationsunwilliger und integrationsunfähiger Kostgänger unserer sozialen Sicherungssysteme zu tun, die eine EU-Aufnahme der Türkei nicht überleben würden. Wir hätten es zudem mit einer massiven islamischen Landnahme mit allen politischen, kulturellen und ethnischen Folgeproblemen zu tun, zumal laut der Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ schon heute 4,3 Millionen Moslems in Deutschland leben. Eine Türkei-Aufnahme in die EU brächte auch weitreichende außenpolitische Folgeprobleme mit sich.

Herr Gansel, ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.

Ja. – Die Europäer würden schlagartig in die Konflikte des Nahen und Mittleren Ostens hineingezogen werden und müssten sich zu vielen Konflikten in den Nachbarstaaten der Türkei zum eigenen Nachteil positionieren, und die USA spielen bei der jahrelangen Debatte –

Herr Gansel, Ihre Redezeit ist vorbei.

Mein letzter Satz.

über einen EU-Beitritt der Türkei eine denkbar durchsichtige Rolle. – Alles Weitere dann in meinem Schlusswort.

(Beifall bei der NPD)

Meine Damen und Herren, es gibt keine weiteren Wortmeldungen in der zweiten Runde. Ich frage die Staatsregierung: Möchte sie das Wort ergreifen? – Herr Staatsminister Dr. Martens, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist schon krude, was hier an Argumenten aufgefahren wird, um auch nur gegen die Führung von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu argumentieren.

(Kerstin Köditz, DIE LINKE: So ist es!)

Herr Gansel verwies darauf, dass es in der Türkei auch Menschen gebe, die den Völkermord in Armenien im

Jahr 1915 leugnen würden, und deshalb, so seine Folgerung, dürfe man mit der Türkei nicht mehr über einen EUBeitritt verhandeln. Es gibt in Deutschland nach wie vor Leute, die den Holocaust leugnen, und wir sind trotzdem in die europäischen Gemeinschaften und die EU aufgenommen worden.

(Jürgen Gansel, NPD: Wir sind ja auch der Zahlmeister, das stimmt, vor allem mit deutschen Steuergeldern! – Alexander Delle, NPD: Wir sind die Deppen!)

Gott sei Dank ist das Denken, das Herr Gansel hier preisgibt, nur das einer sehr kleinen Minderheit, und das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle anderen Länder.

(Beifall bei der FDP, der CDU und des Staatsministers Dr. Johannes Beermann)

Wenn Herr Müller hier scheinheilig zu Beginn anführt, die NPD habe nichts gegen die Türkei und gegen Türken, niemals, woher denn? Nein, dann muss man sich nur einmal vor Augen halten, was hier im Einzelnen an Formulierungen genannt worden ist: Mit dem Beitritt der Türkei stünde eine Welle der Einwanderung eines muslimischen Subproletariats bevor. – Aha, Sie haben nichts gegen die Türkei, nein. Die Mehrheit der Bürger der Türkei, der Einwanderer, der Gastarbeiter sei nach wie vor feindlich gegenüber den Deutschen eingestellt, die Polizei kapituliere vor türkischen Jugendlichen, und eine Einwanderungsflut stehe bevor.

(Holger Szymanski, NPD: Das sind Tatsachen!)

Was Sie im Antrag ausführen – die Türkei, sofern sie als europäisch bezeichnet werden könne –, beruhe auf Eroberungen des 16. und 17. Jahrhunderts, ein Relikt dieser Beutezüge usw. Die Politik der Türkei wird als proeuropäisches Lippenbekenntnis bezeichnet, und ansonsten wird die Türkei nur noch mit Moscheebauten, Hasspredigern, Zwangsehen und Kopftuchzwang assoziiert. Aber Sie haben nichts gegen die Türkei?!

(Holger Szymanski, NPD: Anderer Kulturkreis!)

Haben Sie jemals irgendwo die Türkei auch nur in einem positiven Zusammenhang oder die türkischen Mitbürger in Deutschland in einem positiven Licht erwähnt?

(Jürgen Gansel, NPD: Als Verbündete im Ersten Weltkrieg, wenn Sie das hören wollen!)

Gibt es irgendwo eine positive Konnotation im gesamten Schrifttum der „volkstreuen Kräfte“? Dann zeigen Sie es mir, lassen Sie es mir zukommen. Ich habe es noch nirgendwo gefunden. Das, was die NPD hier tut, ist die gute alte Methode, immer wieder zu versuchen, die Bevölkerung zu verängstigen und populistische Hetze gegen die Türkei und die in Deutschland lebenden Türken zu praktizieren. Sie werden sich nicht wundern, dass wir Ihnen das nicht durchgehen lassen.

Gleichwohl noch ein Wort zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Im April ist es 27 Jahre her, dass die

Türkei einen Beitrittsantrag gestellt hat, und seit 2005 wird hierüber mit der Türkei verhandelt. Bislang wurden weniger als die Hälfte der Verhandlungskapitel angesprochen. Nur ein Kapitel wurde vorläufig geschlossen: das Kapitel für Wissenschaft und Forschung. In absehbarer Zeit – Herr Schiemann sagte es bereits – ist also mit einem EU-Beitritt der Türkei mit Sicherheit nicht zu rechnen. Selbstverständlich wird die Türkei, wenn sie den Antrag dereinst noch aufrechterhält und weiterhin beitreten möchte, sämtliche Beitrittsvoraussetzungen erfüllt haben. Dann wird es auch keine Abstriche geben.

Bereits seit Beginn der Verhandlungen hat sich allerdings in der Türkei einiges bewegt. Der politische Einfluss des Militärs wurde zurückgedrängt, und mit einem weiteren Justizreformpaket ist der Grundrechtsschutz weiter gestärkt worden. Parteiübergreifend wird eine neue Verfassung ausgearbeitet, und – das war in der Vergangenheit undenkbar – an der Lösung der Kurdenfrage wird ernsthaft gearbeitet.

Es gibt auch Rückschläge bei der Entwicklung von Demokratie und Meinungsfreiheit, wie es etwa der Umgang der Regierung mit den Protesten im Frühling und Sommer 2013 gezeigt hat. Das waren in der Tat bedenkliche Erscheinungen. Aber ich denke, der NPD als Antragstellerin ging es hierbei nicht wirklich um den Schutz der Demonstrationsfreiheit türkischer Bürger, sondern einfach nur darum, mal wieder auf die Türkei einzudreschen, da sie ansonsten autoritären Staatsformen nicht wirklich feindlich gegenübersteht.

(Beifall bei der FDP und der Abg. Antje Hermenau, GRÜNE – Jürgen Gansel, NPD: Sie können das lesen, oder? – Dr. Johannes Müller, NPD: Ich glaube, wir sind die demokratischste Fraktion hier, Herr Minister!)

Die Entwicklung der Türkei – Sie rekurrieren auf Eroberungen des 16. und 17. Jahrhunderts; diese haben Ihr Türkeibild anscheinend nachhaltig geprägt –, das, was an Reformen Atatürks im 20. Jahrhundert in der Türkei umgesetzt worden ist – eben der Aufbau eines laizistischen Staates in vielen Bereichen –, wird von Ihnen konsequent in Abrede gestellt, und zwar entgegen den Tatsachen.

(Jürgen Gansel, NPD: Das wird doch alles gerade rückgängig gemacht!)

Die Türkei – das ist gesagt worden – ist bereits jetzt ein wichtiger Wirtschaftspartner für die Europäische Union, für Deutschland, aber auch für sächsische Unternehmen. Die Türkei ist heute eine der großen Volkswirtschaften der Welt – nach IDF-Schätzung auf Platz 13 – und hat eine Wirtschaftsentwicklung zu verzeichnen, von der die meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eigentlich nur träumen können. Die Türkei hat eine strategische Rolle in ihrer Region und verfügt im Unterschied zu den Nachbarländern über eine starke Westbindung. Das ist nichts Negatives, sondern etwas, was wir von hier aus positiv werten und unterstützen sollten.

Am Ende der Beitrittsverhandlungen wird sich zeigen, ob die EU die Türkei aufnimmt und ob die Türkei beitreten kann. Wann das geschieht, lässt sich noch nicht absehen. Allerdings werden wir uns nicht dafür einsetzen, die Tür zuzuschlagen, um damit vollendete Tatsachen zu schaffen. Wir sind insofern offen und warten ab, welche historische Entwicklung sich noch zeigen wird.

Ein letztes Wort zu der angesprochenen Visumfreiheit: Es wird über die Konditionen einer Visumfreiheit verhandelt. Auch diese steht nicht unmittelbar vor dem Abschluss; und dass die Zusammenhänge zwischen Rücknahmeabkommen und Visumfreiheit in einem Paket gelöst werden sollen, ist nicht weiter verwunderlich, sondern das ganz normale Geschehen in solchen Verhandlungen.

Meine Damen und Herren, Sie sehen also, dieser Antrag ist in der Substanz sehr, sehr dünn. Er dient lediglich dazu, alte Vorurteile noch einmal neu aufzurufen. Aber das wird Sie letztlich auch nicht retten.

(Beifall bei der FDP, der CDU, den LINKEN, der SPD und den GRÜNEN)

Herr Schimmer, Sie möchten gern eine Kurzintervention durchführen?

Jawohl, so ist es.

Dann bitte schön, Herr Schimmer.

Besten Dank für die Worterteilung. – Ja, wir haben mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass die Schwanengesänge, die der Kollege Marko Schiemann eben am Pult vorgenommen hat, wahrscheinlich mit Blick auf die Europawahlen, von Staatsminister Martens schon wieder mächtig relativiert wurden, der EU-Beitrittsverhandlungen eben doch für nötig hält, wie er eben sagte.

Herr Dr. Martens hat uns vorgeworfen, wir würden krude argumentieren und nichts Positives über die Türkei sagen. Dazu kann ich aber nur sagen: Wir sind geradezu harmlos im Vergleich zu Hans-Ulrich Wehler, dem Doyen der linken Gesellschaftsgeschichte in der Bundesrepublik, dem großen linken Intellektuellen neben Jürgen

Habermas, der im Jahr 2002 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ ausführte: „Warum sollte, da nach europäischem Kriterium rund 30 % des türkischen Arbeitskräftepotenzials als arbeitslos gelten, einem anatolischen Millionenheer die Freizügigkeit in die EU eröffnet werden? Überall in Europa erweisen sich türkische Minderheiten als nicht assimilierbar und igeln sich in ihrer Subkultur ein. Auch die Bundesrepublik hat bekanntlich kein Ausländer-, sondern ausschließlich ein Türkenproblem.“ – So weit, wie gesagt, Prof. Wehler.